Die Repetieruhr

[301] Eine Barke gleitet langsam und zierlich den Po abwärts. Ihr großes Segel wird leicht geschwellt durch einen sanften, angenehmen Wind; ein Mann steht am Steuer, ein anderer hantiert das Segel; die übrige Mannschaft sitzt auf dem Rand der Barke, läßt die nackten Beine über Bord baumeln, hat die muskelstarken Arme über der haarigen Brust zusammengeschlagen und erzählt sich schöne Geschichten von Leuten, die früher kein Geld hatten und dann sehr reich geworden sind.

Eine vornehme Gesellschaft fährt mit der Barke, von Herren in goldbrokatenen Stoffen, mit Spitzenmanschetten, mit brillantenbesetzten Degen; auch einige Damen sind in der Gesellschaft, die eigentlich nicht so vornehm sind, aber das schadet nichts, denn sie sind dafür sehr hübsch und sind jung und sind viel schöner gekleidet, als wenn sie wirklich feine Damen wären.

Man wird sich nicht wundern, daß sich auch Lange Rübe auf der Barke befindet. Lange Rübe ist ein Kavalier, der sich überall sehen lassen kann; seine Unterhaltung ist interessant, fesselnd und belehrend, er beherrscht die Umgangsformen der guten Gesellschaft besser als diese selber, und sein Schneider bedient außer ihm nur noch Herzöge und Grafen, das ist Grundsatz bei ihm.

Lange Rübe sitzt neben einem jungen Herrn, der in Padua die Rechte studiert. Der junge Mann ist sehr sein angezogen. In der Hacke seiner Strümpfe ist sein Monogramm eingestickt. Das ist das Neueste, das man hat; er zieht die Schuhe aus und zeigt Lange Rübe das Monogramm. Er spricht so gut Französisch, daß er sich im Italienischen nur fehlerhaft ausdrücken kann. Er erzählt gelegentlich von den großen[302] Gütern seines Vaters, aber es fällt Lange Rübe auf, daß er einmal über die Unzuverlässigkeit der Bäckergesellen klagt, die schon manches schöne Geschäft durch ihre Nachlässigkeit und Unsauberkeit ruiniert haben, wenn der Besitzer nicht aufpaßt, denn die Kunden sind nicht so dumm, wie man denkt, sondern sie merken es ganz genau, wo es in einer Bude schweinisch hergeht.

Der junge Herr besitzt eine Taschenuhr. Eine Taschenuhr ist das Neueste, das man hat. Er zieht sie aus der Tasche und zeigt sie Lange Rübe; Lange Rübe hat noch keine Taschenuhr gesehen und bewundert das Werk und das kostbare goldene Gehäuse und die sein gearbeitete Kette; der junge Herr drückt auf einen Knopf, und die Uhr schlägt die Stunde, die man gerade hat; die anderen Herren, die Damen versammeln sich um die Beiden, hören verwundert zu, wie die Uhr schlägt, betrachten sie von außen, lassen sie sich öffnen und betrachten das Innere; auch von ihnen hat noch niemand eine Taschenuhr gesehen. Der junge Herr erzählt, daß diese Uhren in Deutschland gemacht werden, daß man sie nur durch besondere Geschäftsverbindungen bekommen kann, daß sie sehr kostbar sind, denn diese allein hat schon hundert Goldstücke gekostet, und es gibt noch kostbarere, denn sein Vater hat eine, die hat fünfhundert Goldstücke gekostet, er braucht eine Uhr, denn wenn er nicht weckt, von selber stehen die Leute doch nicht auf.

Und so vergeht denn die Zeit auf der Barke unter allerhand Gesprächen, Erzählungen und Scherzen.

Der junge Herr wird plötzlich blaß und schaut mit irrem und hilflosem Blick umher. Teilnehmend fragt Lange Rübe, was ihm ist, er antwortet eilig mit zuckenden Lippen lächelnd, ihm sei gar nichts, er fühle sich im Gegenteil wunderbar angeregt durch die geistreiche Gesellschaft. Verstohlen betrachtet er seine Hosenbeine, sieht unter die Bank. Lange Rübe flüstert ihm ins Ohr, er sehe seine Bewegungen, wahrscheinlich habe[303] er einen Floh; diese Tiere springen einen eben überall an. Hastig verneint der junge Herr; Lange Rübe besteht auf seiner Vermutung und schlägt ihm vor, er wolle seinen Mantel ihm mit über die Beine schlagen, dann könne er sich ordentlich kratzen.

Eine der jungen Damen kommt zu den Beiden, Lange Rübe springt auf und bietet ihr seinen Sitz an, der junge Herr erhebt sich und bittet um den Vorzug, daß sie seinen Sitz nehme; sie sagt, sie wolle niemanden vertreiben, und dann setzt sie sich neben den jungen Herrn, auf die linke Seite, denn auf der rechten sitzt Lange Rübe. Sie fächelt sich Luft zu mit einem kostbaren Fächer und seufzt tief auf, so daß sich ihr Busen erhebt, sie wirst dem jungen Herrn einen ermunternden Blick zu, dann fächelt sie auch ihm vor dem Gesicht und lacht; Lange Rübe stößt den jungen Herrn leise in die Seite und flüstert ihm ins Ohr, daß er ihn beneide, der junge Herr lächelt still, aber etwas zerstreut; die junge Dame seufzt wieder sehr tief, dann bringt sie das Gespräch auf die Uhr. Eine Freundin von ihr hat auch eine Uhr. Ein deutscher Herr hat sie ihr geschenkt, der sie sehr verehrte; nur weil er sie so verehrte, hat er ihr die Uhr geschenkt, das war der ganze Grund, die Verehrung. Ja, diese Freundin hatte eben Glück; andere Leute haben überhaupt Glück.

Hier erklärt nun der junge Herr plötzlich, seine Uhr sei ihm gestohlen. Er wolle ja niemanden beleidigen, denn es seien nur seine Herrschaften auf der Barke, aber seine Uhr sei fort. Er habe die ganze Zeit auf diesem Platz gesessen, und seine Uhr sei nicht mehr da.

Die junge Dame macht ein verstimmtes Gesicht. Lange Rübe aber spricht mit ernster Miene: »Nehmen Sie sich in acht, junger Mann, was Sie sagen. Ich sehe hier nur Kavaliere auf dem Schiff. Ich selber will nichts gehört haben; aber ich garantiere nicht für die andern Herren, wenn einer von ihnen[304] eine solche Bemerkung vernimmt; mancher von ihnen hat schon seine zehn Duelle gehabt; ich selber bin ein ruhiger, kaltblütiger Mann, aber man kann in Lagen kommen, wo man seinen Degen gebraucht; ich habe ihn auch schon gebraucht, so kaltblütig und besonnen ich bin; und mit Erfolg habe ich ihn gebraucht, mein Herr.«

Der junge Herr schwitzt. Die junge Dame hat sehr beschäftigt nach der Spitze des Schiffes hingesehen, wo einige Rollen Taue übereinanderliegen; nun steht sie auf, ohne ein Wort zu sagen; sie geht dorthin und betrachtet die Taue näher, indem sie sie mit ihrem Sonnenschirm betastet.

Der junge Herr klagt Lange Rübe, die Uhr habe zwanzig Goldstücke gekostet, er trage sie heute zum ersten Male, und sein Vater, dem er vorgeredet habe, er gebrauche eine solche Uhr bei seinem juristischen Studium, habe ihn noch ermahnt, er solle sie sich nicht stehlen lassen, denn eine zweite kaufe er ihm nicht. Lange Rübe wiegt bedenklich den Kopf und erwidert nur, es seien eben lauter Kavaliere auf der Barke, und er rate aus bestem Herzen dem jungen Herrn, seinen Verlust zu verschweigen.

Die Barke fährt an einem Dorf vorbei. Es ist Sonntag. Geputzte Bauern und Bäuerinnen kommen aus der Kirche, das Gebetbuch unterm Arm, den Rosenkranz in der Hand; sie gehen in kleinen Trupps zwischen den Maisfeldern. Von der Kirche schlägt es in abgemessenen Schlägen laut zwölf Uhr.

Plötzlich beginnt in der Tasche von Lange Rübe mit silberhellem Klang die Uhr des jungen Mannes zu schlagen.

Man muß sich über die Unvorsichtigkeit von Lange Rübe nicht wundern. Er wußte ja nichts von den Taschenuhren und konnte nicht wissen, daß diese von selber schlagen würde.

Der junge Herr ist plötzlich verändert. Mit sehr kühlem Ausdruck sagt er, der Herr Kavalier, und er betont das Wort »Kavalier«, habe wohl einen kleinen Scherz machen wollen.[305] Die Uhr in der Tasche schlägt inzwischen immer weiter. Der Scherz habe ihm auch sehr viel Spaß gemacht. Aber nun sei der Zweck ja erreicht, und er werde gewiß ihm die Uhr wieder zurückgeben. Hier schlägt die Uhr den letzten Schlag.

Verstimmt greift Lange Rübe in die Tasche und reicht ihm die Uhr mit der Kette. Der junge Herr besieht sie sich von allen Seiten, öffnet sie, besieht sie sich von innen, dann steckt er sie ein; er behält die Hand in der Tasche, in welche er die Uhr gesteckt hat. Nun fährt er fort und spricht.

Er könne dem Kapitän der Barke Anzeige erstatten. Das könne er, und dann werde der Herr Kavalier, er betont wieder das Wort »Kavalier«, in das Gefängnis spazieren. Es sei sogar eigentlich seine Pflicht, dem Kapitän Anzeige zu erstatten. Hier sieht er, wie Lange Rübe den Griff seines Degens faßt, und er fährt schnell fort, er wolle von seinem Recht nicht Gebrauch machen. Lange Rübe zieht seine Hand zurück, und der junge Herr fährt fort, es sei sogar sittlich, wenn er von seinem Recht keinen Gebrauch mache, denn vielleicht habe der Herr Kavalier, er betont dieses Mal das Wort »Kavalier« nicht, nur in einer augenblicklichen, wie soll man sagen, Verblendung gehandelt. Freilich, ein Mann aus gutem Hause werde ja nie so handeln.

Lange Rübe schweigt und senkt den Kopf, der junge Herr wird immer selbstbewußter, beginnt ihm auszumalen, welche Folgen seine Handlung für ihn hätte haben können, und stellt ihm endlich vor, wie der ehrliche Mann jedem ins Gesicht sehen kann und nichts und niemanden zu fürchten braucht. Er wird durch seine Worte selber gerührt, auch Lange Rübe wird gerührt. Sie reichen sich die Hände, drücken und schütteln sie.

Nun schweigen sie eine Weile und betrachten die auf und ab gehenden Menschen in der Barke, die Matrosen, welche auf dem Bordrand sitzen, der junge Herr sieht sich die Dielenritzen[306] genau an; dann fragt er Lange Rübe, was das wohl für eine junge Dame gewesen sein könne, die vorhin neben ihnen gesessen habe.

Lange Rübe warnt den jungen Herrn. Er sieht, daß er unerfahren ist und das Leben noch nicht kennt. Er selber, er kennt das Leben. Er warnt. Es ist schon manches Unglück gekommen durch solche Personen.

Der junge Herr wird immer begieriger, die Warnungen zu hören; er hat selber ja auch schon so etwas gedacht, wie Lange Rübe andeutet. Aber da klingelt der Kapitän der Barke. Die Barke legt an, die Brücke wird an Land geschoben, die Herrschaften steigen aus, die Kavaliere und die Damen, auch Lange Rübe und der junge Herr steigen aus. Der junge Herr schüttelt Lange Rübe zum Abschied die Rechte mit beiden Händen; er hat sich so gefreut, ihm näher treten zu dürfen. In wenigen Minuten ist der Landungsplatz leer und alle, die auf der Barke fuhren, sind in den verschiedenen Straßen der Stadt verschwunden.

Als der junge Mann allein ist, fällt ihm ein, einmal nach seiner Uhr zu tasten. Er tastet: die Uhr ist verschwunden; und dieses Mal hat er sie nicht wieder zurückbekommen.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 301-307.
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