XXXVI. Brief

An Amalie

[73] Mich freut es außerordentlich, liebe Amalie, daß Du Dich bei so redlichen Leuten befindest. – Laß dem Alter immer seine Gewohnheiten, dafür sind wir jung um diese Schwachheiten zu ertragen. – Du warst also in dem Schauspiele? – Will es gerne glauben, daß es deinen Sinnen auffiel. Du hast ja ohnehin Ueberfluß an Gefühl, ein unverdorbenes Herz, und Sinnen, die reizbar sind. Und nichts bringt diese Sinnen mehr in Gährung, als eben das Schauspiel. – Es ist der Weg zur Bildung für junge Leute, wenn es nicht von einer falschen Seite genommen wird, aber auch zur Ausschweifung. – Uebrigens hast Du ganz Recht, meine Freundin, Armuth und Noth sind die herrschenden Leiden in dieser Welt, und es wird so wenig über diese zween Gegenstände[73] nachgedacht, daß es unglaublich scheint, wenn so viele Elende, Verlaßne, ohne bemerkt zu werden, heimlich ihr Grab finden! Der überflüßige Aufwand ist nun einmal eingeführt, wer ihn nicht bestreiten kann und der Tugend getreu bleiben will, wird verspottet, verachtet und verhönt. – Kein Wunder, wenn sich so viele Schwache an der Armuth zu rächen suchen und nur zu oft auf Irrwegen nach Hülfe schnappen. Der einzige Trost, der einem Armen übrig bleibt, ist Religion; diese allmächtige Mutter kann Stärke, kann Seelenkraft geben, und wo diese nicht ist, tritt Ausschweifung und Verzweiflung an ihre Stelle. – Was könnte sonst den darbenden Armen vom Selbstmord abhalten, wenn er nicht auf eine bessere Belohnung hoffen dürfte? Er müßte gegen die Vorsicht murren, statt, daß er sie im Herzen segnet; er müßte über sein Leben bitter eifern, wenn er nicht eine Seele hätte, die auf dauerhaftere Glükseligkeit Ansprüche machen könnte. – Religion macht den Armen duldsam, den Elenden standhaft, den Verfolgten erhaben, den Gekränkten stark, den Verlassenen muthig, überall hofft der Unglükliche von seinem Schöpfer Hülfe. – Er überläßt sich der Vorsicht, und grübelt nicht über ihre herrlichen Fügungen nach, weil er sie verehrt. Daß es nun in der Welt so wenig Menschenfreunde giebt, ist auch wieder Mangel an Religion. Liebe Gott und deinen Nächsten, sind Worte, die man der katholischen Jugend zu wenig ins Herz schreibt. Ueberflüßige Bigotterie, sinnloses Gebet, Frazzereien, damit wird ein junges Herz angefüllt. – Liebe, Gefühle und Duldung für seine unglüklichen Mitgeschöpfe wird es nicht gelehrt. Daher so viele Afterchristen, die ihre Religion zum Handwerk machen, und grausame Unthiere statt liebender Brüder werden. Wie kann der Mensch in seinen alten Tagen menschlich handeln, wenn er in seiner Jugend nicht hat fühlen gelernt? – Wie kann er Mitleid empfinden, wenn er nicht gelernt hat,[74] seine Brüder zu lieben? – Wie kann die Stimme der Religion auf ihn Eindruk machen, wenn er nicht durch sie überzeugt wird, daß wir alle Brüder und Schwestern sind? – Auch der niedrigste Pöbel hat wenigstens ein Fünkchen Gefühl für seinen Mitmenschen im Herzen, wenn es durch die Lehrer der Religion erhalten, statt erstikt wird. – Aber Unmenschlichkeit, Menschenhaß, Höllenfluch, ist meistens die Sprache der bigottischen Lehrart; ihr Eigensinn, ihre Dummheit macht der Natur Schande, die uns doch alle für einander schuf. Ist es nicht ein häßliches Vorurtheil, daß man den gemeinen Katholiken das Lesen so vieler vortreflichen Bücher verbietet, oder seine Leichtgläubigkeit durch Sündenfurcht abschrökt? – Wenn der Mensch fühlen will, so muß er zuerst denken lernen, und wie kann der gemeine Mann bei den Katholiken über die Pflichten der Religion und Menschenliebe denken, wenn er so selten durch ein gutes Buch, durch eine vernünftige Predigt, oder durch die sanfte Anweisung seines Seelsorgers dazu geleitet wird? – Gebt dem gemeinen Manne so viel Aufklärung, als er nöthig hat, und er wird ein gutherzigerer Mensch und ein besserer Christ werden. – – Aber nun, meine Beßte, will ich dir das Uebrige deines Briefs beantworten: Du hast Recht, meine Freundin, die Großen der Erde könnten alles, was unter ihrer Obsicht steht, vor Mangel schüzzen, wenn sie nur wollten, oder wenn sich ihre Vertrauten weniger in der Wollust herumwälzten, damit es ihnen zu dergleichen rühmlichen Projekten nicht an Zeit fehlte. – Den großen Schwarm von Freudenmädchen zu vertilgen, stünde blos in der Gewalt der Großen, weil durch ihre Schuld so viele tausend Menschen vom Tode hingerafft werden, und durch deren Abschaffung oder Verminderung diesem Uebel gesteuert würde. – Wenn man die häufigen Opfer in mehreren Städten Deutschlands bedenkt, die an Lustseuchen elend dahin sterben, so[75] möchte man bis zu Thränen gerührt werden! – Dein Vorschlag, meine Liebe, Fabrikken zu errichten, könnte für die Zügellosigkeit unseres Zeitalters trefliche Dienste thun, wenn sich die Großen der Erde mit Ernst darein mischen wollten. Doch müßten diese Häuser mit den mildesten, vernünftigsten Gesezzen geziert werden, damit Vernunft und Religion, durch anständige Freiheiten, die man diesen Mädchen zukommen lies, über sie den Sieg erhielten, der vielleicht noch bei vielen zu finden wäre, die aus Armuth und Verführung zum Lasterleben hingerissen wurden. Man dürfte nur die Verfertigung und den Verkauf der Puzwaaren außerhalb diesen Fabrikken verbieten, und es würden dadurch die Einkünften hinlänglich genug, alle Mädchen nach ihrem Stande zu nähren, zu kleiden und zu beschäftigen. – Die Mädchen müßten nach Maaßgabe ihrer Aufführung Freiheit genießen. – Den vernünftigen Aufseherinnen stünde es dann zu, die Mädchen zu untersuchen, ob mit Sanftmuth, oder mit Gewalt mehr auszurichten wäre? Die, welche Troz aller Ermahnungen die Stimme der Ehre überhörten, müßten dann einer schärfern Züchtigung übergeben werden. – Fremde und Einheimische könnten in einem solchen Hause zu einer Besserung ihres Schiksals gelangen. O, meine Beßte! – Welch eine Wonne wäre es für uns, wenn diese unsere gute Meinung in die Hände eines Menschenfreundes fielen, und irgend einem Großen der Erde zum Wohl der Menschheit übergeben würden. Lebe wohl, meine Liebe! – –


Deine Fanny.[76]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 73-77.
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