Der Geigenbogen

[48] Man kann einem Schauspieler ja sein Alter nicht ansehen; ein Schauspieler hat das Alter seiner Rollen. Es gibt ein Beispiel von einem siebzigjährigen Leander, der so feurig spielte, daß eine Köchin in einem herrschaftlichen Hause ihm einen Kalbsbraten schickte; der Doktor sah schon mit zwanzig Jahren so alt aus, daß eine Mutter ihn warnend ihrem Sohn zeigte, der durchaus zur Bühne gehen wollte, und ihm sagte: »Siehst du diesen gebeugten Rücken, diesen schleppenden Gang, diese tiefen Runzeln, hörst du diesen Husten, der den ganzen armen Menschen erschüttert? So geht es dem alten Komödianten; er muß noch immer spielen, während Andere in seinem Alter sich Schlafrock und Troddelmütze halten, im Lehnstuhl sitzen und ihren Kamillentee trinken.«

Der Doktor hatte aber mit neunzehn Jahren ausgesehen wie ein anderer junger Mensch von neunzehn Jahren. Damals war er noch nicht Schauspieler gewesen, sondern Geiger bei der Truppe. Er war ein sehr guter Geiger damals, und er spielte nicht nur im Theater, sondern auch in der Stadt bei vornehmen Familien, wenn Feste gegeben wurden.

Einmal hatte er bei einer Herzogin gespielt; diese Herzogin war verwitwet und besaß eine einzige sehr schöne Tochter, auf die sie sehr stolz war, denn alle Leute sagten, sie sei so schön, wie sie selber gewesen in ihrer Jugend. Da war ein großes Fest in dem Palast, und viele Künstler zeigten sich und ihre Kunst, bekamen dann vom Haushofmeister ihr Geld, aßen in der Küche und gingen nach Hause. Der Geiger aber war wieder in den Saal gekommen, wie er sein Geld und sein Essen erhalten; und da niemand auf ihn achtete, so blieb er; und so stellte er sich allein in eine Ecke und sah dem Tanze[49] zu und blickte immer auf die junge Herzogin. Einmal war die junge Herzogin zu ihm getreten und fragte ihn: »Weshalb sehen Sie mich so an?« Er aber hatte geantwortet: »Ich bin ja nur ein Geiger«, und hatte sie sehnsüchtig angeblickt; da sagte sie: »Nimm mich.« In dem Gewühl waren die Beiden zusammen aus der Tür gegangen, sie hatte ein Tuch über den Kopf geworfen, seinen Arm genommen, und so verließen sie den Palast, ohne daß jemand sie bemerkte, und dann lebten sie zusammen in seiner Stube. Als ihre Mutter erfuhr, wo sie war, schickte sie ihr den Hofmeister und ließ sagen, daß sie nicht wieder zu ihr kommen dürfe; da hatten die Beiden über den komischen Diener gelacht. Wie es ihnen dann schlecht ging, weil der Geiger nicht viel verdiente, war das Mädchen als Schauspielerin aufgetreten, als Isabelle. Ihren ersten Satz sagte sie; als sie aber fortfahren sollte und sagen: »Leander, dir allein gehört mein Herz«, da hatte sie ihre Rolle vollständig vergessen. Leander wollte ihr helfen, er packte sie bei der Hand, zerrte sie nach vorn vor den Souffleurkasten und schrie sie an: »Was willst du mir sagen?« Aber das war wohl ungeschickt von ihm gewesen, denn nun verlor sie auch noch ihre letzte Besonnenheit, auch der Souffleur konnte ihr nicht helfen, und sie sagte ganz ängstlich, wie ein kleines Mädchen: »Heute früh habe ich es noch gewußt.« Das Publikum lachte, der Direktor kam wütend vor und sagte dem Publikum, daß die Dame krank sei, der Vorhang fiel, und sie durfte nie wieder auftreten.

Sie weinte, und ihr Mann küßte ihr die Tränen fort. Heimlich verschaffte sie sich Wäsche zum Waschen und wusch in den Stunden, wo sie allein war, um wenigstens etwas Geld für die Wirtschaft zu verdienen. Aber als dann das Kind erwartet wurde, befiel sie mit einem Male ein heftiges Fieber; sie redete irre, sie ließ die Hand ihres Mannes nie aus ihrer Hand, sie sagte immer: »Dich liebe ich so sehr, du bist so gut[50] zu mir«, und dann kamen ihr die Tränen. So starb sie; sie wurde vor dem Tor auf dem Anger begraben, weil sie zu den Schauspielern gehörte; ein Hügel wurde nicht auf das Grab gemacht; man stampfte die Erde fest und warf den überflüssigen Boden auseinander; ihr Gatte pflanzte ein Ahornbäumchen auf die Stelle, unter der ihr Herz unten lag, denn ein Rosenbusch oder ein an derer schöner Blumenstock wäre zu auffällig gewesen; es war verboten, die Gräber der Komödianten zu bezeichnen. In diesen Tagen, so erzählen die Schauspieler, soll er sein altes Gesicht bekommen haben. Damals tat er auch einen Schwur, niemals mehr für andere Leute Geige zu spielen, und weil er Talent hatte und mit seinem alten Gesicht so komisch aussah, so ging er nun als Schauspieler und spielte die Rollen des Doktors; er spielte sie lange Jahre hindurch und machte den Leuten viel Vergnügen. Bis zu seiner Zeit war der Doktor immer nur eine Nebenfigur gewesen, aber weil er ein so guter Schauspieler war, so wurden jetzt auch Stücke geschrieben, in denen der Doktor die Hauptrolle hatte. Zuweilen geigte er noch für sich allein, wenn er in seinem Zimmer war und niemand ihn hörte.

Als der Ahornbaum, der aus dem Herzen seiner Geliebten wuchs, in den langen Jahren immer größer wurde, da sah er einmal an ihm einen schönen geraden Zweig und dachte: der würde doch einen guten Bogen abgeben. So schnitt er ihn ab, nahm ihn mit nach Hause, ließ ihn gut austrocknen und schnitt dann aus ihm einen Bogen, drechselte die Ringe und die Schraube, dann bespannte er ihn; und wie alles fertig war, bestrich er die Roßhaare mit Kolophonium und geigte; da schien ihm sein Strich viel schöner als vorher.

Nun muß man bedenken, daß mit den Jahren aller Gram vergeht, und zuletzt tat es dem Doktor leid, daß niemand mehr sein Geigenspiel hören sollte. Wie einmal der Geiger krank geworden war, sagte er zu dem Direktor, er solle seine[51] Rolle heute einem Anderen geben, denn er möchte gern wieder einmal vor dem Publikum geigen wie in seinen jungen Jahren, wo er der berühmteste Geiger von Rom gewesen sei, daß sogar junge Herzoginnen sich in ihn verliebt hätten. Der Direktor lachte, wenn er sich vorstellte, daß eine junge Herzogin sich in den närrischen Doktor verliebt haben sollte, aber weil er ein gutmütiger Mann war, so gab er nach. Und so geigte denn der Doktor an dem Abend.

An demselben Abend aber war die Mutter seiner verstorbenen Geliebten, die nun inzwischen eine ganz alte Frau geworden, in das Theater gegangen. Sie saß vornehm in ihrer Loge in einem schwarzen Samtkleid, mit der seidenen Maske vor dem Gesicht, und hinter ihr stand ein Verwandter, von dem man sagte, daß er ihr Erbe sei.

Als der Bogen strich, der auf dem Grabe ihres Kindes gewachsen war, da wurde der Dame wunderlich zumute; sie lüftete die Maske und trocknete sich die Tränen. Der Herr beugte sich vor und fragte, ob er sie nach Hause führen solle, sie schüttelte aber den Kopf und lauschte auf die Töne des Geigers.

Als der Geiger geendet hatte und der Vorhang hoch ging, stand sie auf, nahm den Arm des Herrn und trat aus ihrer Loge; im Gehen sagte sie leise zu sich: »Fürwahr, ein gefallenes Kind ist besser als keines.«

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 48-52.
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