XCIX. Brief

An Amalie

[67] Meine theuerste Amalie! –


Ich durchlas deine Reisebeschreibung mit innigem Vergnügen, und freute mich herzlich über deine muntere Laune, die mir wieder für die Herstellung deiner Gesundheit bürgte. – Du bleibst doch immer das alte feurige Mädchen, das überall geschäzt werden muß. – Aber weißt Du auch, daß Du dabei eine recht lose Schäkkerin bist, die ihre Anmerkungen in den launigsten Wiz einzukleiden weis? – Hätten die Nonnen nur die Oberfläche deiner Grundsäzze gekannt, ich wette, sie würden Dich nicht mit ihren gesegneten Gaukeleien beladen haben. – O Aberglaube, der du die Menschen so verfinsterst, verrükke doch die armen Nonnen nicht weiter; – und du ehrwürdige gesunde Vernunft, sey ihren fantastischen Köpfen gnädig! – Laß ihre schwache Leichtgläubigkeit nicht ferner durch schmarozzerische Mönche anfachen. Ist es möglich, daß die wahre Religion in ihrer schönen natürlichen Gestalt durch solche Possen so tief kann heruntergesezt werden? – Ihr bonzischen Mörder der gesunden Vernunft, jagt dem schwachen Volke Furcht und Angst ein, blos um euere Bäuche zu mästen! – Gesegnet sey Kaiser[67] Joseph, der in seinem Lande auf einmal diesem Puppenspiel ein Ende machte! – Doch izt vorwärts zu der Geschichte deines jüngern Reisegesellschafters: Jeder Reisende (dachte ich bei dieser Geschichte) muß im Postwagen Augen, Ohren, Herz und Börse wohl in Acht nehmen, wenn er nicht betrogen seyn will, denn fast immer sind die Postwägen von dergleichen Rittern und Ritterinnen angefüllt, die darauf Jagd machen; – indessen ist es (die Unbequemlichkeit weggerechnet) im Postwagen äußerst unterhaltend zu reisen. Die Verschiedenheit der Gesellschaft unterhält den denkenden Kopf, und nirgends wird lebhafter raisonnirt und mehr geschäkkert, als in den Postwägen. Madame Neugierde ist da die Beherrscherin aller Herzen. – So viel über diesen Punkt! – Aber nur Geduld, Leichtsinnige, nur Geduld! Der Pater Guardian wird sich einst schon an Dir rächen! Mache Dir ja auf die ganze Zeit deines Lebens auf keinen Kapuzinersegen Rechnung; hörst Du! – Was? – Du hattest die Kühnheit über seine dikke Unwissenheit zu spotten? – Warte nur, böses Weibchen, der rachsüchtige Bonze wird Dich bald behexen, und nicht enthexen, so sehr hast Du seine hochwürdige Dummheit angegriffen! Aber nun laß uns auch ein Bischen von dem italienischen Wirth schwazzen: Recht gethan! – recht gethan, daß Du ihn aus dem Zimmer jagtest! Ehrengefühl ziert das Weib eben so schön, als den Mann. – Glaub's wohl, daß deine Alte über diesen Auftritt die Augen verzerrte, denn unser Geschlecht hat zu wenig gelernt die Tugend außer den Mauern ohne Affektation zu behaupten. – Suche Dir die Alte vom Halse zu schaffen, sie taugt für deine Denkungsart eben so wenig, als jene saubere Kaffeehausgesellschaft. – Siehst Du nun, meine Liebe, wie es in der großen Welt drunter und drüber zugeht? – Wenn junge Leute noch unverdorben in solche Versammlungen eintretten, wie leicht können sie dann an solchen Orten durchs üble Beispiel ihre Unverdorbenheit[68] verlieren! – Aber um Gotteswillen, meine Liebe! hüte Dich in Venedig, daß Dir deine Aufrichtigkeit nicht etwa Verdrüßlichkeiten zuziehet! – Laß ja kein Wörtchen wider den Staat fahren, sonst bist Du ohne Rettung verloren! – Auch sind die Italiener verschmizte Bursche, die einer Teutschen mit leidenschaftlicher Hizze nachzustellen wissen, um sie ins Garn zu lokken. – So unverschämt und zudringlich die Männer in Venedig sich aufführen, eben so tollkühn treiben es die Weiber mit teutschen Jünglingen: ihr hizziges Naturel macht sie zu jedem Laster fähig. Gott segne Dich und wache über Dich, meine Amalie! –

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 67-69.
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