Das Flügelroß

[231] Ich hab nicht viel hienieden,

Ich hab nicht Geld noch Gut;

Was vielen nicht beschieden,

Ist mein: – der frische Mut.


Was andre mag ergötzen,

Das kümmert wenig mich,

Sie leben in den Schätzen,

In Freuden lebe ich.


Ich hab ein Roß mit Flügeln,

Getreu in Lust und Not,

Das wiehernd spannt die Flügel

Bei jedem Morgenrot.


Mein Liebchen! wie so öde

Wird's oft in Stadt und Schloß,

Frisch auf und sei nicht blöde,

Besteig mit mir mein Roß!


Wir segeln durch die Räume

Ich zeig dir Meer und Land,

Wie wunderbare Träume

Tief unten ausgespannt.


Hellblinkend zu den Füßen

Unzähl'ger Ströme Lauf –

Es steigt ein Frühlingsgrüßen

Verhallend zu uns auf.[231]


Und bunt und immer wilder

In Liebe, Haß und Lust

Verwirren sich die Bilder –

Was schwindelt dir die Brust?


So fröhlich tief im Herzen,

Zieh ich all' himmelwärts,

Es kommen selbst die Schmerzen

Melodisch an das Herz.


Der Sänger zwingt mit Klängen

Was störrig, dumpf und wild,

Es spiegelt in Gesängen

Die Welt sich göttlich mild.


Und unten nun verbrauset

Des breiten Lebens Strom,

Der Adler einsam hauset

Im stillen Himmelsdom. –


Und sehn wir dann den Abend

Verhallen und verblühn,

Im Meere, kühle labend,

Die heil'gen Sterne glühn:


So lenken wir hernieder

Zu Waldes grünem Haus,

Und ruhn vom Schwung der Lieder

Auf blühndem Moose aus.


O sterndurchwebtes Düstern,

O heimlich stiller Grund!

O süßes Liebesflüstern

So innig Mund an Mund!


Die Nachtigallen locken,

Mein Liebchen atmet lind,

Mit Schleier zart und Locken

Spielt buhlerisch der Wind.


Und schlaf denn bis zum Morgen

So sanft gelehnt an mich![232]

Süß sind der Liebe Sorgen,

Dein Liebster wacht für dich.


Ich halt die blühnden Glieder,

Vor süßen Schauern bang,

Ich laß dich ja nicht wieder

Mein ganzes Leben lang! –


Aurora will sich heben,

Du schlägst die Augen auf,

O wonniges Erbeben,

O schöner Lebenslauf! –


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 231-233.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1841)
Gedichte
Fünfzig Gedichte
Und es schweifen leise Schauer: Gedichte (Lyrik)
Sämtliche Gedichte und Versepen
Gedichte (Fiction, Poetry & Drama)

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon