Siebenundzwanzigstes Kapitel

[195] Eine frühere Unhöflichkeit, mit der wir eine Dame im Stiche gelassen, wird wieder gut gemacht.


Mr. Bumble hatte bereits ein zweites Mal die Teelöffel gezählt, die Zuckerzange in der Hand gewogen, den Milchtopf einer genauen Inspektion unterzogen und sich hinsichtlich des ganzen Mobiliars jede nur wünschenswerte Gewißheit verschafft, ehe er zum Bewußtsein kam, daß Mrs. Cornay eigentlich ziemlich lange ausblieb.

Da sich im Hause nichts hören ließ, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, er könne sich am besten wohl die Zeit damit vertreiben, daß er auch das Innere von Mrs. Cornays Kommodenkästen einer genauen Durchforschung unterzöge.

Nachdem er zuvor am Schlüsselloch gehorcht, um sicher zu sein, nicht überrascht zu werden, machte er sich über die drei ersten Schubladen her. Sie waren sämtlich mit Kleidungsstücken von verschiedenem Stoff und neustem Schnitt angefüllt, und zwischen jedem Kleid war fürsorglich ein altes Zeitungsblatt gelegt und getrockneter Lavendel darübergestreut. Ein kleines Kästchen mit einem Vorhängschloß daran in der Eckschublade gab, wenn er es schüttelte, einen herzerquickenden Klang – so wie von Goldmünzen – von sich. Das genügte Mr. Bumble. Mit majestätischen Schritten kehrte er zum Kamin zurück und nahm seine frühere Stellung und Haltung wieder ein. Eine Weile dachte er nach, dann[195] rief er mit ernster und entschlossener Miene: »Wird gemacht – jawohl, wird gemacht.« Dieser seltsamen Erklärung ließ Mr. Bumble wohl zehn Minutenlang in höchst drolliger Weise ein tiefsinniges Kopfschütteln folgen, und schließlich unterzog er die Vorderseite seiner Beine mit deutlichem Vergnügen einer eingehenden Besichtigung.

Noch ganz vertieft sah er auf seine Stiefel herab, da kam Mrs. Cornay plötzlich ins Zimmer gestürzt, fuhr sich zuerst einmal mit der Hand über die Augen, dann mit der andern nach dem Herzen, sank hierauf in einen Lehnstuhl und schnappte nach Luft.

»Ja, Mrs. Cornay,« rief Mr. Bumble und beugte sich über die Armenhausmutter, »ja, was soll denn das bedeuten, Madame? Etwas geschehen, Madame? Bitte, so antworten Sie mir doch – ich stehe wie auf – wie auf –« Mr. Bumble konnte in seiner Herzensangst nicht gleich das Wort Kohlen finden, er sagte deshalb aufs Geratewohl Scherben, – offenbar weil er an eine zerbrochene Flasche denken mußte.

»Ach, Mr. Bumble,« hauchte Mrs. Cornay, »es hat mich schrecklich angegriffen.«

»Angegriffen? wie?« fragte Mr. Bumble. »Wer hat es gewagt?! Ach ja, ich kann es mir ja denken,« unterbrach er sich selbst mit großer Würde in seiner Rede, »dieses ruchlose Armenpack, ich weiß schon.«

»Ja ja, es war gräßlich,« jammerte die Armenhausmutter.

»Denken Sie nicht mehr daran!« riet Mr. Bumble.

»Ich kann mir nicht helfen,« schluchzte die Gnädige. »Ich kann mir nicht helfen.«

»Nehmen S' doch etwas zu sich, Madame,« schmeichelte Mr. Bumble, »ein Schlückchen Wein vielleicht.«

»O nicht um die Welt,« lehnte Mrs. Cornay ab. »Ich könnt es nicht – O! dort rechts in der Ecke auf dem obersten Sims, o!« Sie zeigte auf den Wandschrank und bekam Krämpfe.

Mr. Bumble stürzte zu dem Schränkchen, riß eine grüne Glasflasche von dem bezeichneten Sims herab, goß ihren Inhalt zuerst in eine Teetasse und dann der Gnädigen in den Mund.[196]

»Es ist mir schon viel besser,« hauchte Mrs. Cornay und sank, nachdem sie die Tasse zur Hälfte geleert, in ihren Lehnsessel zurück. Mr. Bumble schlug zum Zeichen seiner Ergriffenheit die Augen zur Decke empor, senkte sie dann wieder hernieder zur Tasse und hielt sich diese sodann an die Nase.

»Pfefferminz,« erklärte Mrs. Cornay mit schwacher Stimme, den Kirchspieldiener mild anlächelnd. »Bitte, kosten Sie einmal. Es ist auch sonst noch ein bißchen was drin.«

Mr. Bumble kostete die Arznei, schmatzte mit den Lippen, versuchte abermals und stellte die Tasse sodann geleert nieder.

»Herzerquickend, nicht wahr?« fragte Mrs. Cornay.

»In der Tat, sehr stärkend, Madame,« bekräftigte der Kirchspieldiener, rückte seinen Stuhl neben den der Gnädigen und fragte besorgt, was sie denn so um ihre Ruhe gebracht habe.

»O nichts,« hauchte Mrs. Cornay. »Ich bin nur ein empfindsames schwaches Geschöpf.«

»Schwach, Madame?« fragte Mr. Bumble und rückte noch näher. »Sie sind doch nicht ein schwaches Wesen, Mrs. Cornay?«

»Wir sind alle schwache Geschöpfe,« versicherte Mrs. Cornay.

»Sehr wahr,« stimmte Mr. Bumble ein.

Ein paar Minuten schwiegen beide, und nach Verlauf dieser Zeit hatte Mr. Bumble eine neue Situation geschaffen, indem er den linken Arm von der Stuhllehne herabgenommen und ihn zu dem Schürzenband der Gnädigen gelenkt, wo er jetzt mit sanftem Drucke ruhte.

»Wir sind allesamt schwache Geschöpfe,« wiederholte er.

Mrs. Cornay seufzte.

»So seufzen Sie doch nicht, Madame!«

»Ach, ich muß doch.« Mrs. Cornay seufzte abermals.

»Und wie nett und behaglich dies Zimmer ist, Madame, noch eins dazu, und es wäre eine wunderschöne Wohnung.«

»Für eine einzelne Person, wie ich, wäre es zu viel,« hauchte die Gnädige.[197]

»Aber nicht für zwei, Madame,« fiel Mr. Bumble schmachtend ein. »Meinen Sie nicht auch, Mrs. Cornay?«

Die Armenhausmutter ließ den Kopf sinken, und Mr. Bumble tat desgleichen, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Züchtig blickte Mrs. Cornay zu Boden und machte ihre Hand frei, um nach dem Taschentuch zu greifen. Unmerklich senkte sie sie jedoch in die Hand des Kirchspieldieners.

»Unsre Behörde liefert Ihnen Kohlen, Mrs. Cornay, nicht wahr?« fragte Mr. Bumble und drückte zärtlich ihre Finger.

»Und freies Licht,« ergänzte Mrs. Cornay, den Druck zärtlich erwidernd.

»Kohlen, Licht und Wohnung frei,« rekapitulierte Mr. Bumble. »Ach, Mrs. Cornay, was für ein Engel Sie doch sind!«

Dieser Gefühlsausbruch war zu viel für die Gnädige. Sie sank dem Kirchspieldiener an die Brust, und dieser drückte ihr einen zärtlichen Kuß – in seiner Erregtheit auf die Nase.

»Nein, eine so hohe Vollkommenheit in unserm Kirchspiel zu finden,« rief Mr. Bumble verzückt. »Sie wissen doch, Angebetetste, daß Mr. Slout heut Abend sich wieder viel schlechter befindet als sonst?«

»Ja,« lispelte Mrs. Cornay verschämt.

»Keine acht Tag kann er mehr leben, sagt der Doktor,« fuhr Mr. Bumble fort, »und dann wird sein Posten vakant sein. Ach, Mrs. Cornay, welche Aussichten sich einem da eröffnen, net wahr?«

Mrs. Cornay schluchzte.

»Sprechen Sie das kleine Wörtchen,« säuselte Mr. Bumble und beugte sich über die verschämte Gnädige nieder. »Das einzige gewisse kleine Wörtchen, meine angebetete Mrs. Cornay.«

»Ja – a – a,« hauchte Mrs. Cornay.

»Und noch eins – nur eins noch: – wann soll es vor sich gehen?«

Zweimal setzte Mrs. Cornay an, aber jedesmal versagte ihr die Stimme. Endlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, schlang ihre Arme um den Hals des Kirchspieldieners und flüsterte ihm ins Ohr, es könne[198] so früh stattfinden, wie es ihm gefiele; er wäre eben ein ganz unwiderstehlicher Mann.

Nachdem die Dinge auf so zufriedenstellende Art erledigt waren, wurde der Vertrag bei einer zweiten Tasse Pfefferminzmischung feierlich besiegelt, und dabei machte Mrs. Cornay den Kirchspieldiener mit allen Nebenumständen, das Hinscheiden der alten Krankenwärterin betreffend, bekannt.

»Sehr gut,« murmelte Mr. Bumble, seinen Pfefferminzschnaps schlürfend. »Auf dem Heimweg werd ich bei Sowerberry vorsprechen und alle nötigen Anordnungen treffen. Aber jetzt erzählen Sie, was Sie so erschreckt hat, Madame?«

»Nichts besonderes,« sagte die Armenhausmutter ausweichend.

»Aber es muß doch etwas besonderes gewesen sein,« drängte Mr. Bumble. »Warum wollen Sie es mir denn nicht sagen?«

»Ein andermal, – wenn wir erst verheiratet sind, Geliebter.«

»Wenn wir verheiratet sind? Es wird sich doch nicht einer von dem Armengesindel eine Unverschämtheit gegen Sie erlaubt haben?«

»Nein nein nein, durchaus nicht,« versicherte die Gnädige.

»Wenn ich so etwas annehmen müßte,« fuhr der Kirchspieldiener streng fort, »wenn ich annehmen müßte, daß jemand es gewagt hätte –«

»Nein – nein, niemand hat etwas gewagt.«

»Hätt es auch niemand geraten,« grollte Mr. Bumble und ballte die Faust. »Ich möchte den Kerl sehen, arm oder reich, der sich unterfinge; ein zweites Mal würde er es nicht mehr tun, das kann ich Ihnen versichern.«

Mr. Bumble begleitete seine Worte mit einem höchst kriegerischen Gebärdenspiel, und dieser Beweis seiner Neigung rührte die Gnädige tief. Immer wieder beteuerte Sie bewundernd, er sei wirklich und wahrhaftig ein süßer lieber Täuberich.

Der Täuberich aber schlug sich den Rockkragen in die Höhe, setzte seinen Dreispitz auf, tauschte mit seiner[199] künftigen Ehehälfte eine lange zärtliche Umarmung und verließ dann würdevoll das Haus.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Mr. und Mrs. Sowerberry waren zum Abendessen ausgegangen, und da Master Noah Claypole niemals dazu neigte, sich größeren physischen Anstrengungen zu unterwerfen, mit Ausnahme des Essens und des Trinkens, war der Laden noch nicht geschlossen, trotzdem längst Feierabend gemacht war.

Mr. Bumble klopfte mit dem Stock auf den Ladentisch, da jedoch niemand eintrat und er einen hellen Lichtschein durch das Fensterchen des hinter dem Laden gelegenen Wohnzimmers blinzeln sah, nahm er sich die Freiheit, durch die Glasscheibe hineinzuspähen, um sich zu überzeugen, was dahinter vorgehe. Was er dort sah, versetzte ihn in nicht geringes Erstaunen.

Der Tisch war zum Abendessen gedeckt. Butter, Brot, Teller und Gläser, ein Krug Porter und ein Fläschchen Wein standen auf dem Tischchen. Oben als Präsident rekelte sich Master Noah Claypole in einem Lehnstuhl, beide Beine über die Armlehne gestreckt, in der einen Hand ein offenes Klappmesser und in der andern ein mächtiges Butterbrot. An seiner Seite stand Charlotte, neben sich ein Fäßchen Austern, die sie aufbrach, während Master Noah sie mit staunenswerter Geschicklichkeit schlürfte. Eine etwas ungewöhnliche Röte um die Nase herum verriet, zusammengehalten mit einem gläsernen Ausdruck der Augen, daß sich Master Noah in ziemlich angeheitertem Zustand befand.

»Da ist wieder eine famos fette, lieber Noah,« sagte Charlotte. »Probier mal.«

»Famose Sache so ne Auster,« brummte Master Claypole, nachdem er sich das Schaltier zu Gemüte gezogen. »Schade, daß man nicht zu viel davon essen kann, da man sonst leicht Bauchweh kriegt, nicht wahr, Charlotte?«

»Es ist eine grausame Einrichtung der Natur,« klagte Charlotte.

»Ja, stimmt,« brummte Master Claypole. »Du ißt Austern wohl nicht sehr gern?«

»Nicht besonders,« versetzte Charlotte. »Ich habs viel lieber, wenn ich dich sie essen sehe, lieber Noah.«[200]

»Komm mal her, Charlotte, laß dir einen Kuß geben,« sagte Noah.

»Wie! – was!« rief Mr. Bumble und stürzte ins Zimmer. »Sag das noch einmal, Lausbub!«

»Und Sie da, Sie unverschämte Person! Küssen! Soso: küssen,« fügte Mr. Bumble unwillig hinzu. »Pfui Teufel!«

»Ich hab sie ja gar nicht küssen wollen,« heulte Master Noah. »Sie kommt immer und will's von mir haben, ob mir's paßt oder nicht, ist ihr ganz wurscht.«

»Aber Noah!« rief Charlotte im Tone bittersten Vorwurfs.

»Jawohl, so macht sie's immer,« heulte Noah. »Ach, Mr. Bumble, gnädiger Herr, und immer kitzelt sie mich unterm Kinn und sucht mich zu verführen.«

»Kusch,« schrie Mr. Bumble streng, »und Sie, scheren Sie sich hinaus, freches Weibsbild. Und du, Noah, mach den Laden zu. Kein Wort jetzt, bis Mr. Sowerberry nach Hause kommt; und dann beichtest du ihm, verstanden? Und dann richtest du ihm aus: ich lasse ihm sagen, er soll morgen früh gleich nach dem Frühstück den Altenweibersarg rüberschicken, verstanden? Solche Bande und küssen!« rief Mr. Bumble in die Hände schlagend. »Die Verderbtheit in den niederen Volksschichten in unserem Kirchspiel nimmt auf schreckliche Weise überhand.« Mit diesen Worten schritt er zur Tür hinaus.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 195-201.
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