I. Brief

[5] Mein Werthester! –


Aber um Gotteswillen, was kann ich Ihnen in meiner Lage für Trost geben? Von allen Seiten umringt, verfolgt von den Ihrigen, an der Ehre gekränkt, und dann von einem Freund gequält, der mich besser kennen sollte Erfordert meine Lage nicht mehr Vorsicht, als die Ihrige? Sie sind Mann, ich bin Weib. Mündlich will ich Sie über alles beruhigen; aber schriftlich wage ich es bis izt noch nicht. Sind Sie toll, daß Sie sich Menschen, (sie seyen auch, wer sie wollen) anvertrauen? Wie können Fremde von meiner Lage schwazzen, die nur Ihnen und mir bekannt ist? – Hüten Sie sich, je wieder einem Ihrer Freunde Ihr Herz zu öffnen! Diese Kalten verstehen weder Sie noch mich! Ich bin übrigens stolz auf meinen Karakter; wer mich nicht kennen will, den kann ich nicht bei den Haaren zur guten Beurtheilung hinreißen! Ich wünschte, daß Sie männlicher dächten, und das für unumstößlich gut hielten, wovon Sie überzeugt sind, daß es[5] wirklich gut ist. Sie wanken ja wie ein armer Verrükter in Ihren Affekten hin und her. Mündlich sollen Sie Saz für Saz aus Ihren Briefen beantwortet bekommen. Könnten Sie wohl, wenn es anfängt dunkel zu werden, zu mir kommen? ... Doch nein, Sie werden nicht können; folglich erwarte ich Sie Morgen frühe, so bald es seyn kann. Aber gelaßner, gelaßner, mein Freund, mit einer Armen, die von allen Seiten gequält wird! Sie haben über mein kleines Billet gebraußt? – Warum denn? Ich kenne doch nur Einen Gott, nur Eine Liebe, nur Eine Redlichkeit; und was wollen Sie denn weiter? – Ich gehe heute nicht ins Schauspiel, um den neidischen Schandmäulern auszuweichen, die mich in Ihren Augen verdächtig machen wollen. – Schlafen Sie ruhiger, als ihre arme, verwundete und gebeugte

Nina.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 5-6.
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