Traumglück

[176] Will am Tag mir nicht gelingen,

Heiter schön und mild,

Vor das Auge herzuzwingen

Der Geliebten Bild.


Uebers Antlitz ausgegossen

All die Lieblichkeit

Bleibt dem innern Blick verschlossen,

Und ich bin zerstreut.


Hasch ich auch nach allen Schätzen

Der Erinnerung,

Ach, sie können nicht ersetzen

Des Lebendgen Schwung!


Keine Dichtung gibt ihn wieder

Jener Formen Drang,

Jener aufgeblühten Glieder

Ineinanderklang.
[176]

Jene süßen sanften Augen

Und den lieben Mund,

Alle Phantasien tauchen

Nirgends auf den Grund.


Kann die Perle nicht gewinnen

Aus der Reize Meer,

All Gedächtniß, alles Sinnen

Zaubert sie nicht her.


Aber, aber wenn der stille

Abend wiederkehrt,

Dämmert auf in prächtger Fülle,

Was mein Herz begehrt.


Wenn das Dunkel mich umfangen,

Schleichet süß und rein

In den Traum, den herzensbangen,

Die Geliebte ein.


Und sie kommt, um mich zu küssen,

Und ihr Kuß berauscht,

In des Wiedersehns Genüssen

Schwelg ich unbelauscht.


Und sie ist so schön zu schauen,

So lebendig warm,

So voll Liebe voll Vertrauen

Ruht sie mir im Arm!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 176-177.
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