1.

[156] Allmächt'ger Frühling, deck mit deinen Ranken,

Mit deines Rasens Grün dies Trümmer zu,

Und sing ein Volk von hoffnungslosen Kranken

Durch deine Nachtigallen süß zur Ruh'!


Vergeude nicht an andre deine Schätze,

Spar deinen Lebenshauch, hier tut er not;

O komm und weine auf die wüsten Plätze,

Wo Brand und Kampf und Pest und Mord gedroht!


Hier stand ein Haus, wo jetzt auf morschen Ständern

Ein Truggebild sich haltlos wiegt und streckt,

Hier blühten Saaten, wo auf brachen Ländern

Gestrüpp und Schlingkraut heut den Boden deckt.


Wes war die Hand, die unter sichre Dächer

Zuerst die Fackel der Zerstörung hielt,

Die in dem Innren friedlicher Gemächer

Auf treue Männer mörderisch gezielt?
[156]

Wer zog die Stützen eines sichren Lebens

Dem Volke fort und brach der Väter Eid?

Wer schlug die Kraft des edlen Gegenstrebens,

Durch Lug und Trug, durch Zwang und Drang und Leid?


Verbotne Fragen! ... Trage in der Stille,

Was zu ertragen sich ein Volk entschloß;

Unendliches vermag ein ehrner Wille,

Und ach! die Zeit trägt böse Frucht im Schoß.


Sieh, wie gebeugt die weisen Häupter alle,

Sieh, wie zerrissen jede Kraft im Staat,

Es schwankt das Land, gleich einem irren Balle,

Von Pol zu Pol und weiß sich keinen Rat.


Parteiung schleicht in seinem Heiligtume

Gefährlich um, Mut und Vertrauen wankt;

Weh, armes Volk, weh deinem alten Ruhme,

Dein Herz ist hart getroffen und erkrankt.


Aufwärts die Blicke aus dem nächsten Grauen

Der Gegenwart; nicht ewig währt die Nacht!

Wer weiß, wie bald die Himmel wieder blauen?

Wer weiß, wie früh ein deutsches Volk erwacht?


Der Frühling ist zurück ins Land geflogen,

Ihn hemmte weder Maut noch Polizei,

Frei schreitet er einher und ruft den Wogen,

Den Wäldern zu, den Wiesen: Ihr seid frei!


Und tausend Stimmen, die im Chor erwidern,

Und tausend Kräfte, die sich neu geregt;

Hört nur, wie ihres Heeres schmucken Gliedern

Die Lerche mahnend die Reveille schlägt!


Getrost, getrost! Dein Frühling auch wird kommen.

Vielleicht, du ahnst es nicht, ist er schon nah;

Und wird, zu schwer, dein Kreuz dir nicht genommen,

Ei nun! so wirf es ab! du kannst es ja!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 156-157.
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Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
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