6.

[212] Die Blätter rieseln von den Bäumen,

Durch kahle Stoppeln bläst der Wind,

Wie lange noch willst du dich säumen

Auf deinen Fahrten, armes Kind?


Von Tal bist du zu Tal gegangen,

In jede Hütte lugtest du,

Was mit dir ging, war dein Verlangen,

Was nirgends weilte, deine Ruh.


Und sahst du neue Berge blauen,

Ob noch so fern, ob noch so hoch,

Du mußtest doch hinüberschauen,

Du dachtest: Drüben find ich's noch!


Verloren hast du schöne Jahre,

Vergeudet manchen schönren Traum,

Von deinem Haupte falln die Haare,

So wie die Blätter dort vom Baum.


Durch deine Seele kalt und schneidend

Weht der Erfahrung böser Ost,

Die letzte Hoffnung krümmt sich leidend

Und schauernd vor dem Winterfrost.


Die Störche ziehen froh von hinnen,

Du weißt noch nicht, wohin du gehst;

Mit ihnen kannst du nicht entrinnen,

So falle nieder, wo du stehst.
[212]

Wärm dich an fremder Menschen Herde,

Denn einen eignen hast du nicht,

Und träume eine Heimats-Erde,

Wo man in fremden Zungen spricht.


Gleichgiltig drück dich in die Ecke

Und stimm in ihren Alltags-Scherz,

Und der Entsagung Leichendecke

Zieh fester um dein starres Herz.


Du hast's gewollt! Du darfst nicht grollen,

Und wenn du noch so elend bist;

Denn ach! du hättest ahnen sollen,

Daß es nicht ewig Frühling ist.

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 212-213.
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