Social-Lyrik

[19] In dem schwülen Erdgeschosse,

Sitzt die kranke Nähterin,

Eine Arbeit auf dem Schooße

Für die kalte Herzogin.

Zwanzigmal ist schon der Faden

Ihr gerissen diese Stund',

Den sie aus des Bourgeois' Laden

Kaufte, abgespart dem Mund.


Ohne Nahrung vierzehn Tage,

Vierzehn Nächte saß sie da,

In verzweiflungsvoller Lage,

Ohne daß sie Jemand sah!

Ihre armen Siebensachen

Sind von Thränen schmutzignaß,

O, es ist dieß nicht zum Lachen,

O, es ist zum Weinen das!


Da erscheint mit rothem, feisten

Angesicht der Miethsherr wild:

Zahlung soll sie heut' noch leisten,

Zahlen, dieses Engelsbild!?

Seht, wie sie mit dürren Händen

Klammert sich um seinen Bauch:[19]

Lassen's Sie' s nur heut' bewenden!

Doch sie tritt der schnöde Gauch.


Und an diesem rohen Tritte

Bricht der Wimmernden das Herz;

Menschlich war doch ihre Bitte,

O, Tyrann, kennst du den Schmerz?

Ohne Blumen, ohne Lieder

Wurde sie bei Nacht verscharrt,

Doch das Scheusal grinste bieder

In der Menschen Gegenwart.


Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrische Karrikaturen, Lahr 1869, S. 19-20.
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