CXII. Brief

An Fanny

[113] Theure Herzens-Freundin! –


So bin ich denn wieder auf einmal deinen liebevollen Armen entrissen! – Wie kurz dauerte dieser entzükkende Traum; und wie viel Wonne genoß ich doch in diesen wenigen Tagen an deinem Busen! – Sag deinem Karl alles Schöne von mir... O es ist ein vortreflicher Junge, ganz deines Herzens würdig! – Gäbe doch der Himmel euch beiden bessere Aussichten, so wäre auch mein ungewisses Schiksal gehoben. – Wien gefällt mir recht wohl; nur wird mein hiesiger Aufenthalt durch ökonomischen Kummer getrübt. – Meine Ahndung ist erfüllt! – Lies hier den Brief meines Oheims. –


Liebste Nichte!


Mein Vaterherz möchte zerspringen, wenn ich die Umstände überdenke, die mich außer Stand sezzen, dich fernerhin zu unterstüzzen. Die hinterlassenen Schulden deines Mannes sezzen mich täglich mehr in Verlegenheit. Sie dringen auf Bezahlung und da ich Bürgschaft leistete, so kann ich ohne mein Ansehen zu verlezzen, sie zu keiner Geduld mehr verweisen. – Du weißt, daß die Summe groß ist, und ich werde mich lange einschränken müßen, um sie wieder einzubringen. – Fasse dich, meine Liebe, und suche irgendwo als Gouvernantin unterzukommen. – Hier und da werde ich trachten, dir noch kleine Unterstüzzungen zufließen zu lassen, aber deine Bedürfnisse standsmäßig zu bestreiten, steht leider nicht mehr in meiner Gewalt, so sehr ich es auch mit meinem gefühlvollen Herzen wünsche!


Dein beßtgeneigter Oheim,

.....
[113]

Siehst Du, meine Freundin, wie das Schiksal mich Schlag auf Schlag verfolgt? – O, meine Fanny, der Kummer preßt mich heute zu sehr, um Dir mehr sagen zu können, als daß ich mit Schwesterliebe bin


Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 113-114.
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