XIII. Brief

An Fanny

[27] Daß doch meine Ahndungen fast immer eintreffen müßen! Begreife, wenn Du kannst, liebes Mädchen, meinen wirklichen[27] Zustand. Vor wenigen Wochen kam der Bruder meines Vaters mit acht Kindern hier an; mein Vater vergaß bei diesem Anblikke, Folgen und Zukunft, nahm sie auf, und nun ist unser Schiksal gänzlich in des Himmels Händen. Ja, Freundin! wäre auch diese Last unsern ökonomischen Umständen angemessen, so würde doch eine solche pöbelhafte Gesellschaft für mich Zuchthausstrafe seyn. Fünf Mädchen und drei Buben, lauter grobe, boshafte Kinder, die kurzweg Kontraste von meiner Erziehung sind. Kreaturen, die zur Plage andrer guten Menschen in der Gesellschaft herumirren. Geschöpfe, die ohne Grundsäzze erzogen wurden, und im Unflate aufwachsen. Mancher Plage kann man, wenn man sie vorsieht, ausweichen; aber dummen, bösen Menschen, die täglich um uns sind, wie ist es möglich diesen auszuweichen? Ach Fanny! wie bitter ist doch die Jugend deiner Amalie! Mein Leben besteht aus zu manchfaltigem Verdruß, als daß in mir nicht verschiedne Wünsche entstehen sollten. Ich liebe meinen Vater, aber ich würde seine Kniee weit feuriger umfassen, wenn er sich von den Unwürdigen loszureißen suchte; aber sein gutes Herz läßt ihn nicht; geduldig stürzt er sich in sein eigenes Verderben, und ist ungehalten, wenn ihn seine Tochter deswegen ahndet. So ganz von Gram übertäubt fiel mir lezthin ein, weg – weit weg von diesem Hause! – Undankbare! Deinen Vater kannst du verlassen? – Gott kennt mein Herz, es ist nicht Undank; es ist eine volle Seele, die alles dieses nicht länger erträgt. Ueberdenke nur, Freundin! wie gräslich mir alle die Ausschweifungen, alle die unsinnigen Schwärmereien meiner Vettern und Basen auffallen müßen. Keine Ordnung, keine Ehre, keine Tugend läßt sich in der geringsten Handlung blikken. Meinem Vater selbst muß es heimlich über diese zügellose Kinder ekkeln. Unser Haus gleicht einem Zuchthause, in dem man alle Gattungen von Gebrechen antrift; nur bin ich unter diesen Tollen[28] am meisten zu bedauren; denn ich muß das werden aus Gram, was die andern aus Leichtsinn sind. Wahrhaftig, meine Beßte, ich fühle mich ganz am Rande des Trostes. Ich ehre die Vorsicht, aber wenn der Mensch sich selbst gedankenlos stürzt, dann verdient er ja diese Vorsicht nicht. Und was thut denn mein Vater anders, als aus seinen Kindern Elend zögeln? Meinem Oheim zu K*** werde ich schreiben; der soll reden, der muß reden, sonst ist er mein Oheim nicht. Schlafe wohl! Es schlägt zwei Uhr, und noch versagt mir die Natur ihren Zoll.


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 27-29.
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