Achtzehntes Kapitel

[129] Wie Oliver seine Zeit in Gesellschaft seiner hochachtbaren Freunde verbrachte.


Als gegen Mittag der Baldowerer und Mr. Charley Bates ihren gewohnten Geschäften nachgegangen waren, benützte Mr. Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Predigt über die Sünde der Undankbarkeit zu halten, und stellte ihm vor, wie sehr er gegen jedes menschliche Gefühl verstoßen hätte, indem er sich geflissentlich der Gesellschaft seiner um ihn doch so besorgten Freunde entzogen und obendrein noch gestern abermals versucht habe, sich durch die Flucht ihrem weitern Umgange zu entziehen. Was die Folgen solcher Handlungsweise sein könnten, legte Mr. Fagin mit großer Beredsamkeit dar. Er erzählte Oliver eine unheimliche und haarsträubende Geschichte von einem jungen Mann unter ähnlichen Umständen, dem er in seiner bekannten Menschenfreundlichkeit unter ganz ähnlichen Verhältnissen wie Olivern beigesprungen sei, der sich aber seines Vertrauens[129] unwürdig erwiesen habe und schließlich gar den Versuch machte, mit der Polizei in Fühlung zu kommen. Da habe man ihn eines Morgens in Old Bailey gehängt. Wohl hätten Fagins Freunde und er selbst ihn von diesem Tode befreien können, ja, genau genommen, sei er selbst als Oberhaupt des Geschäftes derjenige gewesen, der ihm zum Galgen verholfen, um selbst sicher zu sein. Aber in solchem Fall von Verrat und Verstocktheit hätte eben jede Rücksicht schweigen müssen. Mr. Fagin schloß mit einer lebendigen Schilderung des Gehängtwerdens und gab klar der Hoffnung Ausdruck, sich nie in die Zwangslage versetzt zu sehen, Oliver Twist einem ähnlichen Verfahren eines Tages überliefern zu müssen.

Oliver erstarrte das Blut in den Adern, wie er dies hörte. Er begriff vollkommen, was die in der Erzählung enthaltenen Drohungen bedeuten sollten; wußte er doch selbst bereits aus eigner Erfahrung, daß die Gerichte zuweilen einen Unschuldigen für schuldig halten können, wenn er nur einmal in Gesellschaft von Verbrechern angetroffen worden sei. Er begriff, daß es finstere Schleichwege geben müsse, unbequeme Mitwisser zum Schweigen zu bringen. Noch zu lebhaft stand das Bild des Streits zwischen Fagin und Sikes vor seinem geistigen Auge. Schüchtern blickte er auf und fühlte, daß seine Angst dem Schurken nicht entgangen war und dieser innerlich darüber frohlockte.

Fagin lächelte tückisch, tätschelte ihm die Wangen und sagte ihm, wenn er nur hübsch den Mund hielte und sich eifrig dem Geschäft zuwende, würden sie schon noch gute Freunde werden. Dann nahm er seinen Hut, zog einen alten zerlumpten Überzieher an, ging hinaus und verschloß die Tür hinter sich.

So blieb Oliver den ganzen Tag allein und sah auch die ganze kommende Woche vom frühen Morgen bis gegen Mitternacht keine Seele. Erst nach acht Tagen gestattete ihm der Jude, tagsüber das Zimmer zu verlassen und im Haus herumzugehen.

Es war ein außerordentlich schmutziger Ort. Die Zimmer im oberen Stockwerk hatten hohe hölzerne Kaminstücke und breite Türen und Holzverkleidungen an der[130] Decke. Trotzdem alles stark verstaubt und baufällig war, konnte man doch sehen, daß das Gebäude vor langen Jahren einst reichen Leuten gehört haben mußte. Überall in den Ecken und Winkeln, an den Wänden und an der Decke hingen Spinnennetze, und wenn Oliver einmal leise ein Zimmer betrat, huschten Mäuse über den Boden und flüchteten sich erschreckt in ihre Schlupflöcher. Sonst war nichts Lebendiges zu hören und zu sehen, und oft, wenn die Dunkelheit hereinbrach und Oliver erschöpft und müde vom Herumirren in den öden Zimmern sich in einem Winkel des Hausflurs verkroch, um wenigstens der Gasse so nahe wie möglich sein zu können, lauschte er, die Stunden zählend, bis Fagin oder die Jungen zurückkehrten. In sämtlichen Räumen waren die wurmstichigen Jalousien fest verschlossen, und nur hie und da stahl sich das Licht des Tages durch Ritzen oder Löcher an der Decke und machte die Zimmer noch ungastlicher und düsterer durch die seltsamen Schatten, die es erzeugte. Das Dachbodenfenster war das einzige, das keinen Laden hatte, war aber durch Eisenstäbe vergittert. Stundenlang blickte Oliver traurig hinaus, aber er konnte nicht viel mehr von dort sehen als eine verworrene Masse von Giebeln und rauchgeschwärzten Schornsteinen. Hie und da erkannte er in der Ferne einen grauhaarigen Menschen hinter dem Fenster eines entfernt liegenden Hauses, das aber immer bald wieder im Nebel verschwand. Selbst wenn es Oliver möglich gewesen wäre, eine Verbindung mit der Außenwelt anzubahnen, so hätte er es wahrscheinlich in Anbetracht der höchst verdächtigen Nachbarschaft bald unterlassen.

Eines Abends, als der Baldowerer und Master Bates sich für den Abend verabredeten, befahl letzterer Oliver, ihm bei der Toilette behilflich zu sein.

Oliver war überfroh, sich nützlich machen zu können, und nur zu glücklich, endlich wieder einmal ein menschliches Gesicht zu sehen, und begierig, wenn er es, ohne unehrlich zu sein, tun konnte, sich zu bemühen, eine versöhnliche Stimmung herbeizuführen. Er erklärte sich daher sofort bereit, kniete nieder, während der Baldowerer sich auf den Tisch setzte und ihm den Fuß in den Schoß legte, und putzte ihm die Stiefel,[131] was Master Dawkins »Lackieren der Haxenfutterale« nannte.

»Schade, daß er kein Chochemer ist,« sagte der Baldowerer, versöhnlich gestimmt.

»Na,« meinte Master Charley Bates, »er übersieht eben seinen eigenen Vorteil.«

Der Baldowerer seufzte schwärmerisch und zündete sich eine Pfeife an. Dann rauchte er eine Weile lang, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Chochemer ist?« sagte er auf einmal schwermütig.

»Ich glaube schon, daß ich es weiß,« sagte Oliver und blickte auf. »Es ist, es ist – es ist doch ein Dieb? Es ist ein Dieb, nicht wahr?«

»Jawohl,« versetzte der Baldowerer, »ich bin auch ein Dieb. Ich würde mich schämen, was anderes zu sein, und Charley auch, Fagin ebenfalls und Sikes auch. Nancy und Betsey sind ebenfalls Diebinnen. Alle. Und der Hund auch, und der ist der allergerissenste.«

»Und hat keine Neigung, was zu verraten,« ergänzte Charley Bates.

»Ich glaube, er würde als Zeuge nich mal bellen, um sich nicht zu verraten,« bekräftigte der Baldowerer. »Aber was weiß denn das dumme Greenhorn davon?«

»Warum trittst du eigentlich nich bei Fagin ein, Oliver?« fragte Bates.

»Und machst dich selbständig,« ergänzte der Baldowerer grinsend.

»Wie ich's vorhab im nächsten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstag in der Trinitywoche,« erläuterte Charley Bates.

»Ich tu es nicht gern,« antwortete Oliver schüchtern. »Ich wollte, man ließ mich gehen, – ich – ich möchte am liebsten weg.«

»Aber Fagin möcht' es nicht,« spöttelte Charley.

Oliver wußte das selbst am besten, hielt es aber für gefährlich, seine Gefühle noch deutlicher zu verraten. Er seufzte daher nur und fuhr fort, dem Baldowerer sorgfältig die Stiefel zu wichsen.

»Hast du denn gar keinen Stolz?« rief der Baldowerer. »Möchtest wohl immer andern Leuten auf der Tasche liegen?«[132]

»Pfui Deifel, so was,« schimpfte Master Bates, zog ein paar seidene Schnupftücher aus der Tasche und warf sie in eine Schublade, »so was Hundsgemeines.«

»Ich kriegte so was net fertig,« sagte der Baldowerer hochnasig.

»Ja, aber deine Freunde kannst du im Stich lassen,« sagte Oliver mit halb unterdrücktem Lächeln, »und siehst ruhig zu, daß sie arretiert werden, weil du etwas gestohlen hast.«

»Das,« erklärte der Baldowerer und fuchtelte mit seiner Pfeife in der Luft herum, »das geschah aus Rücksicht für Fagin, weil die auf der Polizei ganz gut wissen, daß wir zusammen arbeiten. Hätten wir uns nicht rechtzeitig auf die Socken gemacht, wären wir alle im Saft gewesen, was Charley?«

Master Bates nickte zustimmend und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da überwältigte ihn die Erinnerung an Olivers Flucht vor dem Bücherladen, und er verschluckte sich vor Lachen so mit Tabakrauch, daß er fast fünf Minuten brauchte, um wieder zu sich zu kommen.

»Da, schau mal her,« sagte der Baldowerer und zog eine Handvoll Schillinge und Halfpence aus der Tasche, »is das 'n feines Leben! Was liegt daran, wo es herkommt? Mach's auch so. Da gibt's noch viel mehr, wo wir's her haben. Was? Du willst nicht. So ein dummes Luder.«

»Er ist ein Taugenichts, nicht wahr, Oliver?« höhnte Charley Bates. »Er muß noch mal in den Sack spucken.«

»Ich verstehe nicht, was das heißt,« sagte Oliver.

»Das da heißt's, dummes Luder!« spottete Charley, dabei hielt er sein Halstuch in die Luft, machte eine Schlinge daraus und steckte den Kopf durch und pfiff dabei sonderbar durch die Zähne. »Das bedeutet's, hängen,« erklärte er. »Schau nur mal, was er für 'n dummes Gesicht macht, Jack. So ne Jungfer hab' ich noch in meinem ganzen Leben nicht gesehen; es wird noch mein Tod sein.« Dabei schüttelte sich Master Charley Bates vor Lachen, bis ihm Tränen in den Augen standen.

»Du hast eine schlechte Erziehung genossen,« bemerkte Jack Dawkins mit tiefem Ernst, »aber Fagin wird[133] schon noch was aus dir machen. Hat schon ganz andere erzogen. Fang nur schon endlich mal an; je früher, je besser, du verlierst nur deine Zeit, Oliver.«

Master Charley unterstützte seinen Rat durch eine ganze Reihe moralischer Ermahnungen, dann erging er sich und ebenso Mr. Dawkins in einer glühenden Schilderung der zahllosen Vergnügungen, die ein solches Leben, wie sie es führten, im Gefolge habe. Dabei bedeuteten sie Oliver, er würde bei Fagin sofort in der Gunst steigen, wenn er ihrem Rat folge.

»Das schreib dir hinter die Ohren, Nolly,« schloß der Baldowerer, als jetzt die Schritte des Juden draußen hörbar wurden, »wenn du schon nicht Riegerlappen stemmst – –«

»Aber er versteht dich doch nicht,« unterbrach Charley. »Also: wenn du keine Taschentücher und Uhren stiehlst,« erklärte der Baldowerer, sich Olivers Fassungskraft anpassend, »dann wird's eben ein anderer tun, und der hat dann was davon, und du hast nichts.«

»Nu, das sag' ich doch,« rief der Jude, der inzwischen unbemerkt von Oliver eingetreten war, »daß de das nicht einsehn willst, Kleiner! Glaub' mir, der Baldowerer hat recht, der hat den Katechismus vom Geschäft heraußen.«

Vergnügt rieb sich der Alte die Hände, nickte mit dem Kopf und kicherte vor Entzücken. Vorläufig konnte jedoch nicht weiter an der Ausbildung des Zöglings gearbeitet werden, denn Miß Betsey war zusammen mit dem Juden und einem Herrn eingetreten, den Oliver bisher noch nie gesehen hatte. Er wurde von dem Baldowerer als Mr. Tom Chitling angeredet und trat jetzt vollends, nachdem er draußen noch mit der jungen Dame ein paar galante Reden getauscht, ein.

Mr. Chitling war älter als der Baldowerer, zählte ungefähr achtzehn Jahre, benahm sich jedoch gegen den jungen Herrn so ehrerbietig, daß man sofort erkannte, wie hoch er dessen Talente einschätzte. Er hatte ein Paar beständig zwinkernde Augen und ein konfisziertes Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkelfarbige Manchesterjacke, schmierige englischlederne Hosen und eine Schürze. An seiner Garderobe vermißte man stark[134] die fürsorgliche Hand der Haushälterin; aber er entschuldigte sich bei den Anwesenden damit, daß seine »Zeit« eben erst vor einer Stunde abgelaufen sei. In Anbetracht des Umstandes, daß er die letzten sechs Wochen die »Uniform« habe tragen müssen, wäre er noch nicht imstande gewesen, seiner Garderobe die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Dann setzte er in hoher sittlicher Entrüstung hinzu, die neue Art, drüben die Kleider auszuräuchern, sei eine Gemeinheit, da dabei Löcher in die Sachen gebrannt würden; aber gegen ein Bezirksgericht gäbe es eben leider keinen Rekurs. Ähnliche Ansichten entwickelte er auch, was die »drüben« übliche Mode des Haarschnittes anbelange. Sie sei geradezu himmelschreiend und ungesetzlich, schloß er und konstatierte, er habe seit zweiundvierzig zum Verrecken öden Tagen nicht einen Tropfen trinkbaren Zeugs über die Lippen gebracht und sei so ausgetrocknet wie eine Lehmmulde.

»Nu, woher glaubst de, Oliverleben, daß der Herr wohl gekommen is?« fragte der Jude grinsend, während die Jungen eine Flasche Schnaps auf den Tisch setzten.

»Ich – ich – ich weiß es nicht, Sir,« stotterte Oliver.

»Was ist denn das für einer?« fragte Tom Chitling mit einem verächtlichen Blick auf Oliver.

»Ein junger Freund von mir, mei Lieber,« erklärte der Jude.

»Na, dann ist er ja aufgehoben,« brummte der junge Mann mit einem bezeichnenden Blick auf Fagin. »Brauchst nicht lang zu fragen, junger Hund, wo ich herkomme; wirst schon bald den Weg selber finden. Wetten?«

Über diesen Witz lachten die Jungen laut heraus, dann wechselten sie, nachdem sie noch eine Weile gescherzt, flüsternd ein paar Worte mit Fagin und zogen sich zurück.

Von diesem Tag an blieb Oliver selten allein und war auf den beständigen Verkehr mit den zwei Jungen angewiesen, die Abend für Abend das alte bekannte Spiel mit Fagin spielten, – ob zu ihrer eignen Vervollkommnung, oder um Oliver ein Beispiel vor Augen zu führen, konnte nur Mr. Fagin allein beurteilen. Zu[135] anderen Malen erzählte der Jude Geschichten von Räubereien und Diebstählen, die er selbst in seiner Jugend durchgeführt, und schmückte sie mit komischen Details aus, daß Oliver oft herzlich lachen mußte, so sehr ihm auch das Thema selbst gegen sein besseres Gefühl ging.

Kurz und gut: der alte schlaue Jude hielt Oliver geschickt in seinem Netz gefangen, nachdem er ihn vorher durch Einsamkeit soweit gebracht, daß er jede Gesellschaft den traurigen Gedanken in dem öden verlassenen Hause vorzog. So hoffte Fagin, seinem Herzen langsam das Gift einzuträufeln, das, wie er annahm, seine Seele mit der Zeit verderben mußte.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 129-136.
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