CXIII. Brief

An Fanny

[114] Ich habe Dir mit Vorbedacht schon einige Wochen nicht mehr geschrieben, um Dir doch etwas mehreres von meinem Schiksal berichten zu können. – Glaubst Du wohl, daß es mir hier mit einer Gouvernantenstelle gar nicht glükken will? – Troz aller Mühe, nebst den beßten Empfehlungen werde ich überall abgewiesen. – Der einen Dame bin ich zu jung, der andern zu teutsch, der dritten zu lebhaft, der vierten zu belesen, u.s.w. O! was ich mich über diese adelichen Dummköpfe ärgerte! – Ich gehe izt ganz von dem Gedanken ab, je wieder solche Dienste zu suchen, wo man so sehr mit Weiberdummheit zu kämpfen hat. – Und was meinst Du wohl, was für einen Stand ich izt wählen will und wählen muß, aus dringender Noth wählen muß! – Erschrekke nicht bei dem Wort Theater; habe Mitleiden mit mir, und urtheile ohne Vorurtheil. – Du kennst meine gute Anlage so wie meinen leidenschaftlichen Hang zu dieser Kunst. – Nun kömmt gar das Schiksal noch dazu; wie kann ich also in einer solchen Lage anders? – Mich Jemanden anzuvertrauen, wäre für mich zu bitter. – Ich muß, meine Fanny, ich muß; mir bleibt sonst nichts übrig, als die äußerste Dürftigkeit. – Sey versichert, daß es meinem Herzen nicht schaden soll. – Es ist freilich ein Plaz, wo jeder gute Karakter Gefahr läuft verdorben zu werden: – aber bei meinen festen Grundsäzzen[114] darf ich es kühn wagen. Der Anblik so vieler Ausschweifungen wird mich noch mehr zum Denken leiten; und Denken ist der sicherste Weg zur dauerhaften Rechtschaffenheit. Täglich erwarte ich die Erlaubnis meines Oheims zu diesem Schritte. – Er ist ein Mann ohne Vorurtheil, und so schwer es ihm auch ankömmt, so wird er es doch bei diesen dringenden Umständen zugeben. – Auch dein Gutdünken erwartet


Deine beßte Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 114-115.
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