Brentano

[834] Das ähnliche Schauspiel eines lebenslangen inneren Kampfes, das wir bei Werner gesehen, bietet auch Clemens Brentano dar, und doch wieder so grundverschieden, wie die beiden Dichter es waren, die ihn geführt. Denn schon der Feind, mit dem sie rangen, war bei beiden nicht ganz derselbe; während Werner gegen eine zaumlose Leidenschaft kämpfte, hatte der andere einen bei weitem geistigeren Gegner in sich zu bestehen.

Brentano ist bekanntlich nun schon seit mehreren Jahren tot; die Leute haben im Leben wenig von ihm gewußt und nach dem Tode ihn kaum vermißt. Das wird niemanden sonderlich befremden, der das Verhältnis der Dichter zu den Leuten kennt. Goethe war lange Zeit unbekannt, ja verhöhnt, während Kotzebue und Lafontaine florierten; Arnim stand verlegen auf dem Bücherbrett (und steht unseres Wissens noch ruhig dort), während sie sich in den Leihbibliotheken um Fouqué rissen. Man kann von den Leuten billigerweise ebensowenig prätendieren, daß sie poetisch sein, als daß sie gesund sein sollen; sie haben anderes zu tun und mit ihrer eignen Geistreichigkeit zu viel zu schaffen, und der durch die beständige Kultur ausgeweitete Lesemagen verlangt derberes Futter. Schon Görres bemerkte irgendwo, das große Publikum gebärde sich wie das Mammut in den Urwäldern der Poesie: es bricht und spaltet sich unersättlich Rinde und ganze Stämme zum täglichen Fraß und schnuppert im Vorüberstapfen kaum an dem Blumenstrauß, den ihm die Muse schüchtern und von fern zu reichen versucht. – Mit Brentano hatte es indes noch ein anderes Bewandtnis. Jeder Dichter nämlich hat zwar oder soll doch sein bescheiden Teil Genie haben; aber Brentano hatte dessen unbescheiden viel; darüber erschraken die einen, den andern dagegen war das grade recht, und sie wollten eben[834] anfangen, jubelnd in die Hände zu klatschen, da fiel es ihm bei, despektierlich von der Genialität überhaupt zu reden und ihnen den ganzen verhofften Spaß wieder zu vereiteln. So verdarb er's mit beiden.

Das ist ungefähr Brentanos Dichterlaufbahn; wir wollen versuchen, sie mit wenigen Worten deutlicher zu bezeichnen.

Seine Schwester Bettina schreibt ihm einmal: »Meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin, sie springt herum nach einer inneren Tanzmusik, die nur ich höre und die andern nicht. Alle schreien, ich soll ruhig werden, und Du auch, aber vor Tanzlust hört meine Seele nicht auf Euch, und wenn der Tanz aus wäre, dann wär's aus mit mir. Und was hab ich denn von allen, die sich witzig genug meinen, mich zu lenken und zu zügeln? Sie reden von Dingen, die meine Seele nicht achtet, sie reden in den Wind. Das gelob ich vor Dir, daß ich nicht mich will zügeln lassen, ich will auf das Etwas vertrauen, das so jubelt in mir, denn am End ist's nichts anderes als das Gefühl der Eigenmacht, man nennt das eine schlechte Seite, die Eigenmacht. Es ist ja aber auch Eigenmacht, daß man lebt.« – Wir jedoch in unserer Sprache möchten diese verlockende Naturmusik, diesen Veitstanz des freiheitstrunkenen Subjekts, kurzweg das Dämonische nennen, womit eine unerhört verschwenderische Fee beide Geschwister, Bettina wie Clemens, an der Wiege fast völlig gleich bedacht hatte.

Bettina jubelt noch bis heute eigensinnig fort in ihrer Eigenmacht, während Clemens, jene Eigenmacht vielmehr als eine falsche Fremdherrschaft erkennend, mit dem Phantom gerungen bis an sein Ende. Und eben darin liegt die eigentümliche Bedeutung Brentanos, daß er das Dämonische in ihm nicht etwa, wie so viele andere, beschönigend als geniale Tugend nahm oder künstlerisch zu vergeistigen suchte, sondern beständig wie ein heidnisches Fatum gehaßt hat, das ihn wahrhaft unglücklich machte; daß er ferner diesen Kampf nicht systematisch und planmäßig – wie z.B. Werner getan, der in seinen höheren Richtungen reflektierend, in der Religion theologisch war –, sondern als ein geborener Dichter sprunghaft, nach Gelegenheit und augenblicklicher Eingebung und mit wechselndem Glück, wie einen unordentlichen, phantastischen Partisankrieg geführt hat mit allen spiegelblanken Zauberwaffen der Poesie, mit Klang und Witz und einer zweischneidigen Ironie, die sich selbst am wenigsten verschonte.[835]

Daher auch bei ihm, je nachdem die eine oder die andere der im Kampf begriffenen Gewalten die Oberhand gewann, das Aphoristische, Improvisierte in seinem Leben, eine in den seltsamsten Kontrasten wechselnde, scheinbare Doppelgängerei, jenes chamäleontische, aber immer prächtige Farbenspiel, womit uns seine Erscheinung oft in Erstaunen setzt. So behauptet er aus einem natürlichen Hange zur Einsamkeit, Gott habe den Dichter einsiedlerisch gestellt; und ist doch jederzeit bereit, sich in das bunteste Weltleben zu stürzen. So rät er voll Eifer der Schwester Bettina, recht fleißig in der Küche zu helfen, gute Kuchen zu kneten usw., und sagt doch bald darauf wieder: »Alles Gegenwärtige ist mir nur der Stiel, an dem ich Vorzeit und Zukunft anfasse – ich bin ein geborener Idealist –, glücklich bin ich nicht, das ist Menschenwerk, unglücklich bin ich nicht, das ist auch Menschenwerk; ich bin alles, das ist Gottes Werk, und mag es niemand beweisen, das ist arme Bescheidenheit, die Kunst aber ist die Kanaille, die mich mit diesem sorgenvollen Ehrgeize behängt hat, und die Trägheit ist es, der ich es verdanke, daß ich so edel bin.« – Und während er dennoch der Kunst, und nur der Kunst, sein ganzes Leben weiht, spricht er wegwerfend, ja entrüstet davon: »Es ist auch wirklich ein verdächtiges Ding um einen Dichter von Profession, der es nicht nur nebenher ist. Man kann sehr leicht zu ihm sagen: Mein Herr, ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe, wer aber eins dieser Glieder überfüttert, verfüttert oder mästet und es über alle anderen hinübertreibt, ja es gar zum Erwerbszweige macht, der muß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer, der von der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren; und eine übergroße Gänseleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt doch immer eine kranke Gans voraus.« – Fast erschrocken sagt daher seine Freundin Günderode von ihm: »Es kömmt mir oft vor, als hätte er viele Seelen; wenn ich nun anfange, einer dieser Seelen gut zu sein, da geht sie fort und eine andere tritt an ihre Stelle, die ich nicht kenne, und die ich überrascht anstarre, und die, statt jener befreundeten, mich nicht zum besten behandelt.«

Es ist begreiflich, ein so außerordentlich komponiertes Talent, wo Licht und Schatten, weil sie miteinander rangen, dicht nebeneinander lagen, ja oft stoßend und drängend in[836] einander Überzugehen schienen, wo neben hingebender Andacht und aller wunderbaren Süßigkeit der Romantik ein übermächtiger Witz mit den Dingen koboldartig spielte, alles verletzend, was er liebte – eine so ungewöhnliche Natur, sagen wir, mußte häufig verkannt und mißverstanden werden, indem die Welt zu bequem ist, um genauer hinzusehen und im Scherz den Ernst, »das tiefe Leid im Liede« zu erkennen. Und so geschah es denn auch in der Tat, daß Brentano den meisten als ein schlechthin unerklärlicher Proteus, als ein innerer Widerspruch, ja manchen als ein scheinheiliger, unredlicher Faselant galt; und während die einen ihn vornehm in seinen Sünden stecken ließen, fabelten ihn andere als Mönch zu gerechter Buße in ein polnisches Kloster hinein. Er selbst hat diese bornierte Ungerechtigkeit seiner Zeitgenossen in manchen Stunden schmerzlich gefühlt und äußert einmal darüber: »Es ist entsetzlicher, von gemeinen Menschen für genialisch, als für einen Narren gehalten zu werden.« Nur Goethes Mutter, die bekannte Frau Rat, die sich selten irremachen ließ, hatte prophetisch schon zu dem Knaben Clemens gesagt: »Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, und so oft es sich mit derselben berührt, wird's Tränen regnen.«

Und der heiteren Sibylle ist's auch diesmal zugetroffen. Kein Unbefangener wird in jenem ergötzlichen Tumulte der verschiedenen Seelen die rechte, wahre Seele, den Kristallquell, der insgeheim alle die wild spielenden Springbrunnen treibt, wir möchten sagen, das eigentlich Wunderbare seiner Wunderlichkeiten verkennen; es ist das unverwünstlich tiefe religiöse Gefühl, das er mit Werner gemein hatte; und eben der von der Frau Rat prophezeite, schmerzliche Zusammenstoß jener beiden Reiche in ihm bildet das wunderbare Regenbogenspiel seiner Poesie. – Sein Briefwechsel mit seiner Schwester Bettina (von dieser unter dem Titel »Clemens Brentano's Frühlingskranz« herausgegeben) ist ein merkwürdiges Denkmal der in ihm arbeitenden Gegensätze. Er spielt hier den altklugen Hofmeister gegen seine jüngere Schwester; das steht ihm gar seltsam zu Gesicht und wird ihm offenbar herzlich sauer, weshalb er denn auch oft genug aus der Rolle fällt und von Bettina derb ausgelacht wird. Überall aber ist die heimliche Angst vor sich selber fühlbar, vor dem eigenen Dämon, den er in der gleichbegabten Schwester wie ein erschreckendes[837] Spiegelbild wiedererkannt und daher aus allen Kräften bekämpft; das Ganze ist wie ein Monolog eines Besessenen, dessen innere Geister hier, nur mit verschiedenen Stimmen, wechselweis miteinander streiten. Oder ist es nicht, als spräche er recht eigentlich von sich selbst, wenn er in Beziehung auf Bettina sagt: »Wehe! Mir ist, als stehe ich auf einem vulkanischen Boden, wo die verwitterte Lava, von der schaffenden Natur üppig begrünt, hervorbricht in Flammen und verzehrt es wieder. Und hie und da liegen Brandstätten unter dem ewigblauen Himmel. Was nützt mein guter Wille, meine Stimme, mein Wort? Wie könnte das diesen Boden erschüttern, in dem ein innerliches Wirken verborgene Wege schleicht, und dann, jeder Gewalt unerreichbar, plötzlich das begonnene Gepflegte zerstörend aufflammt.« Oder wenn er an einer andern Stelle von den sogenannten großen Menschen redet, die Gott mit berauschendem Stolze für ihre Mühe mit den Wissenschaften belohnt und sie die schöne Mitte verachten lehrt; und dann der Schwester zuruft: »Ich bitte Dich, bleibe in dieser Mitte und steige nur in die Höhe, um zu beten.« – In seiner frühesten Dichtung schon: »Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter«, kündigt sich dieser Kampf, freilich noch roh und düster, an, und er nennt es selber einen verwilderten Roman. Dieser Roman enthielt schon damals (1801 und 1802) ungefähr alle Elemente, womit die jetzige Literatur als mit neuen Erfindungen prahlt: Weltschmerz, Emanzipation des Fleisches und des Weibes und revolutionäres Umkehren der Dinge. Und dennoch ist er wieder gänzlich verschieden von jener neuesten Literatur. Denn einmal klingt auch im Godwi in den einzelnen eingestreuten Volksliedern überall schon ein tieferer, ja religiöser Ernst fast sehnsüchtig hindurch; und sodann überkommt den Dichter selbst mitten in dieser Verwirrung die tödlichste Langeweile, Ekel und Abscheu davor, und er vernichtet sofort, was er im ersten Bande geschaffen, im zweiten Bande schonungslos wieder durch die bitterste Ironie. Er selbst sagt: »Ich werde die Kunst an diesem Buche rächen, oder untergehen.« – Auch in dem wundervollen Lustspiele »Ponce de Leon«, wo ein wahrhaft dämonischer Witz mit der Wirklichkeit wie eine Fontäne mit goldenen Kugeln spielt, ist doch im Grunde dieser poetisch zerfahrene, träumerische Ponce eigentlich der Dichter selbst, gegen den er alle Ironie gewendet; und in seiner »Geschichte[838] vom braven Kasperl und der schönen Annerl« entfaltet er mitten durch den fatalistischen Spuk eines dunkel hereinragenden Verhängnisses das tragische Spiel eines edlen Gemüts mit der falschen Ehre, in einfachen, ergreifenden Zügen das schöne Grundthema variierend: tue deine Pflicht und gib Gott allein die Ehre. – Und immer lichter und mächtiger ringt sich der unsichtbare Schutzengel, der ihn durchs Leben begleitet, aus den Trümmern einer verworrenen Jugend empor. Es ist, als vernähmen wir seinen leisen Flügelschlag in dem »Tagebuch der Ahnfrau«, wo die schönsten Lieder wie Glockenklänge durch das Waldesrauschen herübertönen. So auch in der »Chronika von dem fahrenden Schüler«, dem sich, obgleich er arm und verlassen, die Natur und das Leben in aller Freudigkeit aufschließen, weil er alles unschuldig und mit herzlicher Frömmigkeit und Demut betrachtet; denn »Du sollst nicht traurig sein um des Leides willen, das Dich auf Erden treffen wird, nein, nur um Deiner und aller Schuld, deren Strafe das Leid ist. Auf Erden sind wir alle arm, und müssen mannigfach mit unserem Leben herumwandeln, und lernen, und bleiben doch arme Schüler, bis der Herr sich unser erbarmet und uns einführt durch seinen bitteren Tod in das ewige Leben.« – Seine Lieder endlich haben Klänge, die von keiner Kunst der Welt erfunden werden, sondern überall nur aus der Tiefe einer reinen Seele kommen; z.B. in dem Liede: »Mutter, halte dein Kindlein warm, die Welt ist kalt und helle«, die geheimnisvolle Gewalt der Mutterliebe:


»Komm her, komm her, trink meine Brust,

Leben von meinem Leben,

O könnt ich alle fromme Lust

Aus meiner Brust dir geben.


Nur Lust, nur Lust, und gar kein Weh,

Ach du trinkest auch die Schmerzen,

So stärke Gott in Himmelshöh

Dich Herz aus meinem Herzen.


O du unschuld'ger Himmel du!

Du lachst aus Kindesblicken,

O Engelsehen, o sel'ge Ruh,

In dich mich zu entzücken.«[839]


Alle Herzinnigkeit keuscher Liebe tönt bei ihm oft in wahren Nachtigallenklagen, wie in dem Liede der Spinnerin:


»Es sang vor langen Jahren

Wohl auch die Nachtigall,

Das war wohl süßer Schall,

Da wir zusammen waren.


Ich sing und kann nicht weinen

Und spinne so allein

Den Faden klar und rein,

Solang der Mond wird scheinen.


Da wir zusammen waren,

Da sang die Nachtigall,

Nun mahnet mich ihr Schall,

Daß du von mir gefahren.


So oft der Mond mag scheinen,

Gedenk ich dein allein,

Mein Herz ist klar und rein,

Gott wolle uns vereinen.


Seit du von mir gefahren,

Singt stets die Nachtigall,

Ich denk bei ihrem Schall,

Wie wir zusammen waren.


Gott wolle uns vereinen,

Hier spinn ich so allein,

Der Mond scheint klar und rein,

Ich sing und möchte weinen.«


Ebenso dürften sich wohl wenige Soldatenlieder, alte oder neue, an herzhafter Frömmigkeit mit dem nachstehenden vergleichen können:


»Es leben die Soldaten

So recht von Gottes Gnaden,

Der Himmel ist ihr Zelt,

Ihr Tisch das grüne Feld.


Die Sterne haben Stunden,

Die Sterne haben Runden

Und werden abgelöst,

Drum, Schildwach, sei getröst.[840]


Zum Hassen oder Lieben

Ist alle Welt getrieben,

Es bleibet keine Wahl,

Der Teufel ist neutral.


Wir richten mit dem Schwerte,

Der Leib gehört der Erde,

Die Seel dem Himmelszelt,

Der Rock bleibt auf der Welt.«


Am siegreichsten aber vielleicht zeigt sich die höhere Versöhnung jener dichterischen Doppelnatur Brentanos in seinen hinterlassenen Märchen. (Die Märchen des Clemens Brentano, zum Besten der Armen nach dem letzten Willen des Verfassers herausgegeben von Guido Görres. 1846–1847). Hier ist es nun allerdings zunächst wieder das ursprünglich Dämonische, das uns übermächtig entgegentritt, in dem fast magischen Naturgefühl, in dem beständigen Wetterleuchten des Witzes, der wie eine unabwendbare Naturgewalt über Freund und Feind ergeht, in einer ganz entfesselten Phantasie, die den verborgenen Zusammenhang des Entlegensten blitzartig aufdeckt, als ob sich das Unerhörte eben von selbst verstünde. Da blicken wir gleich in dem ersten, herrlichen Märchen vom Rhein und dem Müller Radlauf, wie bei Erschaffung der Welt, in den wundersamen Haushalt der Elementargeister, und was die Natur geheimnisvoll schafft, sprosset und ahnt, sehen wir in Sehnsucht, Zorn und Liebe da unten geschäftig: Wald- und Hauskobolde, Flußgötter, Nymphen, Echo und die Lurelei mit ihren sieben Jungfrauen; vor allen aber den Vater Rhein in seinem gläsernen Hause und über dessen Glasgewölbe das Gewässer mit Millionen bunter Fische, die sich mit ihren glänzenden Schuppen an das Glas anlegen und mit ihren Goldaugen hereinsehen, so daß die ganze Decke wie tausend Regenbogen durcheinanderflimmert, und wo sich die Fische wegbegeben, sieht man wieder zwischen wunderbaren Felsen die Sterne und den Mond leuchten, während aus der Tiefe der dort versenkte Nibelungenhort heraufschimmert und unten die ertrunkenen Kinder schlafen, daß es wie in einem Himmel von tausend schlummernden Kindergesichtern zu schauen ist. – Aber alle diese an sich heidnischen und untereinander feindlichen Kräfte sind zu heiterer, harmloser Schönheit bewältigt durch eine gewaltigere Kraft, durch eben jenes religiöse[841] Grundgefühl, das, nirgend sich wortreich aufdrängend, wie der unsichtbare Hauch eines Sonntagsmorgens das Ganze durchweht und von einem Unterschiede zwischen dem Diesseits und Jenseits nicht mehr weiß; wie z.B. in der meisterhaften Erzählung von der Gefangenschaft der Prinzessin Ursula und der Nottaufe ihres Kindes. Er selbst spricht es in dem Märchen »Gockel, Hinkel, Gackeleia« aus:


»Salomo, du weiser König,

Dem die Geister untertänig,

Setz uns von dem stolzen Pferde

Ohne Fallen sanft zur Erde,

Führ uns von dem hohen Stuhle

Bei der Nachtigall zur Schule,

Die mit ihrem süßen Lallen

Gott und Menschen kann gefallen. –

Führ uns nicht in die Versuchung

Unfruchtbarer Untersuchung;

Nicht der Kelter ew'ge Schraube,

Nein, die Rebe bringt die Traube.

Mach einfältig uns gleich Tauben,

Segne uns mit Kinderglauben.

Laß die Engel bei uns wachen,

Daß wir wie die Kinder lachen,

Daß wir wie die Kinder weinen,

Laß uns alles sein, nichts scheinen.«


Die Literatur überhaupt hat hauptsächlich dreierlei Märchen aufzuweisen. Das galante Märchen, dessen sich insbesondere die Franzosen bemächtigt haben; eigentlich nur eine Maskerade leichtfertiger Salon-Fräuleins, die sich aus Langerweile als Feen mit Reifrock und Toupet verkleiden, um ihre verliebten Kavaliere zu necken, und bei deren Elfentänzen man beständig das Philinen-Pantöffelchen klappen hört. Dann das philosophische Märchen, wo die Allegorie und eine gewisse phantastische Symmetrik der Gedanken die Poesie vertritt; und endlich das Volksmärchen, das, wie alten Bilder auf Goldgrund, auf dem religiösen Volksglauben ruht. Zu den letztern gehören Brentanos Märchen. Aber wie die Poesie überhaupt, wenn sie einen gewissen Grad künstlerischer Vollendung errungen, nicht dem Volke allein anheimfallen kann und soll, so hat auch Brentano seine Märchen häufig über den kindlichen[842] Gesichtskreis des Volkes hinaus erweitert und in dem Zauberspiegel auch die sogenannte gebildete Welt mit aufgefangen, die allerdings auf dem Hintergrunde jenes grundverschiedenen Volksglaubens ganz von selber märchenhaft erscheint. So bildet dieser Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie selbst das Hauptthema des Märchens »vom Murmeltier«. So auch handelt z.B. das »Märchen vom Fanferlieschen Schönefüßchen« von den modernen Kinderverziehungssystemen und beinebst unter vielem andern auch noch vom Schürzen- und Pantoffel-Regiment des Aberglaubens, gegen das sich der arglistige König Jerum auflehnt, der immer von Freiheit spricht, nachdem er den in den Wirtshäusern bisher stets angeketteten Stiefelknecht von der Kette los und zu einem Fußbefreier gemacht hat, aber aus der Apotheke zum großen Orient für Zivilisation, Aufklärung, Menschenliebe und Preßfreiheit sich insgeheim das sogenannte Sukzessionsoder Erbschaftspulver holen läßt, womit er den Hirsenbrei der vornehmen Waisenkinder in Fanferlieschens Erziehungsanstalt vergiften will, um deren Güter an sich zu ziehn.

Man spricht von Brettern, die die Welt bedeuten; man könnt es vielmehr vom Märchen sagen. Da probiert die Sage die Geschichte, die arme, gebundene Natur träumt von Erlösung und spricht im Traume in abgebrochenen, wundersamen Lauten, rührend, kindisch, erschütternd, es ist das alte, wunderbare Lied, das in allen Dingen schläft. Aber nur ein reiner, gottergebener, keuscher Sinn kennt die Zauberformel, die es weckt, und wir erhalten eine große Meinung von Brentanos ethischer Gewalt, wenn wir ihn so durch den Sommernachtstraum der Welt, ihn deutend und lösend, auf dem Märchen-Rhein dahinfahren sehen,


»Himmel oben, Himmel unten,

Stern und Mond in Wellen lacht,

Und in Traum und Lust gewunden

Spiegelt sich die fromme Nacht.«


Nach allem diesen könnte in der Tat nur eine sehr beschränkte Beurteilung, die für unsichtbare Geisteskämpfe überhaupt kein Verständnis hat, Brentano zu den Zerrissenen zählen wollen. Denn was bei ihm wohl zuweilen so erscheint, beruht keineswegs, wie bei den Zerrissenen, auf Unglauben, auf einer bloßen Negation oder Blasiertheit, mit einem Worte:[843] nicht auf einem innern Bankerott, sondern vielmehr auf einem geistigen Überschusse, der in den hergebrachten Formeln der Poesie nicht aufgehen will. Und wenn jene ihre Blöße mit den Lappen der Genialität, die Brentano verschwenderisch als Lumpen weggeworfen, mühselig zu flicken und zu behängen suchen und mit ihrer Armut obendrein noch kokettieren; so hat dieser dagegen den Zwiespalt in sich stets als eine Krankheit erkannt, die man nicht freventlich hegen, sondern bezwingen soll. Auch er zwar handhabt die Ironie scharf und gewandter als irgendeiner seiner Kunstgenossen; aber seine Ironie ist keine sich selbst genügende, ästhetisch aufgebaute Kunst, sondern eine aus innigster Entrüstung hervorbrechende moralische Kraft, um das Schlechte und Gemeine im Leben zu vernichten. Und so hat dieser reichbegabte Romantiker allerdings in treuem Kampfe jene Krankheit in sich bezwungen, und alle seine Verirrungen, seinen Schmerz und seine Umkehr faßt er selbst rückblickend noch einmal zusammen, wenn er kurz vor seinem Tode an eine Freundin schreibt: »O mein Kind! Wir haben nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns teils wieder aufgefressen. Wenn ich nun in Deinem ganzen Wesen und in Deinem Bezug auf mich das ganze Maß der gleichen Liebe und Teilnahme fühle und genieße, und alles das ganz und vollkommen gesund, schlicht und unverkräuselt und nicht anders gemischt als nach dem Rezept des Katholizismus: Du sollst Gott lieben über alles und deinen Nächsten wie dich selbst, so fühle ich ein tiefes Leid, daß alles das in mir und jenen nur vermischt und zerrissen vorhanden ist, wenngleich die elenden Trümmer auf dem Bruch hier und da glänzen; ich fühle also bei diesen Eindrücken die unendliche Verletzung, die ich und andere durch den Verlust der Religion und durch die Hingabe an die Welt und ihren Dienst erlitten haben und dieses Gefühl erfüllt mich mit Leid und Reue; denn wäre ich gehorsam und treu gewesen dem Gebote, das ich gelernt wie Du, ich könnte mich eines ähnlichen Glückes preisen – und so sei es denn hingeschrieben als eine neue Aneiferung für Dich, in dem treuen katholischen Wandel mutig ohne Qual, unter Gebet fortzufahren und Deine Kinder und alle Dir nahegestellten Seelen mit unverletzlicher Gewissenhaftigkeit auf den Wegen der Religion fortzuführen, so viel Du vermagst, zu stützen und zu schützen.«[844]

Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 3, München 1970 ff., S. 834-845.
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