Sechsundzwanzigstes Kapitel

[185] Eine höchst geheimnisvolle Person erscheint.


Erst, als der Jude die Straßenecke erreicht hatte, fing er an, sich langsam von der Wirkung zu erholen, die Toby Crackits Mitteilung auf ihn gemacht hatte. Aber immer noch stürmte er vorwärts, und erst das plötzliche Vorbeirollen eines Wagens und die lauten Warnungsrufe der Passanten, die bemerkten, in welcher Gefahr er schwebte überfahren zu werden, brachten ihn ganz zur Besinnung. Er vermied von jetzt an die Hauptstraßen und lief nur noch durch Seitengassen, bis er endlich auf Snowhill landete. Hier beschleunigte er womöglich noch seinen Lauf und hielt nicht eher inne, bis er wieder in einen Hof einbog. Erst von da an mäßigte er seine Geschwindigkeit und verfiel allmählig in seinen gewohnten schlürfenden Gang.

Nicht weit von der Stelle, wo Snowhill und Holbornhill zusammenstoßen, öffnet sich rechter Hand, wenn man aus der City kommt, eine Gasse, Fieldlane genannt. In zahllosen winzigen Läden werden dort die Schnupftücher feilgehalten, die die Ladenbesitzer von den Taschendieben kaufen. Es ist das eine Art Handelskolonie für tausenderlei Artikel, wie sie die Diebe auf den Markt bringen. Dort rosten und modern in dumpfigen Kellern ganze Berge alten Eisens und Haufen schimmliger Abfälle von Leinen und Wollenzeug.

Hierher lenkte Fagin jetzt seine Schritte. Die gelb-und hohlwangigen Bewohner der Gasse schienen ihn alle zu kennen und nickten ihm zu, als er vorbeikam. Er nickte ebenfalls nur kurz, ließ sich aber auf kein Gespräch ein, bis er die Gasse durchschritten hatte. Dann blieb er stehen und sprach einen sehr klein gewachsenen Händler an, der in einen Kindersessel hineingezwängt vor seiner Ladentür saß und eine Pfeife rauchte.[185]

»Nu, Mr. Fagin, das sind mir seltene Gäste,« sagte der Trödler als Antwort auf die Frage Fagins, wie es ihm gehe.

»Bei uns unten is mir der Boden e bissel zu heiß geworden, Lively,« murmelte Fagin, zog die Augenbrauen in die Höhe und kreuzte die Arme auf der Brust.

»Hab scho öfter drüber klagen hören,« versetzte der Trödler. »Aber es beruhigt sich immer wieder; glauben Sie nicht auch?«

Fagin nickte. Dann deutete er mit dem Daumen in der Richtung nach Saffronhill und fragte, ob dort drüben heute Abend wohl jemand zu finden sein werde.

»Bei den Krüppeln?« fragte der Trödler. Fagin nickte.

»Warten Sie mal,« sagte der kleine Mann nachdenklich. »Ja, ja, ich glaube, mindestens ein halbes Dutzend sind hingegangen. Aber ich glaub nicht, daß Sie den dort finden werden, den Sie suchen.«

»Sikes? Was?« fragte der Jude enttäuscht.

»Nö,« erwiderte der kleine Mann und schüttelte mit scheuer Miene den Kopf. »Übrigens, haben Sie heute kei Geschäft?«

»Nein, heut abend nicht,« knurrte Fagin und wandte sich zum Gehen.

»Nu, Sie gehen doch in die ›Krüppel‹, Fagin?« rief ihm der kleine Mann nach. »So warten Sie doch a bissel, ich nehms gar nicht übel, wenn Sie mich zu nem Glas einladen.«

Fagin winkte ihm über die Schulter ab, und das Gasthaus zu den Krüppeln wurde somit für dieses Mal nicht der Ehre des Besuchs Mr. Livelys teilhaftig. Als sich der Trödler wieder niedersetzte und mit bedenklichem Kopfschütteln seine Pfeife zur Hand nahm, war Fagin bereits außer Sehweite.

Die »Drei Krüppel« waren das Gasthaus, in dem Mr. Sikes mit seinem Hund schon früher einmal eingekehrt war. Fagin schritt die Treppe hinauf, öffnete eine Stubentüre und schlich sich leise hinein. Sich die Augen beschattend, spähte er besorgt umher, offenbar jemand suchend.[186]

Das Gastzimmer war von zwei Gaslampen erhellt, und die Fensterläden waren geschlossen und die Vorhänge dicht zugezogen. Die Decke war schwarz angestrichen, damit ihre Farbe unter dem Lampenqualm nicht leide. Dicker Tabaksqualm erfüllte den Raum. Allmählich erkannte Fagin die zahlreiche Gesellschaft, deren Anwesenheit ihm schon draußen durch den verworrenen Lärm, der bis auf die Straße drang, zum Bewußtsein gekommen war. Zu oberst am Tisch saß der Präsident mit einem Amtshammer in der Hand und in einem Winkel vor einem jämmerlichen Klavier ein Musikant mit blauroter Nase und das Gesicht, Zahnschmerzen halber, mit einem großen Tuch verbunden.

Fagin blickte lauernd von Gesicht zu Gesicht, schien aber den, den er suchte, nicht darunter zu finden. Er wechselte einen schnellen Blick mit dem Wirt, einem vierschrötigen Kerl, und schritt dann wortlos wieder aus der Stube.

»Womit kann ich ihnen dienen, Mr. Fagin?« fragte der Wirt, der daraufhin sofort aufgestanden und ihm nachgeeilt war. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, meine Gäste würden sich sehr freuen.«

Ungeduldig schüttelte der Jude den Kopf und fragte flüsternd: »Ist er hier gewesen?«

»Nein.«

»Und auch keine Nachricht von Barney?«

»Nein,« sagte der Wirt. »Der kommt erst, bis alles wieder ruhig ist. Er ist viel zu vorsichtig. Aber es wird ihm nichts passiert sein. Ich wette ein Pfund darauf. Er wird die Sache schon wieder richtig ins Geleis bringen.«

»Wird er heute abend herkommen?« fragte Fagin.

»Sie meinen Monks?«

»Still,« flüsterte der Jude. »Natürlich, ja.«

»Jedenfalls,« versetzte der Wirt und zog seine goldene Taschenuhr zu Rate. »Ich erwarte ihn schon lang. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, wird er –«

»Nein, nein,« lehnte der Jude hastig ab, sichtlich durch die Nachricht erleichtert. »Sagen Sie ihm bloß, ich bin dagewesen und er soll kommen heinte zu mir; noch heinte abend, oder besser: übermorgen.«[187]

»Gut,« brummte der Wirt, »sonst nichts?«

»Vorläufig nix,« sagte Fagin und schlich die Treppe hinab.

»Was ich noch sagen wollte,« begann der Wirt wieder, beugte sich über das Treppengeländer und redete in leisem Füsterton. »Sie könnten jetzt ein Geschäft machen. Phil Barker ist knallbesoffen, ein Kind könnt ihn klein kriegen.«

»Geht jetzt nix,« erwiderte der Jude. »Noch nicht. Phil hat noch andre Sachen zu besorgen, ehe wir ihn entbehren können. Gehen Sie nur schon hinein ins Zimmer, mei Lieber.«

Kaum war Fagin allein, als sein Gesicht den früheren Ausdruck von Unruhe und Besorgnis wieder annahm. Er sann eine Weilelang nach, dann rief er eine Droschke an und befahl dem Kutscher nach Bethnal Green zu fahren. Etwa zehn Minuten vor der Wohnung Mr. Sikes' stieg er aus und legte den Rest der Entfernung zu Fuß zurück.

»Wir werdens schon erauskriegen,« brummte er vor sich hin und klopfte an die Türe. »Wenn da etwas Geheimes dahinter is, werd ichs schon erausbringen, mei Mädel, verlaß dich drauf.«

Nancy schlief, das Gesicht auf dem Tisch, und das Haar hing ihr wüst um den Kopf.

»Aha, gesoffen hat sie,« brummte Fagin kalt. »Möglich auch, daß sie wieder den moralischen Katzenjammer hat.«

Er schloß die Türe zu; Nancy fuhr, erweckt durch das Geräusch, in die Höhe. Scharf blickte sie Fagin ins Gesicht, nachdem sie ihn gefragt, ob er Nachricht bringe. Aufmerksam hörte sie zu, was er von Toby Crackit erzählte. Dann sank sie in ihre frühere Stellung zurück und schwieg. Nur hie und da scharrte sie mit den Füßen den Boden. Das war alles.

Der Jude spähte lauernd umher, konnte aber kein Anzeichen, daß Sikes zurückgekehrt sei, entdecken.

»Was glaubst du eigentlich, mei Kind, wo Bill stecken mag?« forschte er.

Das Mädchen stöhnte und murmelte eine unverständliche Antwort. Sie schien zu weinen.[188]

»Und der kleine Junge!« sagte Fagin, aufs Äußerste bemüht, einen Blick von ihr zu erhaschen. »Der arme kleine Jung! In einem Graben haben sie ihn liegen lassen, Nancy, denke dir nur.«

»Das Kind,« schrie Nancy auf, »das Kind ist besser dran, wenns tot ist, als unter uns! Und wenn Bill kein Unglück weiter geschieht, will ich nur hoffen, daß der arme Junge tot ist und seine jungen Knochen im Graben verfaulen.«

»Was! Was i – is?« rief Fagin bestürzt.

»Jawohl, das wünsch ich,« schrie Nancy und sah ihm fest ins Gesicht. »Ich werde froh sein, wenn ich ihn nie wieder sehe, wo das Schlimmste jetzt vorbei ist. Ich hätts nicht länger ertragen können, ihn um mich zu haben. Sein Anblick macht mich mir selbst verhaßt und Euch alle.«

»Püh,« tönte Fagin, »du bist wohl betrunken.«

»So? Betrunken!« rief Nancy bitter. »Deine Schuld ists freilich nicht, wenn ichs nicht bin. Wenns nach deinem Willen ging, wär ich niemals nüchtern, höchstens jetzt vielleicht. Meine Stimmung paßt dir nicht, was?«

»Gewiß nicht,« sagte der Jude wütend.

»Dann mach sie anders,« antwortete die Dirne lachend.

»Anders machen,« schrie der Jude erbittert über die unerwartete Widerspenstigkeit seines Opfers, »ja wohl, anders machen will jach sie. Dich werd ich auch anders machen. Hör zu jetzt, was ich dir sag, du freches Mensch: ich sag dir, ich kann dem Sikes mit ä paar Worten den Kragen erumdrehen, so sicher, wie wenn ich sei Kehle zwischen die Finger hätt. Kommt er zurück und bringt den Jungen nix mit, lebendig oder tot, so rat ich dir, bring ihn selber um, wenn du willst, daß er dem Galgen entgehen soll. Beim ersten Schritt, den er ins Zimmer erein macht, – sonst wird es zu spät sein.«

»Was sagst du da!« rief das Mädchen unwillkürlich.

»Was ich sag,« wiederholte der Jude vor Wut fast außer sich. »Das sag ich: das Kind ist mir wert viele hundert Pfund. Was glaubst du, die soll ich verlieren,[189] bloß wegen die Verrücktheiten von einer so betrunkenen Gesellschaft, wie ihr seid, und die ich in meiner Gewalt hab, und wo ich nur zu wollen brauch und – und –« In seiner Wut versagte ihm die Stimme. Leichenblaß vor Aufregung warf er sich in einen Stuhl und kauerte sich zusammen, während plötzlich Furcht und Angst, seine geheimsten Gedanken unvorsichtigerweise offenbart zu haben, sein Gesicht verzerrten. Erst nach einem längerem Schweigen wagte er es, sich nach Nancy umzusehen. Allmählich fand er seine Ruhe und Sicherheit wieder, als er sah, daß sie ihre vorige gleichgültige Stellung wieder eingenommen hatte.

»So hör doch Nancyleben,« krächzte er in seinem gewöhnlichen Ton. »Haste nicht gehört, was ich gesagt hab?«

»Laß mich in Ruh, Fagin,« antwortete Nancy, träge den Kopf erhebend. »Wenns Bill diesmal nicht geglückt ist, wirds ein andermal schon wieder gehen. Er hat dir schon so manches schöne Geschäft zugebracht und wirds noch öfter tun, wenn er kann. Wenn ers nicht kann, dann gehts eben nicht. Reden wir nicht mehr davon.«

»Nun, und was den Oliver betrifft?« sagte Fagin sich nervös die Hände reibend. »Der Junge muß eben schauen, wie er durchkommt –«

»Das müssen andre auch,« fiel ihm Nancy hastig ins Wort. »Aber ich sag dir nochmals, ich hoffe, er ist tot und allem Leid entrückt. Wenn nur dem Bill kein Unglück dadurch widerfährt. Aber wenn Toby sich aus dem Staub gemacht hat, wirds Bill wohl auch gekonnt haben.«

»Nun, und was meinst du zu dem, was ich sonst noch gesagt hab, Kind?« forschte der Jude, die Dirne nicht aus dem Auge lassend.

»Du mußt mir alles noch einmal wiederholen, wenn du willst, daß ich irgendetwas tun soll,« murmelte Nancy. »Sag mirs lieber morgen, ich bin so furchtbar müd jetzt.«

Der Jude stellte ihr noch mehrere Kreuz- und Querfragen, um herauszubekommen, ob er nicht zu viel verraten hätte, was er plane. Aber aus ihren schläfrigen[190] Worten und ihrer Gleichgültigkeit entnahm er, was er schon anfangs geglaubt: daß sie von Branntwein betrunken sein müsse.

Diese Entdeckung verschaffte ihm eine große Erleichterung, und er entfernte sich zufrieden damit, einen doppelten Zweck erreicht zu haben, nämlich: Nancy mitzuteilen, was er von Toby erfahren, zweitens sich mit eigenen Augen zu überzeugen, daß Sikes noch nicht zurückgekommen war. Es war elf Uhr nachts und bitter kalt. Er eilte sich nach Möglichkeit, seine Wohnung bald zu erreichen.

Er suchte gerade, an der Ecke der Straße, an der das Haus lag, angelangt, nach dem Hausschlüssel in seiner Tasche, da hörte er plötzlich seinen Namen dicht an seinem Ohr flüstern. Rasch wendete er sich um und fragte:

»Ist das –«

»Ja, ich bins,« unterbrach ihn die Stimme barsch. »Zwei Stunden wart ich hier schon. Wo zum Teufel steckst du denn?«

»Deinetwegen war ich bei der Arbeit,« erwiderte der Jude, »den ganzen Abend.«

»Natürlich, ja natürlich,« höhnte der andre. »Und was ist dabei herausgekommen?«

»Nix Gütes.«

»Doch nichts Schlimmes vielleicht?« fragte der Fremde erschrocken.

Der Jude schüttelte den Kopf und wollte eben etwas erwidern, aber der andere unterbrach ihn und sagte, sie sprächen wohl am besten unter Dach und Fach; er sei schon förmlich von der Eiseskälte erstarrt.

Dem Juden schien ein solcher Besuch zu so nächtlicher Stunde wenig zu passen, und er stotterte ein paar Ausflüchte wie: kein Feuer im Ofen und dergleichen. Aber der Fremde bestand in so gebieterischem Ton auf seinem Verlangen, daß Fagin endlich die Türe aufsperrte, dann leise wieder hinter sich zuschloß und Licht zu holen versprach.

»Es ist so finster wie im Grab hier,« brummte der Fremde und tastete sich ein paar Schritte vorwärts. »Mach rasch.«[191]

»Schließ die Tür,« flüsterte Fagin unten auf der Hausflur, und noch während er sprach, fiel das Tor donnernd zu.

»Ich bins nicht gewesen,« entschuldigte sich der Fremde und tastete sich vorwärts. »Der Wind hat sie zugeschlagen. Mach geschwind, daß du Licht bekommst, sonst stoß ich mir in diesem vermaledeiten Loch noch den Schädel ein.«

Fagin schlich in die Küche hinunter und kehrte bald darauf mit einer angezündeten Kerze und der Nachricht zurück, Toby Crackit und die Jungen schliefen bereits. Dann führte er seinen Gast in ein Zimmer im oberen Stockwerk.

»Wir können hier ungestört reden,« flüsterte er und schloß die Vorzimmertüre. »Wir stellen am besten die Kerze hier auf den Boden hinaus, denn es sind in den Fensterläden Löcher, und man könnte den Schein draußen sehen.«

Damit bückte er sich und stellte die Kerze auf eine Stufe. Dann schritt er seinem Gast voran in das Zimmer, das er aufgesperrt hatte. Außer einem Armsessel und einem Sofa ohne Überzug war nichts von Mobiliar darin zu sehen. Der Fremde setzte sich sichtlich erschöpft nieder, und der Jude rückte sich den Armsessel an sein Sofa, so daß sie dicht nebeneinander saßen. Die Kerze warf von draußen nur einen matten Schein herein.

Eine Zeitlang sprachen sie im Flüsterton, und es schien, daß Fagin sich gegen gewisse Beschuldigungen seines Gastes verteidigte und daß sich dieser in sehr gereizter Stimmung befand. Sie mochten eine Viertelstunde oder so miteinander geflüstert haben, als Monks – mit diesem Namen hatte ihn der Jude des öfteren angeredet – mit etwas lauterer Stimme sagte:

»Und ich wiederhole, es war miserabel ausgeheckt. Warum habt ihr ihn denn nicht hier behalten bei den andern und ihn sofort zum Taschendieb gepreßt?«

»Gott, über die Welt,« rief der Jude und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.

»Willst du damit vielleicht sagen, daß dus nicht gekonnt hättest,« fragte Monks unwillig. »Ists vielleicht[192] bei den hundert andern Jungen schwerer gegangen? Du hättest ein paar Monate Geduld haben müssen, dann wärs leicht gewesen. Man hätte ihn fassen und deportieren können auf Lebenszeit.«

»Nu, und wem wär damit gedient gewesen, mei Lieber?« fragte der Jude demütig.

»Mir.«

»Aber mir nicht,« opponierte Fagin. »Wenn zwei Leute zusammen arbeiten, muß doch das Geschäft für beide Teile einträglich sein.«

»Nun, und?«

»Ich hab ihn nicht fürs Geschäft erziehen können. Er war anders geartet als die andern.«

»Hol ihn der Teufel. Wahrscheinlich. Sonst wär er längst ein Dieb geworden.«

»Ich hab ihn nicht in meine Gewalt kriegen können,« erklärte der Jude, ängstlich das Gesicht seines Gastes beobachtend. »Ich hab keine Handhabe gehabt. Womit hätt ich ihn in Schrecken setzen sollen? Das erstemal schon, als ich ihn ausgeschickt hab mit dem Baldowerer und mit Charley, ist er ausgerissen. Ich hab für uns alle gezittert.«

»Meine Schuld wars nicht,« brummte Monks.

»Nein nein nein, wer sagt denn das auch,« entschuldigte sich Fagin. »Der Zufall war schuld. Und dann: wie hab ich wissen können, daß es gerade der ist, den du suchst. Übrigens haben wir ihn wieder zurückgebracht mit Hilfe von dem Frauenzimmer, – aber was sagt man: jetzt fängt sie an, ihm die Stange zu halten.«

»Erdroßle sie doch!« rief Monks ungeduldig.

»Solche gefährliche Sachen gehen jetzt nix, mei Lieber,« versetzte Fagin lächelnd. »Und dann liegt das nix in meiner Branche, sonst wärs mir ganz recht, wenn dergleichen öfter geschehen mecht. Aber ich will dir was sagen, Monks, ich kenn das. Wenn der Bub emol anfängt ä Ganef zu werden, kümmert sie sich so wenig um ihm, wie um irgend än andern. Du willst, daß er mit aller Gewalt Dieb werden soll. Gut. Wenn er noch am Leben is, werd ich ihn dazu machen, und wenn – wenn – wahrscheinlich ist es freilich nicht –, aber[193] wenn sich das Schlimmste sollte haben ereignet – und er is tot –«

»Wenn ers ist, mich trifft die Schuld nicht,« unterbrach ihn Monks mit allen Anzeichen des Entsetzens und packte Fagin am Arm, »das merk dir: ich hab meine Hand nicht im Spiel gehabt. Alles, alles, aber seinen Tod will ich nicht. Das hab ich dir vom ersten Augenblick an gesagt. Ich will kein Blut vergießen, – so etwas kommt immer heraus, – und dann verfolgt einen das Gewissen. Wenn sie ihn tot geschossen haben, bin ich nicht daran schuld, verstehst du? – Zum Teufel, was ist denn hier los in dieser verdammten Spelunke? Was ist denn das?«

»Was, was denn?« schrie der Jude und umklammerte Monks mit beiden Armen, als dieser plötzlich außer sich vor Entsetzen emporsprang. »Was – wo?«

»Dort,« stöhnte Monks bebend und deutete an die Wand. »Der Schatten – ich habe den Schatten von einem Weibsbild in Mantel und Hut über die Wand hinhuschen sehen.«

Der Jude ließ Monks los, und beide stürzten aus dem Zimmer. Die Kerze, die im Zugwind heftig flackerte und schon fast heruntergebrannt war, stand immer noch auf der Treppenstufe. Entsetzt sahen sich die beiden in ihre totenblaße Gesichter. Sie horchten gespannt. Nichts. Überall tiefstes Schweigen.

»Es muß e Einbildung gewesen sein,« sagte der Jude bebend.

»Schwören könnt ich, daß ichs wirklich gesehen hab,« versicherte Monks, immer noch heftig zitternd. »Es hat sich vorgebeugt, als ich hingeschaut habe, und ist verschwunden, gerade wie ich angefangen habe zu sprechen.«

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu, bedeutete ihm, ihm zu folgen, und ging voran die Treppe hinunter. Sie durchsuchten jeden Winkel. Alles vergebens. Das ganze Haus war öd und still wie ein Grab.

»Nu, was sagste jetzt?« maulte der Jude, als sie wieder in der Hausflur standen. »Nicht e lebende Seele ist da außer uns, Toby Crackit und die beiden Jungen, und die sind gut eingesperrt. Da schau selber.«[194]

Damit nahm er zwei Schlüssel aus der Tasche und erklärte seinem Gast, er habe gleich, als sie eingetreten seien, Toby, Dawkins und Charley eingeschlossen, um ungestört bleiben zu können. Monks wurde unsicher und gab endlich zu, seine erhitzte Phantasie müsse ihm offenbar einen Streich gespielt haben. Dann trennte sich das Freundespaar.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 185-195.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.

188 Seiten, 6.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon