5.

[211] Über fremde Gräber und Leichensteine

Schreit ich allein im Abendscheine.

Hab ich die Schläfer drunten gestört?

Haben sie mein fragend' Wort gehört?


Mir ist, als könnt ich in süßem Grauen

Durch Schollen und Särge hinunterschauen

Mitten hinein in die stille Stadt,

Wo alles Reisen sein Ende hat.


Wie vieles Leid, wie viele Trauer

Innerhalb jener engen Mauer!

Hinter der eisernen Gittertür

Wie manche Gebete, Gelübd' und Schwür!


Ach! der menschlichen Liebe ist nirgends so viele,

Als hier am letzten Wanderziele;

Ihre Rosen und Dornen streuet sie mild

Über das tränenreiche Gefild.


Nur nicht ohne Liebe allein verderben,

Nur nicht in der Fremde siechen und sterben,

Von Mietlingshand gehegt und gepflegt,

Mit offenem Aug in den Sarg gelegt!
[211]

Und sollt ich sie lebend nicht wiedersehen,

Die Heimat, so möcht ich drin sterben gehen

Und ruhen bei meinem Mütterlein, –

Nur nicht in der Fremde, nur nicht allein!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 211-212.
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