Achtes Kapitel

[53] Oliver wandert nach London und trifft mit einem sehr seltsamen jungen Gentleman zusammen.


Erst um die Mittagsstunde machte Oliver auf seiner Wanderung bei einem Meilenstein Halt, auf dem die Entfernung von der Hauptstadt angegeben war.

In London konnte man Oliver nicht finden. Oft hatte er im Arbeitshaus sagen hören: in London brauche niemand, der nur ein bißchen Grütze habe, zu hungern, und in dieser ungeheueren Stadt könne man leben auf eine Weise, von der sich Leute, die auf dem Lande aufgewachsen seien, gar keinen Begriff machten. Es mußte der rechte Platz für einen heimatlosen Jungen sein, sagte sich Oliver. Damit sprang er wieder auf die Füße und schritt, so schnell er konnte, vorwärts.

Alles, was er mithatte, beschränkte sich auf eine Brotrinde, ein grobes Hemd und zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel, außerdem auf einen Penny – ein Trinkgeld, das ihm Mr. Sowerberry einmal dafür gegeben hatte, weil er sich bei einem Begräbnis besonders feierlich benommen.[53]

Fast zwanzig Meilen legte Oliver an diesem Tag zurück. Die ganze Zeit kam nichts über seine Lippen als die Brotrinde und ein paar Schluck Wasser. Am Abend legte er sich in einen Heuhaufen schlafen und wanderte am anderen Tag abermals zwölf Meilen, wobei er seinen Penny für Brot ausgab, und übernachtete wieder im Freien, so daß er am dritten Morgen, vor Kälte fast erstarrt, sich kaum von der Stelle bewegen konnte. Am Fuß eines steilen Hügels wartete er, bis die Postkutsche vorbei kam, und sprach die Passagiere, als sie einen Moment ausstiegen, um eine Gabe an. Niemand hörte auf ihn, nur einer der Herren sagte ihm, er wolle ihm einen halben Penny geben, wenn er eine Strecke weit neben dem Wagen mitlaufen würde. Als Oliver bald infolge seiner Ermüdung hinter der Postkutsche zurückblieb, steckte der Gentleman seine Geldmünze wieder ein und erklärte, da sehe man wieder, daß das arme Volk viel zu faul sei, sich einmal etwas zu verdienen.

Und der Wagen rasselte davon und ließ nichts weiter zurück als eine Wolke Staub. Vor manchen Dörfern standen Tafeln errichtet, auf denen jedem Bettler mit der strengsten Strafe gedroht wurde, und furchtsam eilte Oliver weiter, wenn er so etwas las. Wenn er einmal vor einem Gasthaus mit hungrigen Blicken stillstand, befahl man ihm, sich aus dem Staub zu machen, wenn er nicht wolle, daß man die Hunde auf ihn loslasse.

Es würde ihm wohl so ergangen sein wie einst seiner unglücklichen Mutter, hätte sich seiner nicht schließlich ein menschenfreundlicher Schlagbaumwächter und dessen Frau angenommen und ihn mit einem Stück Brot und Käse gelabt. Am siebenten Morgen nach Sonnenaufgang erreichte Oliver endlich mit wunden Füßen die kleine Stadt Varnet. Überall waren noch die Fensterladen geschlossen, und nicht eine Seele ließ sich auf den verödeten Straßen blicken. In ihrer ganzen strahlenden Schönheit ging die Sonne auf, aber ihr Licht führte Oliver nur so recht zu Gemüte, wie elend und verlassen er war. Staubbedeckt kauerte er sich an einer Türschwelle nieder. Allmählich öffneten sich die Laden und überall wurden die Jalousien in die Höhe gezogen und die Menschen begannen hin und her zu gehen. Einige standen[54] still und sahen Oliver ein paar Sekunden lang an und wandten nach ihm den Kopf, und einige nahmen sich sogar die Mühe zu fragen, wie er hierher gekommen sei. Er getraute sich aber nicht sie anzubetteln, sondern blieb still sitzen.

Eine Zeitlang hatte er so auf der Stufe gekauert und sich über die große Anzahl von Wirtshäusern gewundert, denn jedes zweite Gebäude in Varnet war eine Schenke, bald groß, bald klein, als er sich plötzlich bewußt wurde, daß ein junger Bursche, der einige Minuten vorher achtlos an ihm vorübergegangen, zurückgekehrt war und ihn von der anderen Straßenseite drüben unverwandt anstarrte. Zuerst kümmerte er sich nicht darum. Als aber der andere keinen Blick von ihm wandte, hob er schließlich den Kopf und blickte scharf hinüber. Darauf kam der Junge über die Straße, trat dicht an ihn heran und sagte:

»Hallo, Spatz! Auf der Walze?«

Der Junge, der diese Frage stellte, mochte ungefähr im selben Alter sein wie Oliver. Er war ein höchst sonderbarer Kauz, wie Oliver nie einen gesehen, mit einer Stumpfnase und platter Stirn. Er sah höchst ordinär und schmutzig aus, aber seine ganze Haltung und Benehmen glichen denen eines Erwachsenen. Ziemlich klein für sein Alter, hatte er höchst kuriose Beine und kleine scharfblickende Rattenaugen. Der Hut saß ihm so lose auf dem Kopf, daß er jede Minute herunterzufallen drohte, wohl auch schon des öfteren heruntergefallen wäre, wenn sein Herr es nicht vortrefflich verstanden hätte, ihn, wenn er rutschte, mit einem geschickten Ruck mit dem Kopf wieder in die richtige Lage zu bringen. Der Bursche trug einen Rock, der für einen Erwachsenen groß genug gewesen wäre und ihm fast bis an die Knöchel reichte. Die Ärmel trug er bis zur Hälfte aufgekrempelt, um die Hände frei zu haben. Kurz und gut, der Junge sah so seltsam und windig aus, wie wohl je nur ein Bürschchen von vier Fuß, sechs Zoll oder noch weniger in Stulpenstiefeln aussehen konnte.

»Hallo, Spatz, auf der Walze?« fragte der seltsame junge Gentleman Oliver abermals.

»Ich bin furchtbar hungrig und müde,« antwortete[55] Oliver, während ihm die Tränen in die Augen traten. »Ich habe einen langen Marsch hinter mir, einen Marsch von sieben Tagen.«

»Was? Sieben Tag auf der Walze?« rief der junge Gentleman. »Aha, weiß schon. Wir haben was gerochen auf der Polizei, was? Der Balhochem hat was gerochen. Du weißt wohl nich, was 'n Balhochem is, was, du Greenhorn?« setzte er hinzu, als er Olivers verwunderten Blick bemerkte. Oliver verneinte.

»Na ja, du Greenhorn,« rief der junge Gentleman, »'n Balhochem ist doch 'n Poliziste. Mir scheint, du bist noch nie in der Mühle gewesen.«

»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.

»In was für ner Mühle? Na, die Mühle, in der die Leute umsonst arbeiten – na, das Gefängnis mein' ich.« Als er bemerkte, daß Oliver nicht verstand, fuhr er fort: »Aber mir scheint, du hast Hunger, Mesinung hab' ich zwar selber keins, aber wir werd'ns schon machen. Steh auf und komm.« Hierauf brachte der wackre junge Herr Oliver, nachdem er ihm hatte aufstehen helfen, vor einen Krämerladen, in dem er Brot und Schinken kaufte und Oliver davon essen ließ.

»Nach London?« fragte er, nachdem Oliver sich ein wenig gesättigt.

»Ja.«

»Hast du eine Stranzen?«

»Was ist das?«

»Na, ne Wohnung.«

»Nein.«

»Mesummes?«

Oliver machte ein fragendes Gesicht.

»Geld mein' ich.«

»Nein.«

Der junge Gentleman versenkte seine Hände in seine Taschen und pfiff durch die Zähne.

»Wohnen Sie in London,« fragte Oliver.

»Ja, wenn ich daheim bin. Aber mir scheint, du weißt gar nicht, wo du heut nacht schlafen willst.«

»Nein,« gab Oliver zu. »Ich hab' schon seit sieben Nächten kein Dach über dem Kopf gehabt.«

»Mach' dir keine Sorgen deshalb,« tröstete ihn der[56] junge Herr. »Ich geh' heut abend auch nach London. Ich kenn' da einen ehrbaren alten Herrn, der wird dir bald ne gute Stelle verschaffen, – das heißt natürlich, wenn dich 'n Schentlman, wo ihn kennt, einführt bei ihm. Auf mir hält er große Stücke,« setzte der junge Gentleman lächelnd hinzu.

Das Anerbieten war so verlockend, daß Oliver keinen Augenblick zögerte, einzuschlagen. Er wurde bald zutraulicher und erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und der ausgesprochene Liebling des erwähnten alten Gentlemans sei. Jacks Äußeres freilich sprach nicht zugunsten der Lieblinge des erwähnten alten Ehrenmannes, aber da er sehr großmäulig tat und selbst von sich behauptete, man kenne ihn weit und breit als einen »verdammt gerissenen Baldowerer«, schloß Oliver, der alte Herr spräche in diesem Falle wohl gute Ratschläge in den Wind. Unter diesem Eindruck faßte er heimlich den Entschluß, sich bei dem alten Philantropen so bald wie möglich in ein besseres Licht zu setzen und, falls Jack Dawkins, wie er befürchtete, einer Besserung nicht zugänglich sein sollte, auf die Ehre weiterer Bekanntschaft mit ihm zu verzichten.

Da Jack sich unbedingt weigerte, London vor Einbruch der Nacht zu betreten, schlug es elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Vom »Engel« aus gingen sie nach St. Jones Road, die kleine Gasse, die bei Sadlers Walls Theater endigt, hinab und gelangten durch Exmouth Street und Coppile Row in den kleinen Hof neben dem Arbeitshaus. Dann schritten sie über den klassischen Grund und Boden, der einstmals den Namen Hockley-in-the-Hole führte, und gelangten nach Little und Great Saffron Hill, von wo aus der kuriose junge Gentleman sich in einen Galopp versetzte, wobei Oliver ihm auf den Fersen folgen mußte.

Von dem ungewohnten Anblick einer großen Stadt ganz und gar in Anspruch genommen, mußte Oliver sein Möglichstes tun, um seinen Führer nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Einen schmutzigeren und verkommeneren Platz hatte Oliver noch nie gesehen. Die Straße war eng und voll Schmutz und die Luft gesättigt von den widerlichsten Gerüchen. Kleine Laden gab es hier[57] in Menge, aber ganze Haufen von Kindern, die jetzt selbst zur Nachtzeit noch bei den Türen aus- und einkrochen oder drinnen in den Häusern quiekten und schrien, schienen der einzige Inhalt der Geschäfte zu sein. Die einzigen Unternehmungen, die wirklich zu gedeihen schienen, waren die Schenken, denn dort prügelte sich irischer Pöbel, was das Zeug halten wollte. Gedeckte Torwege und Höfe, die da und dort von den Hauptstraßen abzweigten, ließen Knäuel von Häusern sehen, wo sich betrunkene Männer und Frauen nur so wälzten. Aus den Torwegen kamen scheublickende Individuen herausgeschlichen und verloren sich gleich darauf wieder im Dunkel. Eben überlegte Oliver noch, ob es nicht am besten sei, wegzulaufen, da gelangte er mit seinem Begleiter vor einer Anhöhe an und wurde von ihm am Ärmel gefaßt. Dann stieß Jack eine Haustüre auf, nicht weit von Field Lane, zog Oliver in einen Korridor und schloß gleich darauf das Tor wieder hinter sich zu.

»Wer da?« rief eine Stimme von unten als Antwort auf einen Pfiff, den der junge Herr hatte ertönen lassen.

»Reiner Wind,« war die Antwort. Es schien das eine Art Losungswort zu sein, daß die Luft rein sei. Gleich darauf warf das Licht einer kleinen Kerze seinen Schein auf die Mauer vom rückwärtigen Ende des Ganges aus, und das Gesicht eines Mannes lugte durch eine Spalte einer alten Türe hervor, aus der ein Teil der Füllung herausgebrochen war.

»Da sind ja zwei,« sagte der Mann und beschattete das Licht mit der Hand, um besser sehen zu können. »Wer ist der andere?«

»Ein junges Beindl,« antwortete Jack Dawkins und zeigte auf Oliver.

»Woher?«

»'n Greenhorn. Ist Fagin oben?«

»Sortiert die Riegenlappen. Marsch rauf mit euch.«

Die Kerze erlosch, und das Gesicht verschwand.

Oliver tastete, sich mit einer Hand am Ärmel seines Gefährten haltend, die Wand entlang. Sie stiegen eine dunkle morsche Stiege hinauf, die Jack offenbar genau kannte. Dann öffnete sich eine Tür, und Oliver trat ein.[58]

Wände und Decke der kleinen Stube waren von Alter und Schmutz fast schwarz. Ein Tisch aus Fichtenholz stand vor dem Ofen und darauf eine Kerze, die im Hals einer Bierflasche stak, und daneben ein paar Zinnkrüge, Brot, Butter und ein Teller. In einer Bratpfanne, die mit einem Strick an den Sims des Kamins gebunden über dem Feuer hing, lagen ein paar Würste, und darüber gelehnt, eine große Gabel in der Hand, stand ein uralter vertrockneter Jude, sein schurkisches Gesicht mit den abstoßendsten Zügen von der Welt von rotem Kraushaar beschattet. Der Mann war in einen schmutzigen Flanellkittel gehüllt, der nur seinen Hals freiließ. Seine Aufmerksamkeit schien zwischen der Bratpfanne und einem Kleidergestell zu schwanken, an dem eine große Anzahl von seidenen Taschentüchern hing. Auf dem Boden lagen nebeneinander ein paar grobe Betten aus alter Sackleinwand, und um den Tisch herum saßen vier bis fünf Jungen, keiner älter als Mr. Dawkins, rauchten aus langen Tonpfeifen oder tranken Schnaps wie Erwachsene. Sie scharten sich sogleich um Jack, der dem alten Juden ein paar Worte ins Ohr flüsterte, sich dann umdrehte und Oliver angrinste.

Auch der Jude warf Oliver einen lauernden Blick zu, ohne dabei die Gabel aus der Hand zu legen.

»Hier, Fagin,« sagte Jack Dawkins, »ist mein Freund Oliver Twist.«

Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm ihn bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, der Ehre seiner näheren Bekanntschaft teilhaftig werden zu dürfen. Darauf stellten sich die Jungen mit ihren Tonpfeifen um Oliver und schüttelten ihm sämtlich die Hände, und zwar besonders eifrig die, in der er sein Bündel trug. Einer der jungen Gentleman war bestrebt, ihm die Mütze vom Kopf zu ziehen, und ein anderer geruhte, ihm die Finger in die Taschen zu stecken, offenbar um ihn der Mühe zu entheben, sie vor dem Schlafengehen selbst auszuleeren. Die Jungen hätten ihre Höflichkeiten wahrscheinlich noch weiter ausgedehnt, würde der Jude nicht seine Gabel des öfteren auf die jungen Herren haben herabsausen lassen.

»Mir freien sich außerordentlich, Ihnen zu sehen,[59] Oliver, ganz außerordentlich,« versicherte der Jude. »Baldowerer! nemm die Würscht vom Feier und setz ä Schüssel für Mr. Oliver an den Herd. Ah, Sie sehen sich die Taschentücherlich an, lieber Freind? Ja ja, es sind ihrer ä ganze Menge. Mir haben se eben sortiert, weil se sollen gewaschen werden; das ist alles, Mr. Oliver, weiter nix, hähä.«

Die Rede des alten lustigen Juden wurde von seinen hoffnungsvollen Zöglingen mit einem wiehernden Gelächter begrüßt, und sich noch schüttelnd vor Lachen; machten sie sich an ihr Abendessen.

Oliver aß, was ihm zugeteilt wurde, und nachher braute ihm der Jude ein Glas heißen Grog, den er auf der Stelle austrinken mußte, da noch ein anderer Gentleman das Glas brauche. Oliver tat, wie ihm befohlen wurde, und gleich darauf fühlte er, daß er sanft auf einen Strohsack gelegt wurde. Dann verfiel er in tiefen Schlaf.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 53-60.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon