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[446] Im Sommer kamen Graf Wolfsberg und seine Schwester mit ihrer Gesellschaftsdame, Fräulein Annette Nullinger, nach Dornach. Beinahe auf dem Fuße folgte ihnen, ohne eingeladen zu sein, ohne sich angesagt zu haben, die kleine Gräfin Felicitas Soltan. Sie kam, um zu fragen, ob Tessin, wie er vor seiner Abreise versprochen, an Gräfin Dolph geschrieben habe, wie es ihm gehe, und besonders – ob er sie grüßen lasse.

Aber noch war kein Brief von ihm eingetroffen, und nur durch Zeitungstelegramme wußte man, daß er auf seinem Posten angelangt und festlich empfangen worden war.

An einem schwülen Sonntagnachmittag hatten sich die Schloßbewohner in einem breiten offenen Zelte am Ufer des Teiches versammelt. Dichtes Buschwerk umgab ihn ringsum, und hinter diesem ragten das hellgrüne malerische Gezweig einzelner Tulpenbäume und aus weiterer Entfernung die dunkeln Gipfel eines Balsamtannenhaines in das gleichförmige, ruhig leuchtende Himmelsblau empor.

Alle im Zelte Anwesenden, Fräulein Nullinger und Hermann junior ausgenommen, rauchten. Annette hatte nach und nach ihren Sessel bis zum Eingang vorgerückt; dennoch schwebte tückischer Tabaksqualm ihr nach und machte sie hüsteln, was Gräfin Dolph unabweislich rügte. Sie saß in der Tiefe des Zeltes in einem ausgefütterten Strandsessel und hatte eine Haube auf, die ungemein an die häusliche Kopfbedeckung der französischen Könige im 15. Jahrhundert erinnerte.

»Nulle«, sprach sie – »Ich heiße Nullinger«, berichtigte das Fräulein, ohne sich umzuwenden.

»Nun denn, Nullinger, zwingen Sie sich doch nicht zu husten – aus purer Affektation.«

Annette zuckte die Achseln und preßte die Flächen ihrer feuchten Hände aneinander; ihre roten aufgeworfenen Lippen hatten das ihnen eigentümlich nervöse Beben.

Fee nickte ihr bedauernd zu und seufzte: »Ach, welche Hitze! Ist es immer so heiß bei Ihnen, Graf Dornach?« Sie wiegte sich in ihrem Schaukelstuhle, hatte die Augen halb geschlossen und ließ wie todmüde die Arme an beiden Seiten ihres schlanken und zierlichen Körpers herabhängen.

Graf Wolfsberg, den zu amüsieren sie sich vorgenommen, war heute ein undankbares Publikum. Er hatte nicht einmal bemerkt,[446] daß sie sein Lieblingskleid angezogen, das weiße, gestickte, mit der rosafarbigen Bébéschleife. Bei Tische, als sie, nur um ihm Spaß zu machen, die heiligsten Geheimnisse ihres Herzens auskramte, von ihren unbezahlten Rechnungen gesprochen, von ihrem Glauben an die Zukunft des Spiritismus als Staatsreligion, von allerlei Skrupeln, die sie sich machte – intim, ganz intim! –, hatte er kaum zugehört. Und nun saß er seit einer Stunde ernst und schweigsam neben ihr, und sie verzweifelte endlich daran, ihn seiner üblen Laune zu entreißen.

Hermann und Maria kannten den Grund seiner Verstimmung. Er war, indes die anderen sich in der Kirche befanden, auf den Friedhof gegangen und hatte Wolfis Grab besucht.

»Wozu? warum tut er solche Sachen, die ihn viel zu sehr angreifen?« hatte Dolph ihrer Nichte geklagt. Auch sie trachtete ihn zu zerstreuen und suchte dabei die wirksamste Unterstützung, die des kleinen Hermann; sie war aber in diesem Augenblick nicht zu haben. Das Knäblein mühte sich gar eifrig, Steinchen, die es gesammelt und auf den Schoß seiner Mutter gelegt hatte, mit ihrer Hilfe ins Wasser zu werfen. Seine Antwort auf die Einladung der Großtante, zu ihr zu kommen, lautete entschieden verneinend, und die aufrichtigste Abneigung sprach aus dem raschen Blicke, den er der alten Frau von unten herauf zuwarf.

Gräfin Dolph machte ihrem Unmut über die Vergeblichkeit der Liebesmüh, die sie seit langem an dieses schöne und entzückende Kind verschwendete, dadurch Luft, daß sie plötzlich von den Unannehmlichkeiten zu sprechen begann, die das Landleben für sie mit sich brächte.

»Etwas Schreckliches zum Beispiel«, sagte sie, »ist die Kontrolle, unter der man mit seinen Kirchenbesuchen steht. Man kann sich keinen einzigen schenken, und ich sag euch, noch ein Hochamt wie das heutige, und ihr könnt mich gleich dabehalten in eurer Familiengruft. Und Sie, Nulle, das bitte ich mir aus, placieren Sie sich am nächsten Sonntag nicht wieder in das Oratorium uns gegenüber. Sie stören mich, Sie rauben mir das bißchen Andacht, das ich noch habe, mit Ihren Ekstasen, vermischt mit Übelkeiten.«

Dieser Ausfall wurde von Fräulein Annette mit ungewohnter Kaltblütigkeit zurückgeschlagen. Wenn eine Andacht durchaus unter der anderen leiden müsse, sagte sie, möge es nur immerhin die minderwertige – die der Gräfin sein.

Fee klatschte ihr Beifall zu und gab ihr die Versicherung, sie sei die gescheiteste Nullinger, die jemals hienieden gewandelt;[447] dann stieg die kleine Frau, von Hermann, der herbeitrat, unterstützt, in den am Ufer befestigten Kahn. Losgemacht durfte er nicht werden. Sie wollte da bleiben, sich schaukeln auf der kühlen Flut und hören, wie sich die Konversation des Grafen Wolfsberg – von weitem macht.

Er ließ sich endlich herbei, ihr einen Scherz zuzurufen, den sie ebenso schlagfertig wie unpassend erwiderte. Der von ihrer Seite munter geführte Kampf, der sich nun zwischen ihnen entspann, wurde durch das Eintreffen des Postpakets unterbrochen.

Maria verteilte die Zeitungen und die Briefe.

»Ist etwas für mich da?« – »Für mich?« fragten Fee und Gräfin Dolph.

»Ja.« Maria schob der letzteren ein großes Schreiben zu.

»Von Tessin«, sprach die Gräfin. »Von Tessin«, wiederholte sie lauter und schwenkte den Brief in der Luft. »Fee, sieh her.«

»Für Fee«, sagte Maria, und Hermann übernahm aus ihrer Hand eine ganze Ladung Modejournale und Zeitschriften, die er in den Kahn reichte.

»Das sind Ihre unbezahlten Rechnungen«, rief Wolfsberg. »Geben Sie acht, Gräfin, Ihr Dampfer versinkt unter der Last.«

Felicitas war beim Nennen des Namens Tessin so rasch aufgesprungen, daß ihr kleines Fahrzeug in bedenkliches Schwanken geriet. Sie sank zurück, schrie und warf sich so ungestüm von einer Seite zur andern, als ob sie es darauf abgesehen hätte, den Kahn umkippen zu machen.

Hermann zog ihn mit der breiten Seite dicht ans Land und sagte, halb lachend, halb verdrießlich: »Ihr Leben ist gerettet, steigen Sie aus.«

Die Übermütige sträubte sich: »Noch nicht! noch nicht! – ich will, daß man Tessin schreibt, ich sei fast ertrunken vor Freud, wie es geheißen hat, daß ein Brief von ihm gekommen ist. Sie sind Zeuge, Fräulein Nullinger, schwören Sie darauf, ich bitte um einen ordentlichen Eid – ich bitte!«

»Ei, ei, Frau Gräfin, einen Spaß mit so heiligen Dingen verstehe ich nicht«, rügte das Fräulein.

»Nicht? – o weh! dann schwören also Sie, Graf Wolfsberg.«

Mechanisch antwortete der Graf: »Ja, ja.« Seine ganze Aufmerksamkeit war von Maria in Anspruch genommen.

Sie hatte einen Brief vor sich hingelegt, einen zweiten Brief von Tessin, noch größer und gewichtiger als der an Gräfin Dolph gerichtete, und war in der Betrachtung der kräftigen, leicht[448] geformten Züge der Aufschrift versunken. In ihrem Gesichte malte sich starres Entsetzen. Wenn diese wenigen Zeilen Tod und Verderben verkündet hätten, sie würde nicht anders auf sie niedergeblickt haben.

Nun schien sie zu fühlen, daß die Augen ihres Vaters auf ihr ruhten, erhob die ihren, sah ihn an – und senkte langsam das Haupt.

Dieses kurze stumme Gespräch zwischen Vater und Tochter wurde von niemandem beobachtet. Gräfin Dolph schwelgte im Genusse der geistvollen Epistel ihres Horace Walpole; Fräulein Nullinger verfolgte teilnehmend das Schauspiel der »Rettung« Fees durch Hermann. Trotz aller Possen, die dessen Heldin trieb, kam es glücklich zum Abschluß.

Hermann trat ins Zelt, blieb hinter dem Sessel Marias stehen, und über ihre Schulter blickend, las er von seinem Platze aus die Adresse des zweiten Briefes Tessins: »Herrn Wolfgang Forster«.

Es entspann sich eine Verhandlung darüber, was mit dem Briefe zu geschehen habe.

»Er ist so dick«, meinte Fee, »es stecken gewiß noch ein paar andere drin, die der Herr Forster hat übergeben sollen. Man muß ihn aufmachen.«

Gräfin Dolph bestätigte: »Man muß ihn aufmachen, natürlich.«

Hermann jedoch erklärte, so gar natürlich käme ihm das nicht vor. »Was sagst du, Maria?« fragte er und strich mit der Hand über ihren Scheitel.

Sie wandte sich, ergriff diese Hand und drückte sie an ihre Lippen. Das war genug, um die heftigste Eifersucht des kleinen Hermann auf den großen zu wecken. Das Kind schrie und strebte zu ihr empor, und sie hob es auf ihre Knie und drückte ihr Gesicht an das seine.

Noch hatte sie ihn, noch hatte sie eine Liebe, deren ganzen Wert sie zu erkennen begann, nachdem sie sich ihrer unwert gemacht – die Liebe des besten Mannes. Noch hatte sie die Achtung aller guten Menschen ... Eine kleine Weile, ein Riß durch die dünne papierne Hülle da auf dem Tische – und alles ist vorbei, und vor ihr öffnet sich die Hölle der Schande.

Ihr Knäblein schlingt die Arme um ihren Hals und sie die ihren um ihn. Doch diese heiligste Umarmung schützt sie nicht. Sie hört nicht das zärtliche Geflüster der süßen Kinderstimme – sie hört eine andre, entsetzliche, die ihr zuruft: Was schauderst[449] du? – doch nicht vor dem, was im Gefolge der Wahrheit kommt, nach der du geschmachtet hast und gelechzt? Da ist sie – begrüße sie. Tu's, Armselige ... Oder war es doch nicht der Betrug, wovor du am bängsten gezittert hast?... Wo ist jetzt dein Abscheu vor ihm?... Noch empfind ich ihn, dachte Maria, küßte das Kind und stellte es auf den Boden.

»Ich bin dafür«, vernahm sie nun – Gräfin Dolph sprach –, »den Brief aufzubrechen, um nachzusehen, ob er nicht wirklich andere enthält, wie Felicitas glaubt. Wenn ja, verteilt man sie, wenn nein, schicken wir dem Freunde morgen seine zwölf Seiten, ›eng und zierlich, ein kleines Manuskript‹, ungelesen, weil wir schon so hyperdiskret sind, zurück. Einverstanden, Hermann?«

»Nein«, lautete die Antwort, »ich öffne keinen Brief, der nicht an mich gerichtet ist.« Er nahm ihn, reichte ihn dem Grafen Wolfsberg und sagte leise zu ihm: »Nimm ihn zu dir, mache mit ihm, was du willst, nur sei nicht mehr die Rede davon. Alles, was Maria an Wolfi erinnert, greift sie furchtbar an. – Es ist drückend heiß hier im Zelt«, setzte er, an seine Frau gewendet, hinzu. »Komm ins Freie, Maria.«

Er nahm ihren Arm, den sie ihm willenlos überließ, und geleitete sie hinweg.

Nach dem Abendessen las Gräfin Dolph der Gesellschaft das Schreiben Tessins ganz meisterhaft vor. Etwas von allem war darin enthalten, Ernst und Scherz, anschauliche Schilderungen von Land und Leuten, ein kräftiger und rührender Ausdruck des Heimwehs, das ihn peinigte.

Fee zog sich, sobald die Lektüre beendet war, in ihre Gemächer zurück. Kurz darauf begab sich auch Gräfin Dolph, von Hermann und Fräulein Nullinger geleitet, zur Ruhe.

Graf Wolfsberg blieb mit seiner Tochter allein.

»Hermann hat immer recht«, sprach er nach einer langen Pause. »Auch mir hat es widerstrebt, den Brief an den unglücklichen Forster zu öffnen. Ich habe ihn Tessin zurückgeschickt.«

»Ich danke dir, Vater«, erwiderte Maria mühsam und stockend. »Ich hätte aber gewünscht, daß Graf Tessin gebeten würde, es bei diesem Versuch, mir Nachricht von sich zu geben, bewenden zu lassen.«

»Das soll geschehen.«

Sie hatten vermieden, einander anzusehen; nun plötzlich begegneten sich ihre Blicke. Eine große Zärtlichkeit, ein großes Mitleid sprach aus dem seinen. Er streckte ihr die Hand entgegen, er wollte reden.[450]

Marias Mund verzog sich schmerzlich, und sie machte eine flehend abwehrende Gebärde.

Sehr lange hielt es Graf Wolfsberg in Dornach nie aus. Die werktätige Barmherzigkeit, auf die seine Tochter sich ganz verlegte, widerstrebte ihm. Es war ihm zu unangenehm, sagte er, an die Enttäuschungen zu denken, die sie erfahren werde, nicht jetzt, nicht in den nächsten Jahren, doch in fünf, in zehn; und nicht durch den Undank, der unausbleiblich sei – Dank erwarte sie ja nicht –, sondern durch die Erkenntnis, daß ihr Bestreben, das materielle und sittliche Elend der Leute zu verringern, nutzlos und in manchen Fällen schädlich gewesen sei. Jedes Bestreben aber, dessen Resultat negativ bleibt, ist ein unvernünftiges und demoralisierendes.

»Diese Leute« – wenn er die Worte sprach, biß er die Zähne zusammen, und Haß und Grausamkeit blitzten aus seinen Augen – »sind faul, heimtückisch, unverbesserlich. Es ist noch jeder gescheitert, der glaubte, im Guten auf sie einwirken zu können. Ich habe ja nicht von Anfang an die Hände in die Taschen gesteckt und zugesehen, wie einer der Dummköpfe nach dem andern zugrunde geht ... Sie haben mich von meiner christlichen Barmherzigkeit kuriert, sie selbst!«

»Weißt du, Vater, warum ihnen das gelang? – Darf ich's sagen?« fragte Maria.

»Nur zu!«

»Weil du sie nicht liebst und sie das fühlen.«

»Wohl mir und ihnen. So bin ich sicher vor einem Girondistenlose und sie vor einer neuen Gelegenheit, zu zeigen, wie sie Liebe vergelten. Laß es gut sein!« kam er dem Einwand zuvor, den sie erheben wollte, »wir zwei werden einander in dieser Sache nicht überzeugen.«

Der Sommer war vorbei; auch Gräfin Dolph und Felicitas hatten Dornach verlassen. Die Zeit verging still und ereignislos. Maria, oft unwohl, erlaubte nicht, daß Rücksicht darauf genommen werde. Sie wußte, daß ihr nur eines frommte: sich selbst vergessen, ihre Leidenskraft stählen, indem sie die Leiden der anderen milderte. »Meine Wohltäter«, nannte sie die Hilfeheischenden. Das Laster, das Unrecht, die Torheit fanden in ihr eine hartnäckige Bekämpferin. Ihrer unerschöpflichen Langmut fehlte es nie an Gelegenheiten, sich zu üben. Und nicht immer war es die Bürde schweren Ungemachs, die mitzutragen sie eingeladen wurde; es befand sich auch sehr leichtes Gepäck darunter und lächerliche, willkürlich aufgehalste Last.[451]

An einer solchen schleppte Lisette und machte unangemessene Ansprüche an die Teilnahme »des Kindes«. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, was Doktor Weise hindere, um sie anzuhalten, sei die Angst vor einem Korbe.

»Er ist ein so zurückgezogener Mann und kommt zu nichts«, vertraute sie ihrer Gebieterin. »Niemand schaut auf ihn. Seine Manschetten sind immer zerdrückt, und den Hemdkragen hat er neulich gar umgekehrt eingeknöpfelt gehabt.«

Außer dem Wunsche, das Recht zu erwerben, für die Manschetten und Hemdkragen Weises zu sorgen, hatte sie noch den sehr großen, »Frau Doktorin« genannt zu werden. Das ewige »Fräulein Lisette«, Fräulein hin und Fräulein her, war ihr schon so zuwider, sie konnte es nicht mehr hören. »Geh, sprich du mit ihm, leg's ihm nah, daß ich ihn nehmen möcht«, mit dieser Bitte schloß sie regelmäßig ihre Herzensergießungen und erhielt jedesmal den Bescheid, daß ihr Wunsch unerfüllbar sei.

So blieb Lisetten am Ende nichts übrig, als eigenmächtig einzugreifen in ihr und des Doktors Geschick. Sie ersuchte ihn eines Morgens, sie mitzunehmen in seinem Wagen, in dem er jetzt täglich zu einem Patienten nach dem nahen Städtchen fuhr; sie habe dort einige Weihnachtseinkäufe zu besorgen.

Weise war dazu bereit: »Es ist mir schmeichelhaft«, sagte er, als Lisette im Pelzmantel und Capuchon neben ihm Platz nahm. »Wo darf ich Sie absetzen?« Dabei lächelte er, aber nicht aus Wohlgefallen an ihrer äußeren Erscheinung, sondern über den Einfall, daß ihm noch nie eine Person vorgekommen sei mit einem so ausgesprochenen Jahrmarktspuppengesicht.

Auch Lisette lächelte. »Denken Sie jetzt schon ans Absetzen? Das ist ja gar nicht schön von Ihnen.« Ihre Oberlippe zog sich in die Höhe, und es kamen kleine Mauszähne zum Vorschein, die sehr gut gepflegt, aber ziemlich abgenützt waren. Sie wurde nach und nach ganz deutlich in ihren Anspielungen und der Zaunpfahl, mit dem sie winkte, keulenartig.

Dem Doktor stiegen, wie er sich selbst gestand, gewisse Apprehensionen auf, und er rückte so weit als möglich von ihr fort.

Sie sah darin eine Aufforderung seiner Gastfreundschaft, sich's recht bequem bei ihm zu machen, lehnte sich zurück und betrachtete sein Profil. Der Rand seines weit hinausragenden Mützenschirms und die Spitze seiner Nase standen in senkrechter Linie. Mund und Kinn hingegen wichen, wie aus Respekt vor dem bedeutenden Gesichtsvorsprung, jäh zurück. Da fand die[452] verwünschte Zaghaftigkeit, mit der Lisette heute einmal fertigwerden wollte, ihren Ausdruck.

Nach einigen einleitenden Reden meinte sie den Streich führen zu dürfen. Sie tat es – der Doktor stellte ihr dieses Zeugnis aus, als er sich von dem erlittenen Angriff erholt hatte – mit hochgradiger Dezenz, indem sie ihn fragte, ob er nie daran gedacht habe, sich zu verändern.

»Doch, doch, vor Jahren einmal«, seufzte er und zog, ohne es zu wollen, die Zügel des lammfrommen Schecken an, der sogleich stehenblieb, sich aber auf den Zuruf: »Allons, Allons!« wieder in Bewegung setzte.

»Und seitdem nicht mehr?... Das ist schad, und dann ist es auch traurig.«

Sie blinzelte schalkhaft zu ihm hinüber, was ihn empörte und beängstigte. Er kam sich so hilflos und ihr preisgegeben vor in unendlicher Einsamkeit. Soweit das Auge reichte, war nichts zu sehen als Schnee und Schnee und nichts Lebendiges wahrzunehmen als der Scheck, einige Krähen und das Frauenzimmer, das ihm »Avancen« machte.

Sie sprach viel, und alles, was sie sagte, war entweder schmeichelhaft für ihn oder für sie, und ihm blieb nichts übrig als entweder: »Das Fräulein sind zu gütig«, zu murmeln oder: »Das Fräulein haben recht.«

»Ein solcher Mann«, sprach sie nun milde, »und hat keinen Herd.«

»Entschuldigen, habe, habe, o einen vorzüglichen, neuester Konstruktion.«

»Einen häuslichen, mein ich. Ein solcher Mann – und hat keine Frau.«

»Oh, bitte, bitte – die habe ich auch.«

Fräulein Lisette neigte sich so rasch zur Seite, daß man es ein Sich-zur-Seite-Werfen hätte nennen können. »Sie – Sie haben – eine Frau?«

»Ja freilich, eine wunderhübsche.«

»Wo?«

»Bei ihren Eltern habe ich sie. Ich habe sie ihren Eltern aufzuheben gegeben.«

»Das heißt«, berichtigte Lisette, der plötzlich alles Zartgefühl abhanden gekommen war, »Sie haben sie fortgejagt?«

»Bitte, bitte!... Eine so undelikate Maßregel ergreift man nicht gegen eine Dame, die man ohnehin unglücklich gemacht hat, indem man ihr etwas höchst Fatales eingeflößt.«[453]

Seine Zuhörerin erschrak tödlich, sie dachte an Gift.

Er aber flüsterte: »Antipatheia.«

»Jesus! was ist denn das?« rief Lisette.

»Ein inkurables und darum so perniziöses Leiden, weil es den Menschen um seine schönste Illusion bringt, um die des freien Willens. – Denken Sie sich eine von den besten Absichten für ihren Eheherrn beseelte Frau, die im Augenblick, in welchem sie dieselben betätigen soll, von der heftigsten Versuchung ergriffen wird, ihm etwas an den Kopf zu werfen ... und derselben nur selten zu widerstehen vermag. – Dabei süßer Empfindungen durchaus nicht unfähig – o nein! wenn es auch dem Betreffenden nicht beschieden war, sie zu wecken, außer – auf Distanz. In je weiterer Entfernung er sich von ihr befand, eine desto hingebendere Gattin wurde sie ihm. So sprach er denn eines Tages zu ihr, indem er sich an einen Dichter lehnte: ›Wie gut wäre es, Carissima, wenn du, um mich mehr zu lieben, dich für immer von mir entferntest!‹ – Sie tat es, und seitdem führen wir die musterhafteste Ehe. Haben vor kurzem brieflich unsere silberne Hochzeit gefeiert.«

Das Fräulein wollte ein etwas spöttisches Bedauern über »diese Gattung von Verhältnis« äußern – der Doktor aber meinte: »Ein Gutes ist jedenfalls dabei: dem Manne, der schon im Besitz einer Frau ist, kann niemand mehr zumuten, eine zu nehmen.«

Lisette machte unerhört alberne Augen und sprach nicht ein Wörtchen mehr. Sie war so vernichtet, daß sie ihre sämtlichen Einkäufe in der Stadt besorgte, ohne zu handeln. Drei Wochen mußten vergehen, ehe sie sich von ihrer Enttäuschung erholen konnte. Dann wurde »das Kind« wieder der Mittelpunkt ihrer Interessen und das angebetete Opfer ihrer engherzigen Liebestyrannei.

Wie am vorigen Jahresschlusse fand sich auch an diesem Gräfin Agathe in Dornach ein. Sie half die Christbäume schmücken für jung und alt, für arm und reich, in der Halle und im Saal.

Dem Entzünden der Lichtlein stand aber sie allein vor.

Maria konnte nicht Zeuge der Freude sein, die vorzubereiten seit Wochen und Wochen ihr hauptsächliches Bemühen gewesen war. In der heiligen Weihnacht gab sie einem zweiten Sohne das Leben. Er war so schmächtig und klein, wie der erste groß und stark gewesen. Mit banger, unausgesprochener Besorgnis sah Hermann seine Mutter an, als er mit ihr an die Wiege des Neugeborenen trat.[454]

»Nein«, sagte sie, »er ist nicht schwach, nur zart. Er wird leben – zu meiner Freude. Das wird der meine sein unter deinen Kindern.« Weich, wie man sie nie gesehen, versenkte sie sich in den Anblick des Knäbleins und hielt die Hand segnend über ihn ausgestreckt. »Er hat schwarze Augen, Hermann, die Augen deines Vaters, und soll Erich heißen wie dein Vater.«

Maria kränkelte lange, sie konnte dieses Kind nicht nähren; sie hatte für dasselbe nicht soviel Liebe wie für das ältere. Sie verlangte nicht nach ihm, widersetzte sich nicht, wenn man es forttrug aus ihrem Zimmer, und es beunruhigte doch niemanden und stellte unerhört geringe Anforderungen an seine Umgebung. Es lag oft lange ganz still mit weit geöffneten Augen.

»Fremde Augen hat's und das Gesicht der Mutter«, entschied die Wärterin, wenn jemand herauszubringen suchte, wem es ähnlich sehe. – Eine Spur von der Seelenpein, die sein Werden begleitet hatte, spiegelte sich wider auf seinem kleinen Angesicht, und traurig staunend schien es zu fragen: So also sieht es aus in eurer Welt?

An Liebe litt es nicht Mangel. Hermann zerfloß vor ihm in überquellendem Erbarmen; alle Frauen im Hause schwärmten für das Kind, das etwas »ganz eigenes« hatte; sein Bruder verteidigte es wie ein kleiner Löwe vor den Ausbrüchen ihrer Zärtlichkeit und brachte es gleich darauf in Gefahr, von dem Ungestüm der seinen erdrückt zu werden.

Der Winter verfloß; Maria blieb müde und erschöpft. Alle herbeigerufenen Ärzte rieten, wie Doktor Weise es längst getan, zu einem Aufenthalt von mehreren Monaten in Italien.

Die Kranke sträubte sich gegen eine Entfernung von daheim, aber zum ersten Male setzte Hermann dem Willen seiner Frau entschiedenen Widerstand entgegen, und sie mußte sich fügen.

Gräfin Agathe kam nach Dornach, um die Kinder in Abwesenheit der Eltern zu betreuen; Hermann und Maria reisten. – Sie hatte schon vor Jahren mit ihrem Vater das Land der Sehnsucht jedes künstlerisch Fühlenden besucht und fand nun im Genusse der Wunder einer märchenhaft reichen Natur und einer Welt, in der »Sterbliche Unsterbliches geschaffen haben«, die Empfindungen ihrer Mädchenzeit wieder. Wie oft atmete sie auf, frei und leicht, und sah ihr eigenes Bild so rein, wie die Seele ihres Mannes es widerspiegelte. Ihre wankende Gesundheit befestigte, ihr erschütterter Mut stählte sich.

Es war krankhaft, dachte sie, zu glauben, die Verirrung eines Augenblicks könne nicht gesühnt werden durch ein ganzes Leben[455] der Rechtschaffenheit und Pflichterfüllung. Fort mit den Gespenstern einer abgeschworenen Vergangenheit. Sie sind die Feinde eines Glückes, das ungetrübt zu erhalten ihre wichtigste Aufgabe war, vor der alles andere zurücktrat, des Glückes Hermanns. Mit hoher Freude erfüllte sie der Anblick der seinen. Ihm aber durchsonnte ihre Heiterkeit die Seele, er lebte von ihrem Leben.

»Wir sind auf unserer Hochzeitsreise«, sagte er.

Die Frau, die Mutter seiner Kinder kam ihm jetzt oft vor wie eine Braut, doch nicht wie die kühle, stolze, die sie einst war – wie eine liebende Braut.

Und da kniete er vor ihr nieder und betete sie an. Einmal rief er aus: »Ich bin zu glücklich, ich verdien es nicht. Ich habe eine Schuld abzutragen, aber statt sie einzufordern, überhäuft mich das Schicksal mit immer neuen Gnadengeschenken.«

»Du hättest eine Schuld abzutragen?« fragte Maria. »Die schwerste – einen Frevel an dir. Ich habe um dich geworben, dein Ja erbettelt, obwohl ich wußte, freudig gibst du es mir nicht. Den ersten Kuß, Geliebteste, hat ein Ungeliebter auf deine Lippen gedrückt. Es war ein Verbrechen an dir – ein unsühnbares.«

Sie schrak zusammen bei diesem Wort. Er nahm ihre Hände zwischen die seinen: »Maria, wann werde ich, wie werde ich dafür bestraft werden?«

»Nie, gar nicht«, stammelte sie verwirrt und drückte ihren Kopf an seine Brust.


Sie kehrten zurück. Es war Abend, als sie ankamen. Die Kinder schliefen. Hermann blies die Wangen auf und hatte die Fäustchen fest geballt. Er war groß und stark geworden, ein Knäblein wie ein junger, kräftiger Baum. – Das kleine unechte Reis, auf den reinen Stamm Dornach gepfropft, Erich, lag in leichtem Schlummer, zuckte und öffnete die Augen, als seine Mutter ihm nahte. Sie war betroffen und befangen von dem geheimnisvollen Reiz, der dieses Kind umwob, wandte sich rasch und trat an das geöffnete Fenster.

Würzige Düfte erfüllten die Luft, melodisch rauschte es in den Bäumen, durchsichtige Schleier breiteten sich über die Wiesen, leichter Rauch lag auf den Höhen.

Weit herüber von der Straße, die zum Dorfe führte, vernahm man den Gesang heimkehrender Feldarbeiterinnen. Nah und näher kamen die Klänge einer schwermütigen slawischen Volksweise.[456] Schon konnte man die letzten Worte des Liedes unterscheiden:


Schönheit, dein Prangen,

Liebe, dein Glück,

Alles vergangen,

Kehrt nicht zurück.

Ewig treu,

Immer neu

Bleibt die Reu,

Bleibt die eisgraue Reu. –

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 2:] Kleine Romane, München 1956–1958, S. 446-457.
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