XXXV. Brief

An Fanny

[70] Traute, liebe Freundin! – Ich habe Dir in meinem lezten Briefe vieles von meiner zurükgelegten Reise vorgeplaudert, daß ich Dir gar nichts in Rüksicht des Hauses, darinn ich mich gegenwärtig aufhalte, sagen konnte. Die Familie, bei der ich wohne, besteht aus Vater, Mutter und einer erwachsenen Tochter. Von dem Karakter der beiden Alten läßt sich eben nicht viel Gutes, aber auch nicht viel Böses sagen. Sie folgen beide dem gewöhnlichen Schlendrian alter Leute, der in Andächtelei und pedantischer Moral besteht. Die Tochter aber lebt schon auf einem aufgeklärteren Fuß, und liebt mich eben so herzlich als ich sie. Wir schäkkern und lesen oft zusammen und schwazzen überdies von unsern kleinen Liebeshistörchen. Lezthin erlaubte uns Frau Mama, nach vielen Bitten, das Schauspielhaus zu besuchen. Für mich war's ganz was Neues; denn in meinem Leben hatte ich noch kein Schauspiel gesehen. Wie stark aber dieses erste auf meine Nerven wirkte, kann ich Dir nicht sagen. – – Ich weinte... staunte... fühlte... und das Bild der Liebe, das darinn erschien, riß mich bis zum Entzükken hin! – Ich habe die Tage meines Lebens keine Unterhaltung gefunden, die für mich mehr zur Leidenschaft werden könnte, als eben diese. Als wir beiden Mädchen wieder zu Hause waren, sprach ich den ganzen Abend durch kein Wort, aß nichts, und träumte unaufhörlich von dem, was ich gesehen hatte. Die Vorstellung war ein Trauerspiel, Romeo und Julie genannt. Ob die Schauspieler gut spielten, kann ich Dir nicht sagen, weil meine Kenntnis in diesem Fache noch klein ist. Aber so viel weis ich, daß mir die Liebe des guten, liebevollen Romeo äußerst ins Herz[70] drang, und daß ich vollkommen das ängstliche, ungeduldige Sehnen und Warten der Julie mitfühlte, wenn sie voll Liebe und Wollust, voll Furcht und Zärtlichkeit, bange nach ihrem Geliebten seufzt! – Unter so vielen unangenehmen Dingen, denen die Menschen unterworfen sind, deucht mich für einen feurig, ungeduldig wünschenden Kopf das Warten das allergrausamste. Wie schröklich mag es wohl erst für Verliebte seyn, wenn furchtsame Phantasien ihre Augenblikke zu Jahrhunderten schaffen! Ich muß jezt von dem Artikel der Liebe abbrechen, sonst würde er zu sehr auf mein Herz wirken; und nun zu einigen Stellen deines Briefs gerükt! Deine Aeußerung, daß die Noth so viel Unheil unter den Menschen stiftet, erfüllte mich mit Traurigkeit. Bald hätte ich Lust mit Dir die Einrichtungen in der Welt zu verwünschen, welche die Menschen aus Eigennuz erfunden haben. Die Natur fodert doch so wenig, und giebt uns alles, was wir am nöthigsten brauchen. Hätte sich nicht Politik und Herrschsucht unter uns eingeschlichen, so wüßte man nichts vom Reichthum, nichts vom Vorzug, nichts von überflüßigen Wünschen; aber so müßen die Menschen gleichsam in einer Kette durcheinander geschlungen leben, wovon dem einen ein großes Stük, dem andern aber gar nichts zu Theil wird. – Und hat denn der Arme, der vom gleichen Stoff, wie der Reiche, geschaffen ist, nicht Ursache sich zu beklagen? – Was kann er dafür, daß ihm seine Eltern in einem Augenblikke des Vergnügens sein Daseyn gaben, um ihn durch unverdiente Armuth von dem Schiksale martern zu lassen. Unsere Geburt ist unwillkührlich, und die Last unserer Schiksale drükt uns so oft unschuldig, aber desto schröklicher! – Ich will gerne glauben, Freundin, daß es Dummköpfe giebt, die das heimliche Elend so vieler Menschen nicht kennen. Ueberfluß macht den Reichen faul, gedankenlos und hart. Wenn die lüsternen Wünsche des Reichen befriedigt sind, dann wird er[71] schläfrig, unthätig, auch ist die Vernunft und das Gefühl da am wenigsten zu Hause, wo Taumel von aller Art Wollust herrscht. – Fast gar keine Reiche giebt es, die mitten im Wohlleben der Menschheit eine Thräne zollen. Du hast, meine Liebe, das Bild eines Menschenfreundes so vortreflich entworfen, daß sich selbst der Schöpfer darüber freuen müßte, wenn er Viele unter seinen Geschaffenen fände, die diesem Bilde glichen! – Auch muß die Wollust, die der Menschenfreund nach einer schönen That empfindet, die größte Seligkeit seyn. – Kein Andenken in der Welt gräbt sich tiefer ins fühlende Herz, als Menschenfreundlichkeit und die Erinnerung an eine gute Handlung; alle übrigen wezt die Zeit aus, aber der Gedanke, einen Elenden unterstüzt zu haben, bleibt ewig, und muß dem Wohlthätigen in seiner lezten Todesstunde Vorgeschmak des Himmels seyn! – Die Thränen des Danks... Die Freude eines Geretteten... Die Verlängerung seines Lebens... sind lauter Lorbeeren, die sich der Menschenfreund um sein Haupt sammelt, die seine Todesstunde versüßen und ihn triumphirend zum gerechten Richter führen! Wie viele Laster kann der Menschenfreund verhindern, die oft von Generation zu Generation erblich sind, wenn Armuth die Quelle davon war. Den Großen der Erde und ihren Vertrauten käme es zu, in ihren Städten jeden Stand in Klassen einzutheilen, und Alles, was darinn lebt und webt, durch vernünftige Anstalten so viel möglich vor Mangel zu schüzzen. Warum richtet man nicht für so viele müßige Freudenmädchen eine Art von Fabrikke auf, wo jede ihrem Stand angemessene Beschäftigung bekäme? – Dirnen, die aller Besserung unfähig wären, wärfe man, nach allen nur möglichen vorhergegangenen Versuchen, an den Ort, der für öffentliche Bedürfnisse privilegirt wäre. – Dann bekäme doch das Laster lauter freiwillige Auswürflinge und keine Unschuld mehr durch Armuth verführt zum[72] Raub! – Ueberhaupt, um bessere Grundsäzze der Jugend einzuflößen, als sie oft bei ihren nichtswürdigen Eltern bekommen, wäre ein allgemeines Erziehungshaus für arme Kinder der zuträglichste Ort, von dem unsere Nachkömmlinge bessere Sitten zu hoffen hätten. Wider den Willen der Eltern hätten die Großen das Recht, nach befundener übler Erziehung und Armuth, für das Wohl der Jugend zu sorgen und sie in besagtes Haus aufzunehmen. Gewalt zum Guten hat jeder regierende Herr. – Wenn von der Erziehung nicht so viel geschrieben und mehr ausgeführt würde, so bekäme die Menschheit eine ganz andere Wendung. Denn in der Erziehung liegt Glük oder Verderben. – So ungefähr, meine Freundin, denke ich mir die Sachen. – Lebe wohl, meine Beßte! –


Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 70-73.
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