VI.

[45] Der Einzige in der Familie, der von dem Herzenszustande des jungen Herrn Stark zwar nicht völlige Kenntniss, aber doch ziemlich wahrscheinliche Spuren hatte, war der Schwager, Herr Doctor Herbst. Er hatte dem seligen Lyk, als Hausarzt, in seiner letzten Krankheit gedient; er wusste, dass wegen Handlungsverdriesslichkeiten grosse Feindschaft zwischen ihm und Herrn Stark dem Sohne geherrscht hatte, und er selbst war Vermittler bei der sehr rührenden Aussöhnung gewesen, die vor dem Tode des erstern vorhergegangen war. Bei dieser Aussöhnung, hatte Herr Stark dem Sterbenden in die Hand versprochen, dass er, auf den Fall seines Hintritts, die Witwe mit Rath und That[46] unterstützen, und besonders die Handlungsangelegenheiten, von denen Herr Lyk gestand dass sie in nicht geringer Unordnung wären, möglichst aufs Reine bringen wollte. Dieses edelmüthige Versprechen hatte Herr Stark mit dem grössten Eifer erfüllt: er hatte ganze Monate hindurch jeden Augenblick, den er eigenen Arbeiten hatte absparen können, den Angelegenheiten der Witwe gewidmet; und schon mehrmalen hatte der Doctor, wenn er der sehr kränklich gewordenen Frau noch spät Abends einen Besuch gab, ihn in voller, eifriger Arbeit über ihren Büchern getroffen. Er hatte bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass die wirklich grossen und liebenswürdigen Tugenden, welche Madam Lyk in ihrer jetzigen traurigen Lage so viel Anlässe zu entwickeln fand, und welchen er selbst volle Gerechtigkeit[47] wiederfahren liess, das Herz des Schwagers nicht ungerührt mögten gelassen haben. Besonders war ihm die Verwirrung und der rasche Unwille aufgefallen, womit einst Herr Stark eine ganz unschuldige, mehr im Scherz so hingeworfene Warnung, sich nicht zu verlieben, aufgenommen hatte; auch hatte er viel Licht aus der gleich darauf folgenden dringenden Bitte geschöpft, dass er doch, um's Himmels willen, von dem ganzen Umgange mit Madam Lyk, in den er ja selbst ihn hineingezogen, der Familie, und besonders dem Vater, kein Wort verrathen mögte.

Indessen, so gewiss, nach der Semiotik des Doctors, dieses Zusammentreffen von Diensteifer, Blödigkeit, und Geheimthun auf Liebe hindeutete; so glaubte er's mit dieser Liebe doch keinesweges so[48] weit gediehen, dass er sie in irgend einiger Verbindung mit dem Entschluss hätte denken sollen, den ihm jetzt der junge Mann zu seinem grössten Missfallen kund that. Herr Stark verlangte auch über diesen Entschluss das Geheimniss; aber dieses schlug der Doctor ihm förmlich ab: er versicherte sich vielmehr sogleich des lebhaftesten Beistandes der Frau mit der Schwiegermutter, um den jungen Mann von einem so raschen und für die ganze Familie so höchst nachtheiligen Schritte zurückzuhalten. Dass es mit diesem Schritte voller Ernst sei: daran konnt' er nach Allem was er sah und hörte, und besonders nach den Briefen, die man ihm vorgezeigt hatte, nicht zweifeln.

Alle Mühe, die man nunmehro vereinigt anwandte, um Herrn Stark zu besänftigen und ihn von seinem Vorsatze[49] abzuziehen, war rein verloren. Den Gründen des Schwagers setzte er andere Gründe, den Bitten und Thränen der Mutter die feurigsten Betheurungen der Liebe und des Gehorsams, mit Ausnahme dieses einzigen Puncts, und den abwechselnden Liebkosungen und Spöttereien der Schwester Unempfindlichkeit und Unart entgegen. Man bemerkte, dass, je mehr man ihn zu beugen und zu erweichen suchte, desto steifer und hartnäckiger er auf seiner Meinung bestand; und so ward denn, in einer geheimen Familiensitzung zwischen Mutter Schwiegersohn und Tochter beschlossen, dass man einen ganz andern Weg einschlagen, und da mit dem Sohne nichts auszurichten sei, sein Heil mit dem Vater versuchen wolle. Man hielt sich versichert, dass auf das erste freundliche Zureden des Vaters, der Sohn mit[50] Freuden einen Entschluss würde fahren lassen, wobei er selbst am ersten und am meisten verlieren müsste; auch war man ganz darin einig, dass der hofmeisternde Ton und die spöttelnde Laune des Alten zuweilen ins Unerträgliche fielen; dass ein Sohn in männlichen Jahren anders, als im Knaben- und Jünglingsalter müsste behandelt werden; und dass jeder Mensch seine ihm eigene Sinnesart habe, die man wohl in gewissen zufälligen Äusserungen leiten, aber nie im Ganzen und im Wesentlichen umschaffen könne. Der Alte selbst, hoffte man, würde, nach seiner sonstigen Billigkeit und Vernunft, sich hievon leicht überzeugen lassen.

Doch, was die Leichtigkeit des Überzeugens betraf, so gerieth man bald wieder in Zweifel. Herr Stark hatte der Proben von Steifheit und Unbiegsamkeit des[51] Charakters zu viele gegeben; und man ward daher einig, den Angriff auf ihn ja nicht übereilt und tumultuarisch, sondern behutsam und methodisch zu machen. Die Beobachtungen, nach welchen man den Plan verabredete, waren folgende. Der Alte hegte von dem Verstande und der gesunden Beurtheilung des Doctors sehr vortheilhafte Begriffe; der Doctor demnach sollte zuerst erscheinen, ihm die Entschliessung des Sohns eröffnen, und ihn von der Nothwendigkeit sowohl als Billigkeit, sein Betragen zu ändern, mit Ehrerbietung, aber auch mit Nachdruck, belehren. – Das Wort der Mutter war in Familienangelegenheiten immer von grösstem Gewicht gewesen, und schon oft, obzwar nie in einem so kitzlichen Falle, war ihren dringenden Vorstellungen, wenn auch mit einigem Kopfschütteln, nachgegeben[52] worden; die Mutter also sollte nach dem Doctor hereintreten, und wenn die Vernunft des Alten schon wankte, den Widerstand seines Herzens durch Bitten, und allenfalls auch durch Thränen, zu brechen suchen. – Von der Tochter wusste man, dass sie mit ihren Schmeicheleien und Einfällen eine wunderbare Gewalt über den Vater hatte, und dass sie, wegen grosser Ubereinstimmung ihrer eigenen Gemüthsart mit der seinigen, sich in allen Krümmungen und Wendungen seiner Laune geschickt ihm nachzuschmiegen, und ihn fast immer zu ihrer Absicht herumzuholen wusste; die Tochter also sollte zuletzt erscheinen, und dem durch Mann und Mutter schon ganz erschöpften und abgematteten Eigensinne des Alten den letzten Gnadenstreich geben.

Bei diesem ganzen schönen Entwurfe,[53] äusserte bloss die Mutter noch etwas Furcht; der Doctor hielt sich, unter göttlichem Beistande, guten Erfolgs versichert; und die Tochter vollends vermass sich mit grosser Freudigkeit, dass keine – wenn nur erlaubte und ehrliche – Sache in der Welt seyn müsste, wozu sie ihren lieben, alten, seelenguten Vater nicht hinschmeicheln oder hinbitten wollte. Doch säumen, meinte sie, müsse man nicht mit dem Angriff: denn der Bruder mache schon allerlei bedenkliche Anstalten, die auf eine nahe Abreise zielten; auch sei nur eben der jährliche Abschluss der Handlungsbücher geendigt, und dieser Zeitpunct müsse dem Sohn zur Trennung vom Vater nothwendig der schicklichste dünken. Das Scharfsinnige dieser Bemerkung, die den beiden andern entwischt war, wurde erkannt und gelobt: ihr zufolge[54] ward nun einmüthig festgesetzt, dass man gleich den andern Morgen sich frisch an das Werk machen wollte.

Quelle:
Johann Jakob Engel: Schriften. Band 12, Berlin 1806, S. 45-55.
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