XXXI. Brief

An Fanny

[60] Ueber dein Stillschweigen bin ich weiter nicht böse, und um Dich vollkommen davon zu überzeugen, so fiel mir's gerade jezt ein, an Dich zu schreiben; und zwar eine Neuigkeit, die darinn besteht, daß ich mit nächstem nach A*** abreisen werde. – Ich komme dort in das Haus einer Bekannten, um als Kostgängerin Modearbeiten zu lernen. Mein Vater gab, auf das gütige Ansuchen meines Oheims, seine Einwilligung, weil er einsieht, daß alle Arten Arbeiten für ein Mädchen nöthig sind. – Wie es mir dorten gehen wird und was ich auf der Reise für Bemerkungen machen werde, sollst Du alles hören. Es hat sich hier während dieser Zeit ein junger Laffe an mich gemacht, der mir unausstehlich ist. Nur Schade, daß ihn mein Vater gut leiden kann und er uns unter diesem Vorwande öfters besucht. Ich glaube, mein[60] Vater hätte Lust mir dieses Geschöpf zum Manne anzuhängen. Das wäre entsezlich, wenn ich so einem jungen Springer zu Theil würde! Er stüzt seine Neigung für mich auf das Ansehen meines Vaters und wird dabei den Kürzern ziehen, denn in meinen Herzensangelegenheiten kenne ich keinen Zwang. Dieser Mensch hat mir seit mei nem Hierseyn schon manche bittere Stunde gemacht; ich würde mich darüber ärgern, wenn mich nicht der Umgang meines Vetters aus Mainz dafür schadlos hielte. Erinnerst Du Dich noch, was ich Dir einmal alles für gute Sachen von diesem Jungen sagte? – Er war immer mein Liebling und hat sich auf der Universität treflich gehalten. Wir bewohnen einen der schönsten Gärten in unserer Gegend, und oft schleichen wir beide zusammen ganz Gefühl mit einem Buch in dem Garten herum. – Er ist noch weit romanenmäßger als ich, und wären wir beide nicht so nahe verwandt, so gäbe es aus uns ein nettes Pärchen. Der Junge liest so reizend vor, und empfindet so vieles dabei, daß ich ihm mit der größten Wollust manche liebe Stunde zuhöre. Auch sind seine Gefühle so harmonisch mit den meinigen, er fühlt alles so heftig, und wird leider mit seinem Herzen eben so wenig glüklich werden als ich! – Er ist sehr traurig über meine baldige Abreise. Auch meine Schwester ist durch seine Leitung ein artiges Mädchen geworden, nur Schade, daß sie noch so jung ist. O, Freundin, könnt ich doch das Glük dieser Lieben machen! – Sie darben nicht, aber wenn mein Vater sterben sollte, dann weh den Hinterlassenen! – Diesmal verlaß ich meine Familie mit schwerem Herzen. Gott soll meine Ahndung nicht übel ausschlagen lassen! – Ich küße Dich herzlich und bin wie allezeit


Deine Amalie.[61]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 60-62.
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