XXXIV. Brief

An Amalie

[66] Mädchen, grüble mir nicht schon wieder in die Zukunft hinein! – Daß Du zu einem abwechselnden Schiksale bestimmt bist, glaube ich selbst; dafür hat Dir aber auch der Schöpfer Geist und Talente gegeben, nun kömmts auch viel auf Dich an, guten Gebrauch davon zu machen. Du hast völlig Recht, daß die ökonomischen Umstände den Menschen in der Welt manchmal zum Unthiere machen. Denn man sagt gewöhnlich: Noth hat keine Gesezze; und der größte Philosoph ist ein elender Wurm, wenn ihn hungert. Mäßig essen und uns standsmäßig kleiden, das müßen wir, wenn aber uns[66] alles das Troz unserer Bemühung versagt wird? – Nicht wahr, dann fallen wir Menschen in die rohe Natur zurük, suchen, wo wir finden, um unsere Bedürfniße zu befriedigen, die wir unwillkührlich an uns haben? – Es giebt nun eine Menge dummdenkender Köpfe, die weder die Welt, noch ihre Zufälle, und am allerwenigsten das heimlich dringende Elend mancher Unglüklichen kennen. Diese Strohköpfe behaupten, es dürfe kein Mensch verhungern, wenn er nur arbeiten wolle. – Der Bettler verhungert auch nicht, wenn er nur täglich seine Kapuzinersuppe genießt. Aber giebt es nicht noch tausend andere Klassen von Menschen, denen sogar diese armselige Suppe versagt ist? – Giebt es nicht Winkel der Erde, wo Schande, Gefühl, Mangel und Verzweiflung an den Herzen der Nothleidenden nagt? – Findet man nicht oft in den finstersten Löchern arme Familien aufs Stroh hingestrekt, die von ihrem Kummer sich nähren, ihren Durst mit eignen Thränen stillen, und dem Zufall fluchen, daß er seine Reichthümer blos an hartherzige Teufel verschwendet hat? – Keine Tugend ist seltener als Menschenfreundlichkeit, und keine wird so wenig geübt, als eben diese. Der Reiche pralt mit diesem herrlichsten Gefühle der Schöpfung, und kennt es nicht, will es nicht kennen, oder wendet dieses Gefühl gerade nicht da an, wo er dazu aufgefodert wird. Der wahre Menschenfreund muß geizig jeden Anlaß suchen, die Thränen der Nothleidenden zu stillen; er muß Gefühl, gutes Herz, Menschenkenntnis besizzen, er muß vom Vorurtheil frei, ohne Rüksicht auf Stand oder Person, das Elend oder die gekränkte Ehre untersuchen, er muß sich vor der ganzen Welt nicht schämen einen zerfezten Elenden an seinem Arm zu führen, wenn er in ihm das gelungene Meisterstük der Schöpfung entdekt hat. – Er muß stolz auf eine solche Handlung seyn, weil sie ihn vom gemeinen Trosse wie einen Gott unterscheidet. Er muß selbst dem Spötter[67] kaltblütig den Rükken zeigen, und sich größer dünken als der tapferste Krieger, der sich durch seine Mordsucht adelt. Er muß im vollen Verstand gut gegen sein Mitgeschöpf seyn und das nur für Zufall ansehen, daß er reicher als sein Nebenmensch ist; auch muß er seine Wohlthaten bescheiden und mit der feinsten, sanftesten Kunst austheilen, sonst martert er das fühlende Herz eines Unglüklichen weit ärger, als ihn der langsam verzehrende Mangel mordete! – Elend ohne Zeugen ist für den Denkenden schwer, aber Elend mit Zeugen ist noch schwerer, besonders für Den, der nicht Vernunft genug hat, sich auch in der Armuth erhaben zu fühlen und den übel ausgetheilten Durcheinander für weiter nichts als Kaos anzusehen. Wenn Du länger in der Welt lebst, meine Liebe, wirst Du noch viele solche dürftige Geschöpfe finden, die aus Mangel an Nahrung mit ihrem Körper Gewerb treiben müßen, doch giebt es mehrere dergleichen Mädchen, die aus Liebe zum Puz, aus Hang zum Wohlleben, aus Gewohnheit und Uebertäubung, aus Faulheit und Unverschämtheit, aus Mangel an richtigem Gefühl und Erziehung, sich im Lasterleben fortwälzen, bis zu gewissen einsamen Stunden, wo der Ekkel der Natur in diesen Elenden aufwacht und ihr Inneres weit ärger martert, weit ärger zerreißt, als Reue über ihre Sünden, deren sie aus Verzweiflung, aus Abscheu gegen sich selbst, keiner mehr fähig sind! – So ungefähr kömmt mir der Zustand die ser Bedaurungswürdigen vor. Denn, wenn weder Gesez noch Religion wäre, so liegt doch wider ein solches Leben etwas Schauderndes in der Natur! – Woher käme sonst die Verachtung, der Abscheu, die Scham, der Ekkel eines abgekühlten Wollüstlings gegen so eine Verworfene? – Ich habe mehr als einmal das Geständnis der größten Weichlinge mit Erstaunen angehört, die mich versicherten, daß der bitterste Haß auf den Genuß folge, und daß der erste Augenblik[68] von Ueberlegung ein bitterer Fluch über sich und die Gehülfin ihrer Ausschweifungen seye! – Was ist nun dieses Erwachen anders, als Scham über sich selbst? – Was ist es anders, als Eingeständnis des Lasters und Meineids an der Liebe? – Was ist es anders, als ein übelverschwendeter Instinkt, der einem jeden ohne Herz, ohne reine Liebe, ohne Empfindung, ohne Dank erwiedert wird. Muß sich da nicht bei kaltem Blute der Stolz eines jeden sich fühlenden Mannes empören, daß er seine Triebe mit so etwas Allgemeinem beschmuzte? – Ist sein eigener Werth nicht dadurch sehr erniedrigt? – Ein Mann, der denkt, opfert seine Triebe einer Herzensfreundin und der Liebe. – Mich deucht, nur Männer, die sich unwürdig fühlen wahrhaft geliebt zu werden, können Schritte thun, wovor sie sich selbst im Innern schämen müßen. – Genug hievon! – Nun zu deiner Steknadelanekdote: Du bist wahrlich eine tapfere Heldin! – Glaube mir, Mädchen, wenn sich alle bösen Buben durch Steknadeln zurükschrökken ließen, so würden ihrer eine Menge mit blutenden Händen umherlaufen. Der Einfall war indessen launigt und fein ausgedacht, nur glaub ich nicht, daß Du immerfort bei jedem Angriffe mit Steknadeln bei der Hand seyn wirst. Daß Stürmer Dir nichts abgewinnen, das weis ich schon lange, aber um desto gefährlicher sind deinem empfindsamen Herzen die sanften Männer. Nimm Dich in Acht, Malchen, und schlafe mir ja nicht so leicht ein, wenn Du wieder an die Seite eines solchen Nachbars zu sizzen kömmst! Die Männer lauren immerfort, und heucheln sich zuerst in unser Zutrauen, damit sie hernach mit einem unwiderstehlichen Feuer uns um desto sicherer überraschen können. Heute deucht mich genug geplaudert zu haben. Lebe wohl, Beßte! –


Deine Fanny.[69]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 66-70.
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