LX. Brief

[106] Du lieber Gott! – Was war das gestern wieder für ein verstimmter Abend! – Es ist gerade, als ob wir beide eine Zeither verhext würden! – Ich mag Dir Ruhe vorpredigen, so viel ich immer will, es nüzt nichts. – Gott im Himmel, wie können Schiksale Menschenherzen verstimmen! – Ich kannte Dich kaum mehr; Faulheit, weniges Gefühl, zwei Worte, die ich gestern wieder so oft hören mußte. – Ein anders minder liebendes Weib hätten diese garstigen Ausdrükke wohl zum Brausen verleitet, aber ich blieb gelassen, weil mein Herz Deine Entschuldigung übernahm. –

Sag Unbesonnener! – Seit wann habe ich denn dies alles verdient? – Warum schreibst Du den Eifer über das ehrabschneiderische Volk auf meine Rechnung? – – Oder noch beßer, warum warst Du unvorsichtig genug, mir so etwas zu hinterbringen? – Darf ich meine Gefühle nicht mehr an Deiner Seite ausweinen? – Ich sah Dich stumm und finster, das machte mich verdrießlich, weil ich Dich doch schon so oft bat, Dir in meinem Umgang Gewalt anzuthun. – Bin ich denn nicht so viel werth? – Ist es nicht Deine Pflicht, jede Zänkerei in ihrem Ursprung zu erstikken? – Aufbrausen und davon laufen ist dann immer Deine löbliche Gewohnheit, und die Früchten davon, Verzweiflung und schlaflose Nächte für Dich und für mich. – –

Meine ganze Seligkeit liegt blos in Deinem Blikke, und da dieser eine Zeitlang her so düster ist, so ist es ganz natürlich, daß ich auch verstimmt werden muß. – Bin ich denn von mir selbst so gallsüchtig, gabst Du mir nicht immer den ersten Anlaß dazu? – – Ich hoffe, daß Du bald anfangen wirst mein Herz zu schonen. – Der Himmel laße uns heute wieder Friede finden, das wünscht von ganzer Seele Deine

gebeugte Nina.[106]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 106-107.
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