Lied der Jugend

[40] Wenn ich vierzig Jahre bin,

Will ich weise werden,

Oder einen andern Sinn

Gebt mir und Geberden!

Ja, ich trotze der Gefahr

In des Lebens Stürmen,

Mag sie um mich her sogar

Wellenhoch sich thürmen.


Billig ist und leicht genug,

Was ihr lehrt zu meiden,

Auszuweichen feig und klug

Menschenwürdgen Leiden;[40]

Und zufrieden freut ihr euch

Eures dürftgen Looses,

Und verbannt aus eurem Reich

Kühnes ist und Großes.


Wie nach Ungewittern nur

Unser Athem schmachtet,

Wenn es über schwüler Flur

Ohne Kühlung nachtet,

So verlanget allezeit

Uns nach Leidenschaften,

Weil wir in Alltäglichkeit

Welkten und erschlafften.


Die wir jung und muthig sind,

Lassen Segel schwellen

Mit der Leidenschaften Wind,

Auf empörten Wellen,

Während, die da weise sind,

Rudern fern der Scylle

Und Charybdis ohne Wind

Durch die Wasserstille.

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 40-41.
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