V

[74] Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus[74] »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort sei, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er wohl um drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhaus der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich etwas zum Mittagessen geben zu lassen.

Um halb vier und selbst um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging weg und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers kommen in Petersburg manchmal wunderschöne Tage vor, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und auf Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten; aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg aus diesem Zustand zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und auf sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an alldem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.[75]

Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskojeselo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immer das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er schon beinah im Waggon saß, warf er plötzlich das soeben gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: nämlich schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.

Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrscht hatte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Trottoir vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt nun lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen: ob er wirklich soeben, vielleicht vor nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster[76] gestanden habe und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen sei und er irgendeine Verwechslung begangen habe. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befinde, fast in demselben Zustand, der sich ehemals, zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit, bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besondere Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er damals vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte; daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, wo er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden; er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken; »gewiß, sechzig Kopeken; mehr ist er nicht wert!« sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war ein hysterisches; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile[77] vorher, als er Rogoschins Augen auf sich gerichtet fühlte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich mit dem Laden und dem Gegenstand nicht geirrt hatte (wovon er übrigens auch schon vor der Nachprüfung überzeugt gewesen war), interessierte er sich nicht mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich von ihm weg. Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken; jetzt war es ihm klar, daß er auch auf dem Zarskojeseloer Bahnhof nicht nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe zusammenhing. Aber der innerliche unüberwindliche Widerwille gewann wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und schickte sich nicht an, es zu tun; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes. Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann. Diese Sekunde war freilich unerträglich. Wenn er später, nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit, über diesen Augenblick nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses[78] Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte, dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: »Was liegt daran, daß dies Krankheit ist«, sagte er sich, »was liegt daran, daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit sich daran erinnert und es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?« Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet«, und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand kurz bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblick des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: »Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!«, so war dieser[79] Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als die deutliche Folge jener höchsten Augenblicke nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne.

»In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹.1 Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoschin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte der Fürst bei sich.

Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit seiner Denktätigkeit[80] an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte; aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ...

Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf seinen Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig[81] und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wiewohl nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül ...

Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus nicht recht verständlichem Grund fortwährend an Lebedjews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedjew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Schemarin ein lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen; daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner; dies war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen; »aber«, sagte sich der Fürst, »Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.« An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt! Aber eine fremde Seele, das ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoschin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt; aber kannte er Rogoschin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal[82] in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedjewsche Neffe von vorhin! »Aber was mache ich denn?« fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort.

»Ist er es denn etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln ... wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig ... Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedjews älteste Tochter, die, die mit dem Kind auf dem Arm dastand; was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!« Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedjew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher wie zwei mal zwei vier ist, liebt Lebedjew auch seinen Neffen von Herzen!

Warum hat er sich übrigens beikommen lassen, über diese Leute so zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen ist? Wie kann er solche Verdammungsurteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedjew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedjew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedjew früher von dieser Seite gekannt? Lebedjew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoschin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Von einem solchen seelischen Chaos würde bei ihm nicht die Rede sein. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoschin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument ...? »Aber ... ist es denn bereits eine ausgemachte Sache, daß Rogoschin einen Mord begehen wird?« dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und die Röte der Scham ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angenagelt auf dem[83] Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskojeseloer Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoschin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoschins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoschins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoschins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte; und dann dieser Laden und dieser Gegenstand ... was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein; aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.

Und jetzt befand er sich schon in der Peterburgskaja und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder; das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr; in seinem Herzen herrschte eitel Freude! Und ... er hatte »sie« so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen; und ... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoschin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen ... Sein Herz war rein; war er denn etwa Rogoschins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoschin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie[84] Rogoschin vorhin gesagt hat, nur um sie zu sehen, hierher geeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!

Ja, das alles mußte jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vor einer Weile Rogoschins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und und im Hellen vollziehen. War denn Rogoschin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagte, er liebe sie in anderer Weise; er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«; aber damit verleumdet er sich selbst. Hm ...! Rogoschin bei einem Buch ..., ist das nicht schon »Mitleid«, nicht ein Anfang von »Mitleid«? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als eine bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz; es ergreift die ganze Seele; es ... Eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.

Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er zum erstenmal an ihr Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoschin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber ... hat denn Rogoschin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm ...! Rogoschin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Annahme sagen?[85]

(Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)

Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoschin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoschin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese schwer geschädigte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoschin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmen, herzlichen Worte in Moskau nennt ihn Rogoschin schon seinen Bruder, und er ... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen ...! Wie finster hat Rogoschin vorhin gesagt, daß er seinen Glauben verliere! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, er betrachte dieses Bild gern; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoschin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur; er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll ... Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist ... Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin[86] Filisowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.

Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filisowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie angelegentlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filisowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: »Seien Sie unbesorgt; ich weiß Bescheid!« Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filisowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon!

Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch war bei ihm wieder dieses Zittern hervorgerufen, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese »Augen« gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin[87] gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Haus, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht hätte erwartet gehabt! Ja, das waren eben dieselben Augen (und daran, daß es eben dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Waggon der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren auf ihn von hinten her gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoschins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoschin hatte es vorhin abgestritten: »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskojeseloer Bahnhof, als er in den Waggon stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tag, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoschin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen es gewesen seien!« Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert: wenn Rogoschin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoschin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls[88] »dorthin« gehen, zu jenem Haus in der Peterburgskaja, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle, und daß er nicht zu diesem Zweck nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Haus hingezogen; was war nun Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoschin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoschin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskojeseloer Bahnhof hatte er, fast ohne sich verstecken zu wollen, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoschin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Trottoir gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und wie ein Richter, und nicht wie ... Ja, nicht wie wer?

Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, wie wenn er nichts bemerkt hätte, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich wechselseitig angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen »dorthin« zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf der Hälfte des Weges, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoschin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung[89] dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer oder unmöglich zu definieren und darzulegen und mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken, unwiderstehlichen Eindruck macht, der unwillkürlich in eine volle Überzeugung übergeht ...?

Eine Überzeugung wovon? (Oh, wie quälte den Fürsten »das Ungeheuerliche«, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) »Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist!« sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst; »formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!« so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit der Röte der Scham im Gesicht; »mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl!«

Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Peterburgskaja gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoschins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof ... Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, seine eigenen Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse ... »Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein[90] krankes Weib an jede Ahnung!« dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. An eines der Vorkommnisse dieses Tages erinnerte er sich jetzt ganz besonders; aber er tat dies »kaltblütig«, »mit klarem Urteil« und »ohne Beklemmung«. Es fiel ihm plötzlich das Messer ein, das vorhin bei Rogoschin auf dem Tisch gelegen hatte. »Aber warum sollte eigentlich Rogoschin auf seinem Tisch nicht so viele Messer liegen haben, als ihm irgend beliebt?« sagte er, verwundert über sich selbst; und starr vor Staunen erinnerte er sich plötzlich daran, wie er vorhin vor dem Laden des Messerschmiedes stehengeblieben war. »Aber was kann denn da für ein Zusammenhang bestehen!« wollte er ausrufen, sprach aber diesen Gedanken nicht bis zu Ende aus. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz, dicht beim Eingang in den Torweg, festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: durch unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, werden die Menschen gezwungen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. »Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!« sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem plötzlichen Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen; aber ... er blieb von neuem stehen.

In diesem ohnehin schon dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die heraufgezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, wo der Fürst sich dem Haus näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst nach dem kurzen Stehenbleiben sich ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, da, wo es die Treppe hinaufging, einen Menschen. Dieser Mensch[91] schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte schlechterdings nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt habe, und daß dieser Mensch bestimmt Rogoschin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. »Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!« sagte er bei sich mit seltsamer Sicherheit.

Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in dieser Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich hier in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch rege, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.

Die zwei Augen von vorhin, eben dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.[92]

Rogoschins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:

»Parfen, ich kann es nicht glauben ...!«

Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches, inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreis, der sich von selbst seiner Brust entrang, und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.

Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich soweit dabei das Hinstürzen selbst in Frage kommt, ganz plötzlich ein. In dem Augenblick, wo sie eintreten, verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders wird der Blick entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich eben dieser Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß da ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, ein unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Es läßt sich annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen[93] dieses Augenblicks, Rogoschin plötzlich auf dem Fleck erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoschin sah, daß der Fürst von ihm zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er aus voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da eilte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall ins klare zu kommen, spornstreichs nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus.

Infolge der Krämpfe, der Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst zerschlagen habe oder ein Verbrechen vorliege. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten einen kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe.

Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er mit Benutzung der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse zu ihm. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen sei, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions[94] zu. Zufällig hörte er ein Gespräch über einen Anfall mit an, den jemand soeben bekommen habe, stürzte, von einer richtigen Ahnung erfüllt, nach der Stelle hin und erkannte den Fürsten. Sogleich wurden alle erforderlichen Maßregeln ergriffen. Der Fürst wurde in sein Zimmer getragen; obgleich er wieder zu sich gekommen war, dauerte es doch sehr lange, bis er das volle Bewußtsein wiedererlangte. Ein Arzt, der herbeigerufen war, um den verwundeten Kopf zu untersuchen, verordnete ein Wundwasser und erklärte, daß die Verletzungen in keiner Weise gefährlich seien. Als der Fürst (es war darüber schon eine Stunde vergangen) endlich anfing, seine Umgebung ordentlich zu erkennen, schaffte Kolja ihn in einem Wagen aus dem Gasthaus zu Lebedjew. Dieser nahm den Kranken mit großer Freundlichkeit und vielen Verbeugungen auf. Es wurde um seinetwillen auch der Umzug nach dem Landhaus beschleunigt, und am dritten Tag befanden sich alle schon in Pawlowsk.

Fußnoten

1 Offenbarung des Johannes, 10, 6. (A.d.Ü.)


Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Der Idiot. Die großen Romane, Bände 3–5, Frankfurt am Main 1981, Band 4, S. 74-95.
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