XII. Brief

An Fanny

[26] Gutes Mädchen! So hat doch nichts eine Dauer. Schon wiederum Auftritte, die mein Vater mit mir durchlebte, und nun laufen Nachrichten ein, die uns schon wieder drohen. Mir scheint es natürlich was man sagt. Stelle Dir nur einen Mann vor, wie sein Bruder ist, der durch üble Kinderzucht alles in Abgrund liefert; einen Mann, der auf der Haut meines Vaters ruhig forttrommelte, und nun fehlt ihm Lezteres; er ist blos sich selbst und der Verschwendung seiner Kinder überlassen. Der Aufwand ist gros, die Stüzze ist weg; also wohin? wo aus? Das mag die Vorsicht wißen, ich nicht. Himmel! wenn dieser Bruder uns samt seinem Anhang wieder – Nein, ich mag es nicht ausdenken! Wie! eine solche Last sollte uns wieder aufs neue drükken? Klein ist jezt unser Aufwand, aber doch hinlänglich. Ja, weis Gott! wenn er größer würde, so wäre bitteres Elend unser Ziel! O Freundin! wir sollten darben? Kennst Du was Grausamers? Es schrekt mich der blose Anblik, wenn ich Andere in solch einer bedaurungswürdigen Lage sehe; wie schwer würde mich erst die Erfahrung selbst drükken! Der[26] Philosoph schränkt seine Wünsche ein, aber was Natur und Gesellschaft fodert, an das wird er sich doch nicht wagen. Seitdem wir Menschen so viele Bedürfniße haben, seitdem sind wir auch unglüklicher. Es ist ja Alles so unregelmäßig ausgetheilt, der Schurke ist reich und der Rechtschaffene arm, und doch reich, aber nur in seinem Herzen. Der Mensch muß dem Interesse nachjagen, weil er dazu gezwungen wird. Meinetwegen möchte man Alles versuchen, um ehrlicher Weise Geld zu gewinnen, wenn nur die Menschen es wieder für andere Menschen verwendeten; aber wer hat mehr Geld als viele Menschen? und wer ist hartherziger als eben diese? Höre doch noch was! Mein Vetter in Mainz schreibt mir vieles artiges Zeugs. Der Lose, wie er meiner Eitelkeit küzzelt! er nennt mich ein erhabnes Mädchen; er schwört mir Liebe, Freundschaft und Treue zu. Was meinst Du wohl? Sind denn die Männer so gutherzig wie wir? Dies Geschlecht ist noch für mich ein Räthsel. Möchte es immer eins bleiben! aber ich zweifle. Mein Gefühl wächst, und ich wünsche mir bald ein solches Unthier. Mein Herz, mein Enthusiasmus, Alles in mir ist zum Lieben geschaffen. Oft, wenn ich einsam bin, fühle ich mich so leer, so öde, überdies so wünschvoll, und Thränen sind gemeiniglich das Ende meiner Schwärmerei. Wie nöthig hätte ich jezt den Rath meiner Mutter! Aber ach! Freundin! – Du mußt sie seyn; nicht wahr, Du willst?


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 26-27.
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