XIV. Brief

An Amalie

[29] Liebe Freundin! Dein Schiksal ist wirklich wider Dich, und besonders in Rüksicht deiner wirklichen Lage. Schon freute ich mich über deine Ruhe, schon dachte ich, es wird beßer werden, denn sie sind fort von Dem, der sie zu Grunde richten wollte. O Freundin! wie oft täuschen wir Menschen uns doch, und freuen uns über ein Nichts! Das ist gerade der Fall, wenn ich auf Dich zurüksehe; ich möchte Dich so gerne gründlich trösten: aber finde ich wohl hinlänglichen Trost, um Dich zu beruhigen? Ich will thun was mir möglich ist. Wahr ist es, das ungeschliffene Betragen deiner Basen ist und muß für Dich auffallend seyn. Denn deine Bildung und ihre Ungezogenheit sind zu starke Widersprüche, als daß Du dadurch nicht solltest gekränkt werden. Doch was ist zu thun? Aendern wirst und kannst Du sie nicht; dulde sie, so lange es dein Schiksal fodert, beruhige Dich mit einem edlen Stolz, der Dich weit über sie wegsezzen muß. Es giebt Geschöpfe in der Welt, die man nicht einmal einer[29] Verachtung würdiget, und Verachtung ist doch der lezte Grad, mit dem man einen Beleidiger strafen kann. Deine Basen verdienen Mitleid, aber ihre Eltern verdienen Verachtung, denn ihr Betragen ist eine blose Folge ihrer Erziehung. Strafbar sind jene Eltern, die ein so wichtiges Werk versäumen, wovon unser ganzes Leben abhängt; aber noch unglüklicher sind ihre Kinder, wenn sie ein Opfer der dummen Nachläßigkeit ihrer Eltern werden müßen. Dein Vater ist sehr bedaurungswürdig, und ihr armen Kinder seyd es mit ihm. Siehst du, Freundin, daß zu gut nicht gut ist? Ein allzu guter Mensch ohne Ueberlegung gleicht einem trägen Insekte, das sich aus Schlafsucht tretten läßt, ohne seinen Untergang zu fühlen. Nie muß man über Andern sich selbst vergessen. Die Menschheit selbst bürdet uns keine Pflicht auf, wenn sie auf Unkosten unsers eigenen Wohls geht. Es giebt auch blöde Menschen, die man für gut ausgiebt, und im Grunde sind sie es nicht. Ihre Wohlthaten verschwenden sie mehr aus Schwachheit als aus überzeugter Güte. Jede Wohlthat muß ihren Endzwek haben; aber bei solchen Menschen kann sie keinen haben, weil sie sie ohne Vernunft so oft unwürdig verschwenden. Das ist wirklich der Zustand deines Vaters, er macht sich und seine Kinder elend, thut Gutes aus Unbesonnenheit, und nährt das Laster, weil es über seine Schwachheit siegt. Traue auf Den, der die Quelle deines Kummers einsehen muß. Ich bin zu sehr über deinen Gram gerührt, als daß ich Dir mehr sagen könnte. Schreibe mir bald wieder, nie soll es an mir fehlen, Dir ewig zu sagen, daß ich Dich mit Thränen in den Augen heute verlasse. Lebe wohl, Amalie!


Fanny.[30]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 29-31.
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