Vierundzwanzigstes Kapitel

[174] Handelt von einer sehr armen Person.


Die alte Frau, die Mrs. Cornay in ihrer Ruhe gestört hatte, war eine Todesbotin, wie sie es wohl nicht besser sein konnte. Vom Greisenalter gebeugt, mit zitternden Gliedern, das halbseitig gelähmte Gesicht mit dem Glotzauge, alles das verlieh ihr das Aussehen einer grotesk phantastischen Zeichnung.

Keuchend humpelte die Alte die Gänge entlang und die Stiegen hinauf und gab auf die Scheltworte Mrs. Cornays nur unverständliche leise Antworten, bis sie schließlich gar nicht mehr weiter konnte und nach Atem schnappend stehen bleiben mußte. Dann reichte sie der Armenmutter die Kerze, die sie in der Hand hielt, und humpelte so schnell sie konnte hinter ihr her zur Stube, wo die Kranke lag.

Es war das ein kahler Raum oben unterm Dach. Ein trübes Licht flackerte darin. Ein andres altes Weib saß an einem Bett und wachte. Am Ofen stand der Lehrjunge des Gemeindeapothekers und schnitzte sich aus einem Gänsekiel einen Zahnstocher.

»Ein kalter Abend, Madame,« bemerkte der junge Herr, als Mrs. Cornay eintrat.

»Ja ja, sehr kalt, Sir,« stimmte die Armenhausverwalterin in ihrem leutseligsten Tone bei und begleitete ihre Worte mit einem tiefen Knicks.

»Sie sollten bessere Kohlen von Ihrem Lieferanten verlangen,« sagte der Apothekerlehrling und bemühte sich, einen Kohlenklumpen in dem kleinen Öfchen mit dem Schürhaken zu zertrümmern. »Was Sie da haben, sind ja gar keine Kohlen; für so kalte Nächte taugen sie nichts.«

»Die Kohlenbestellung ist Sache der Behörden, Sir,« versetzte Mrs. Cornay.[174]

Ein Stöhnen vom Bette her unterbrach sie in ihrer Rede.

»O,« sagte der junge Mann und wendete sein Gesicht der Kranken zu, »mit der ist's aus.«

»Wirklich?«

»Würde mich sehr wundern, wenn sie noch eine Stunde lebte. He, Sie da, was ist's? Schläft sie?«

Die Krankenwärterin beugte sich über das Bett und nickte bejahend.

»Vielleicht schläft sie sich hinüber,« brummte der junge Mann. »Setzen Sie mal die Kerze auf den Boden, da scheint sie ihr nicht so in die Augen.«

Die Wärterin gehorchte, schüttelte aber dabei den Kopf, um ihrer Meinung Ausdruck zu geben, daß die Kranke wohl nicht so leicht sterben werde. Dann setzte sie sich neben die andere Krankenwärterin, die inzwischen ebenfalls eingetreten war. Mrs. Cornay wickelte sich mürrisch noch dichter in ihr Umschlagtuch und nahm am Fußende des Bettes Platz. Der Apothekerlehrling, dem es inzwischen gelungen war, seinen Zahnstocher zu beenden, begab sich gähnend an den Ofen. Dort blieb er ein paar Minuten, dann wünschte er Mrs. Cornay eine geruhsame Nacht und schlich auf den Zehen hinaus.

Eine Zeitlang blieben die beiden alten Weiber still nebeneinander sitzen. Dann krochen sie ans Feuer, und die Flamme warf ihren gespenstigen Schein auf ihre verrunzelten Gesichter und verlieh ihnen in ihrer Häßlichkeit ein wahrhaft gespenstiges Aussehen.

»Hat sie noch was gesagt, als ich weg war?« fragte das erste alte Weib.

»Kein Wort mehr,« war die Antwort. »Ein paarmal hat sie mit den Armen um sich gehaut, aber ich hab ihr die Hände festg'halten, und dann is sie bald ohnmächtig g'worden. Sie hat schon gar keine Kraft nicht mehr. Ich hab sie ganz leicht halten können.«

»Hat sie von dem heißen Wein getrunken, den der Herr Doktor ihr verschrieben hat?« fragte das erste alte Weib.

»Ich hab probiert, ihr ihn einzuflößen,« versetzte die andre. »Aber sie hat die Zähne zusammbissen wie ein Schraubstock, und den Topf hat sie so fest mit den[175] Fingern g'halten, daß ich ihn kaum mehr hab loskriegen können. So hab ich den Wein lieber selber trunken, und er hat mir gut getan.«

Die beiden alten Weiber guckten sich vorsichtig um, ob sie auch nicht belauscht würden. Dann rückten sie wieder näher zum Feuer und kicherten aus vollem Hals.

»Ich kann mich noch auf die Zeit erinnern,« sagte die erste, »wo sie's genau so g'macht hat.«

»Ja ja, sie hats nie nicht anders g'macht,« versetzte die zweite, »immer war sie froh und lustig. Und wie sie die Leichen hat schön anziehen können! Wie die Wachspuppen! Und hier mit meine alten Händ hab ich ihr oftmals geholfen. Ja ja, dös glauben S' garnet wie oft.«

Dabei streckte die Alte ihre zitternden Finger aus und fuchtelte triumphierend in der Luft herum. Dann wühlte sie in ihren Taschen und brachte eine alte glanzlose zinnerne Schnupftabaksdose zum Vorschein, aus der sie ihrer Kollegin ein paar Körnchen in die ausgestreckte Hand und sich ungefähr das dreifache Quantum in die eigene schüttete. In diesem Augenblick trat Mrs. Cornay zu ihnen an das Feuer und fragte kurz und scharf, wie lange sie noch warten solle.

»Net lang mehr, Frau Verwalterin,« erwiderte die zweite Greisin und blickte von der Glut auf. »Wir brauchen net mehr lang auf den Sensenmann warten. Ja ja, wir alle nicht. Nur Geduld, er wird schon früh genug kommen.«

»Halten Sie den Mund, Sie alberne Person,« schimpfte die Armenhausmutter. »Sie, Martha, sagen Sie mir, ist sie früher schon oft ohnmächtig geworden?«

»Ja ja, gar oft,« war die Antwort.

»Aber es wird sich nimmer oft mehr wiederholen, passens nur auf, Frau Verwalterin,« setzte die zweite Greisin hinzu.

»Obs jetzt lang dauern wird oder nicht,« sagte Mrs. Cornay ärgerlich, »mich wird sie hier nicht finden, wenn sie aufwacht. Hütet Euch, Ihr beiden, und daß mich niemand mehr in meiner Ruhe stört. Es gehört nicht zu meinen Obliegenheiten, im Hause alte Weiber sterben zu sehen, und es paßt mir auch nicht, merkt Euch[176] das, Ihr unverschämten alten Hexen. Wenn Ihr mich nochmal zum Narren haltet, dann nehmt Euch in acht, das sag ich Euch.«

Sie wandte sich zur Türe, da brachte sie ein Schrei der beiden Wärterinnen, die beide wieder ans Bett getreten waren, zum Stillstehen. Die Sterbende hatte sich aufgerichtet und reckte die Arme nach ihnen aus.

»Wer ist das!« schrie sie mit hohler Stimme.

»Still, still,« flüsterte die eine Greisin und beugte sich über die Kranke. »Leg dich nur wieder hin.«

»Ich werd mich nie wieder lebendig hinlegen,« ächzte die Kranke, »ich will mit ihr sprechen. Kommen Sie, Mrs. Cornay, damit ich es Ihnen ins Ohr flüstern kann.«

Sie faßte die Vorsteherin am Arm und wollte eben anfangen zu sprechen, da bemerkte sie, daß die beiden Greisinnen mit offenem Munde zuhorchen wollten.

»Weg da mit ihnen,« keuchte die Sterbende, »geschwind, geschwind.«

Mrs. Cornay schickte die beiden Alten hinaus und die Kranke fuhr fort:

»Hören Sie mich an,« mit wilder Anstrengung stieß sie die Worte hervor, »hier in diesem Zimmer – hier im selben Bett – hab ich einmal ein hübsches junges Weib, das sie hierher ins Haus geschafft haben, gepflegt. Ihre Füße waren mit Staub und Blut bedeckt gewesen. Sie gab einem kleinen Knaben das Leben und starb. Lassen Sie mich nachdenken – in welchem Jahre war es doch.«

»Das Jahr tut nichts zur Sache,« unterbrach sie Mrs. Cornay ungeduldig, »was ist's mit dem Weib?«

»Ja doch, ja doch,« flüsterte die Sterbende, und es schien, als wollte sie wieder in Lethargie verfallen, »was ist's doch mit ihr – was ist's nur mit ihr – ja, ich weiß es,« rief sie wild auffahrend, und ihr Gesicht glühte; die Augen quollen ihr aus dem Kopf. »Ich hab sie bestohlen – bestohlen – ja das hab ich – sie war noch nicht kalt. Ich sag Ihnen, sie war noch nicht kalt, da hab ich sie bestohlen.«

»Um Gottes willen, was haben Sie ihr denn gestohlen?« rief Mrs. Cornay und machte ein Gesicht, als wolle sie um Hilfe rufen.[177]

»Es – das Einzige, was sie hatte,« murmelte die Kranke, »Sie brauchte Kleider gegen die Kälte und Nahrung zum Essen und Trinken, aber trotzdem hatte sie's aufbewahrt und trugs auf ihrer Brust. Es war Gold – ich sag Ihnen, es war Gold, schweres echtes Gold, mit dem sie sich hätte das Leben retten können.«

»Gold?« wiederholte die Verwalterin und beugte sich gierig über die Sterbende. »Weiter – weiter – ja doch, also wie ist die Sache? Wer war die Person, und wann war es?«

»Sie hat mirs anvertraut,« erwiderte die Kranke ächzend, »sie hat mir geglaubt, weil ich die einzige Frauensperson war im Zimmer. Ich habs ihr schon im Geist gestohlen, als sie's mir zum erstenmal, als sie's noch am Hals trug, zeigte, dann starb sie, und – vielleicht hab ich sie auch noch auf dem Gewissen – man hätte sie vielleicht besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.«

»Was gewußt hätte?« fragte die Verwalterin hastig. »So reden sie doch!«

»Das Kind wurde seiner Mutter so ähnlich,« sagte die Sterbende, die Frage überhörend, »so ähnlich, daß ich's heut noch vor Augen sehe. Die arme, arme Person! Sie war noch so jung und so sanft und weichmütig. Warten Sie, ich hab Ihnen noch mehr zu sagen. Ich hab noch nicht alles erzählt, oder – wissen Sie schon alles?«

»Nein nein,« erwiderte Mrs. Cornay gierig und neigte den Kopf vor, um kein Wort zu verlieren. »Geschwind, reden Sie, sonst wirds zu spät.«

»Dann, wie die Mutter den Tod kommen spürte,« fuhr das Weib keuchend fort, »da hat sie mir ins Ohr geflüstert: – wenn ihr Kind leben bleiben sollte und heranwachsen – dann könnte einmal der Tag kommen – wo es sich nicht so tief geschändet fühlen würde, den Namen seiner armen jungen Mutter zu hören. Obs jetzt ein Knabe sein wird oder ein Mädchen, sagte sie, hilf ihm, ich bitte dich, in dieser scheußlichen Welt ein paar Freunde finden, und hab Erbarmen mit dem armen hilflosen Geschöpf.«

»Und wie hieß das Kind?« fragte die Verwalterin.[178]

»Oliver,« antwortete die Sterbende schwach, »und das Gold – war –«

»Ja doch, ja doch, was war es?« Mrs. Cornay beugte sich noch tiefer über das Bett und fuhr dann erschreckt zurück, als die Sterbende sich langsam und steif noch einmal aufrichtete und, ein paar undeutliche Laute tief in der Kehle gurgelnd, tot zurücksank.

»Maustot,« rief das eine der alten Weiber, die wie der Blitz in das Zimmer hineingeschossen kamen, als die Türe geöffnet wurde.

»Nichts, gar nichts hat sie erzählt,« brummte Mrs. Cornay und ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 174-179.
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