Die Uhr

[239] Es gibt manche Berufe, von denen die Leute überzeugt zu sein pflegen, daß sie mangelhaft ausgeführt werden. Zu ihnen gehört der Dienst der Diplomatie und der Polizei. Diejenigen Männer, welche am meisten mit den Vertretern dieser Berufe zu tun haben, haben diese Ansicht am meisten; das sind für die Diplomatie die Militärs und für die Polizei die Juristen.

Wie das eigentlich zusammenhängen mag, kann uns ziemlich gleichgültig sein.

In Rom erwerben natürlich viele Juristen an den verschiedenen Gerichten des Heiligen Vaters ihre Nahrung; die meisten von ihnen haben mit der Polizei nichts zu tun, da sie sich mit den bedeutendsten Angelegenheiten der Christenheit beschäftigen müssen. Aber auch die Bürger der Stadt selbst, die ja an denselben Schwächen leiden wie die übrigen Menschen, müssen selbstverständlich angeklagt und verurteilt werden können, wenn sie morden, stehlen, unterschlagen oder rauben, und deshalb sind für sie zwei Stadtrichter eingesetzt, nämlich die Richter Matta und Brava, und diese haben sich natürlich ihr Urteil über die Polizei im allgemeinen und die Polizei des Heiligen Vaters im besonderen – vertreten durch den Polizeihauptmann Tromba – gebildet.

Seit alten Zeiten beherrscht die beiden Stadtrichter ein Gegensatz. Wenn der erste Richter zu einer Ansicht gekommen ist, so pflegt der zweite Richter die entgegengesetzte Ansicht zu wählen. Die beiden sind sich im Range gleich; der erste hat nur den Vorzug des höheren Alters, und diesem verdankt er denn, daß er die Ansichten zu bestimmen hat, der zweite muß sich ja natürlich nach ihm richten; denn da es herkömmlich ist, daß er nicht einen kontradiktorischen Gegensatz vertritt,[240] sondern den konträren, so ist seine Ansicht durch die Wahl des anderen schon mitgewählt; man kennt die Bedeutung des Herkommens in der Rechtswissenschaft. Ist der ältere Richter gestorben, so rückt der zweite natürlich in seine Stelle auf.

Der Richter Matta, der zur Zeit erster Stadtrichter ist, hat sich hinsichtlich des Polizeihauptmanns Tromba die für einen Richter an sich natürliche Meinung gebildet, daß er dumm sei, und daher hält ihn der Richter Brava also für einen sehr fähigen Beamten.

Es haben in der letzten Zeit einige Vorfälle stattgefunden, welche die Ansicht Mattas zu bekräftigen scheinen. Matta spricht schon laut aus, daß er beim nächsten Fußkuß, den der Heilige Vater ihm gewährt, auf Tromba die Sprache bringen wird. Der Heilige Vater liebt alle seine Untertanen gleichmäßig, und natürlich liebt er auch Tromba; aber man hält es in weiten Kreisen doch nicht für ausgeschlossen, daß Tromba das bekommt, was man eine Nase nennt.

An dem Wohlergehen der Polizei haben begreiflicherweise die Spitzbuben ein besonderes Interesse. Man wird sich also nicht verwundern, wenn an den Sonntagabenden, wo sie gesellschaftlich zusammenzukommen pflegen, bei ihnen viel über Tromba, seine Nase und Matta gesprochen wird. Lange Rübe erklärt, daß man die Pflicht habe, Tromba beizustehen. Tromba habe sich den Spitzbuben gegenüber immer als Ehrenmann benommen, und wenigstens er, Lange Rübe, sei auch ein Ehrenmann und fühle sich ihm verpflichtet. Einige Herren behaupten zwar, ihnen könne gleichgültig sein, was mit Tromba geschehe, aber die Haarige Marta, die erste Hehlerin, stellt sich auf die Seite der Langen Rübe und sagt, ihr sei in ihrem Geschäft mehr an der Anständigkeit der Polizei gelegen als den alten Herrschaften, und sie sage sich, wenn etwa Tromba seine Stelle verliere, so wisse man nicht, wer für ihn komme. Lange Rübe hat sich schon einen Plan ausgedacht;[241] er nimmt einen Kollegen als Gehilfen mit und geht gleich am Montag vormittag an die Arbeit.

Der Sitzungssaal des Stadtgerichtes enthält eine große Sehenswürdigkeit, eine der Sehenswürdigkeiten Roms, die von den reisenden Engländern immer aufgesucht wird, nämlich eine künstliche Uhr. Wenn sie die Viertel schlägt, so kommt auf der einen Seite ein Sbirre zum Vorschein, welcher einen Spitzbuben beim Kragen nimmt und auf die andere Seite durch ein Tor abschleppt. Wenn sie halb schlägt, so steigt aus dem Boden ein Richter auf seinem Stuhl und zwei Parteien vor ihm mit ihren Advokaten; der Richter erhebt den Finger, die Advokaten öffnen den Mund, die Parteien drehen sich um sich selber, und dann verschwinden alle. Bei den vollen Schlägen aber tritt oben aus dem Werk eine Justitia und bläst in eine Trompete. Dann erhebt sich ein Schafott aus dem Boden mit dem Scharfrichter, welcher das Beil in der Hand hält, dem armen Sünder, dem Richter und den Sbirren. Der Richter erhebt die Hand, und der Scharfrichter schlägt so oft zu, wie es Stunden sind. Man kann sich vorstellen, welchen Eindruck es auf den Heiligen Vater machte, wenn diese Uhr plötzlich gestohlen wäre.

Die Gerichtsstunden sind nun so verteilt, daß Matta den Saal am Vormittag benutzt, und Brava am Nachmittag.

Am Montag vormittag hat Matta gerade einen Taubenprozeß. Ein Taubenprozeß ist für einen Richter ungefähr das, was für einen Priester die Bekehrung eines Geizhalses ist, oder für einen General der Übergang über einen Fluß, auf dessen anderem Ufer der Feind steht. Matta ist also in sehr gereizter Stimmung.

Plötzlich erscheinen zwei Handwerker im Saal, grüßen, holen einen Tisch und stellen ihn unter die Uhr, setzen einen Stuhl darauf; der eine der Leute steigt hoch und macht sich an der Uhr zu schaffen, der andere betrachtet aufmerksam, wie der[242] erste arbeitet, und richtet bisweilen einen ermutigenden Zuruf an ihn.

Matta rutscht eine ganze Weile nervös auf seinem Richtersitz hin und her. Der Advokat des Klägers hält eine Tüte Anis hoch und spricht von den sittlichen Grundlagen des Staates und dem Schutz des Privateigentums, selbst wenn das Privateigentum nur eine scheinbar so unbedeutende Sache ist wie eine Taube, denn es kommt eben auf das Prinzip an. Matta hat schon lange nur mit halbem Ohr zugehört; jetzt unterbricht er den Advokaten und schreit die beiden Arbeiter an, was sie an der Uhr zu tun haben.

Lange Rübe, denn das ist der Mann, der oben an der Uhr wirkt, entschuldigt sich und sagt, der Herr Stadtrichter Brava habe seinem Meister aufgetragen, die Uhr nachzusehen, weil sie beständig vorlaufe. Matta erwidert, dann solle er das tun, wenn der Stadtrichter Brava Sitzung habe, und solle ihn jetzt nicht stören, denn er sei der Stadtrichter Matta. Lange Rübe entschuldigt sich wieder und sagt, er habe das nicht gewußt, und er werde wiederkommen, wenn der andere Herr da sei, nur müsse er vorläufig die Uhr wieder in Ordnung bringen, weil er einige Teile herausgenommen habe, denn sonst verstaube die Uhr. Matta setzt die Verhandlung eine Weile aus, und Kläger, Beklagte, Advokaten und Zeugen sehen dem Manne an der Uhr mit lebhafter Neugierde zu, indessen er selber in seinem Taubenakt studiert. So vergeht eine Weile, und Matta fragt, ob er denn noch nicht bald fertig sei. »Gleich«, erwidert Lange Rübe; »ich muß nur erst das Schneckenhaus wieder vorhaben, und die Kette über die Trommel legen, aber der Hebel schnappt mir immer zurück; wenn man die Uhr in der Werkstätte hat, dann hat man das in zwei Minuten, aber wenn man nicht recht ankommen kann, dann ist es möglich, daß es eine halbe Stunde dauert.« »Eine halbe Stunde? Sind Sie verrückt, Mensch?« schreit ihn[243] Matta an. Lange Rübe fingiert ein heftiges Erschrecken. »Nehmen Sie die Uhr ab und bringen Sie sie in Ihrer Werkstätte in Ordnung«, fährt Matta fort. Lange Rübe beeilt sich, dem Befehl zuzustimmen und bittet um einen dritten Mann, der die Uhr mit die Treppe heruntertragen könne; draußen werde er dann einen Wagen nehmen, um sie fortzubringen. Matta befiehlt einem Sbirren, den Leuten zu helfen; Lange Rübe nimmt nun die Uhr ab, und die drei gehen nach vielen Bücklingen von Lange Rübe; Matta ruft ihm nach, er solle sie aber an einem Nachmittag zurückbringen, nicht an einem Vormittag.

Der Sbirre hilft also die Uhr in den Wagen legen, die beiden Spitzbuben fahren mit ihr ab, und Matta setzt seine Verhandlung fort, indem der Advokat auf das Anisstreuen des Beklagten kommt.

Es ist gegen Mittag, und Tromba weilt gerade in seiner Wohnung im Kreise seiner Familie. Seine Gattin macht ihm heftige Vorwürfe, weil die Gattin des Zollinspektors ein neues seidenes Kleid bekommen hat, und Beppina schlingt die Arme um ihn, tröstet ihn und sagt, wenn sie groß ist, dann trägt sie immer wollene Kleider, die sind auch schön, und einen Schmuck kann ihr der Vater ja doch immer schenken. Lange Rübe klopft an, tritt bescheiden ins Zimmer, zieht die Mütze ab, bestellt einen Gruß vom Stadtrichter Matta und sagt, die Uhr liege auf dem Wagen, der unten vor dem Hause stehe. Dann geht er.

Tromba kennt natürlich Lange Rübe. Er weiß nicht recht, was das bedeuten soll, schnallt sich den Säbel um, setzt den Helm auf und geht die Treppe hinunter. Da steht wirklich ein Wagen; auf ihm liegt die berühmte Uhr, die Tromba natürlich kennt. Der Kutscher zieht den Hut und erklärt, die Rückfahrt habe er auch schon bezahlt bekommen. Kopfschüttelnd befiehlt Tromba dem Kutscher, nach dem Stadtgericht zu fahren, und schwingt sich neben ihn auf den Bock.[244]

Inzwischen ist der Taubenprozeß vertagt – denn ein Ende haben Taubenprozesse nie – und Matta hat sich für den Heimweg zurechtgemacht. Im Flur trifft er Brava. Gewöhnlich grüßen sich die beiden Herren nur kalt; aber diesmal kann es sich Matta doch nicht versagen, einige spitze Bemerkungen über die Störung zu machen. Brava weiß nicht, auf wen sie zielen; ein Wort gibt das andere, und so erfährt Matta, daß Brava den Uhrmacher gar nicht bestellt hat. Jetzt beginnt er einen Argwohn zu fassen. Der Pförtner des Hauses steht an der Seite; er fährt ihn ärgerlich an, wie er denn die fremden Männer mit der Uhr aus dem Hause lassen kann; der Pförtner erwidert bescheiden, es sei ein Sbirre bei ihnen gewesen, und da habe er gedacht, daß sie auf Befehl des Herrn Stadtrichters handelten. Matta beißt sich auf die Lippen.

Eben tritt Tromba in die Haustür, um sich zu erkundigen, was das eigentlich für eine Sache mit der Uhr ist. Matta ruft ihm mit gesteigertem Ärger zu, nächstens werde man ja wohl auch den Heiligen Vater aus seinem Bett stehlen, so vorzüglich sei die Polizei in Rom. Tromba wirft einen ratlosen Blick auf Brava, dieser sagt – er kann eine leichte Schadenfreude nicht verbergen: »Meinem Amtsbruder Matta haben die Spitzbuben die große Uhr aus dem Sitzungssaal gestohlen, und sie haben es so schlau gemacht, daß er ihnen noch einen Sbirren zur Hilfe mitgegeben hat.«

Nun ist Tromba im Bilde. Er zupft seine Uniform glatt, stellt sich stramm und sagt: »Melde gehorsamst, daß ich soeben die Uhr zurückgebracht habe.«

Matta eilt vor die Tür: Richtig, da steht ein Wagen, eben breitet der Kutscher eine Decke über sein Pferd, und in dem Wagen liegt die Uhr.

Er sagt zunächst nichts; endlich kommt über seine Lippen: »Es ist gut.« Brava ist auf den Wagen gestiegen, hat die Uhr hochgehoben, betrachtet; er fragt neugierig: »Aber, Tromba,[245] Sie sind doch ein Teufelskerl! Wie haben Sie das nur gleich wieder fertiggebracht!« Tromba strahlt. »Die Polizei hat ihre Geheimnisse, Herr Stadtrichter«, erwidert er. »Die Uhr ist da, meine Pflicht ist erfüllt.«

Wie Matta das nächstemal zum Fußkuß zugelassen wird, sagt der Heilige Vater zu ihm: »Ei, ei, Matta, du bist der, dem die Spitzbuben die schöne Uhr gestohlen haben! Wenn wir Tromba nicht hätten! Ja, ja, Tromba ist ein geschickter Mann, Tromba versteht seine Sache!«

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 239-246.
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