XXX. Brief

[62] Haben Sie Dich endlich wieder losgelaßen Deine tigermäßigen Eltern? – Es war auch hohe Zeit, sonst hätten Sie ihre Tirannei zu spät bereuen können! – Daß man doch das Gefühl gewißer thierischer unbeseelter Menschen blos mit Gewaltthätigkeit erweichen kann? – – Ich möchte das Gesicht Deiner Mutter gesehen haben, als Du vor ihren Augen Deine Terzerolen laden wolltest. – –

Nicht wahr, Du wolltest Pillen einnehmen, um Dich einer Tieger-Welt zu entreißen, wo Eigennuz und Ehrgeiz Deine Mörder ohnehin geworden wären.

Sey versichert, ich würde Dir gefolgt seyn wenn mir auch meine weibische Zagheit den Muth zu dieser selbstmörderischen Reise versagt hätte, so würde doch die Krankheit, die ich mir auf den Hals zog, gewiß meine Retterinn geworden seyn, der Gram hat im Elende auch seine süße Hofnungen. –[62]

Noch glaubt mich der Doktor nicht aus der Gefahr, weil von Zeit zu Zeit Konvulsionen und Blutsturz zurükkehren. Ohne meine äußerst starke Natur hättest Du Deine Nina schon nicht mehr. Eile heute so geschwind als Du kannst, zu mir, auch jezt muß ich wieder vom Schreiben wegeilen, sonst lermt der Doktor, weil er mir ausdrüklich jede Nerven-Anstrengung verboten hat, komme, Deine Nina erwartet Dich. – –

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 62-63.
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