2. Szene

[231] Vorige, der sehende Wächter.


DER SEHENDE WÄCHTER kommt, bleibt überrascht stehen.

MARPALYE wendet ihm den Kopf zu, kleine Pause.

DER SEHENDE WÄCHTER einen Schritt näher, verneigt sich. Vergebt mir ... Ich wähnte, der Herr ...

MARPALYE. Deine Augen sind wie Feuer im Dunkel. Was hast du gesehen, Knabe?

DER SEHENDE WÄCHTER. Prinzessin ... Es fiel ein Stern ...

MARPALYE. Ein Stern?

DER SEHENDE WÄCHTER. Heute nacht ... diesen Morgen ... Ein Stern aus der Krone ... und wanderte dann immer näher ...

DER NARR. Ein Glühwurm irrte durch deine Kammer dir am Auge vorbei, als du schliefst.

DER SEHENDE WÄCHTER. Ich bin kein Narr und weiß, was ich sehe.

DER NARR lächelt. Ei ... ja ...

DER SEHENDE WÄCHTER Marpalye ansehend, immer ekstatischer. Ein Stern, Prinzessin ... über den Bergen stand er, glühend und groß, und wanderte dann auf eines Speeres Ende ... Ein Fremder[231] kam von jenseits der Berge ... Oh ... Ich möchte mit ausgebreiteten Armen gehen, das Neue grüßen, vor seinem Antlitz knien, nur ganz Gebärde sein, nur Schrei des Gequälten, der in die Ketten beißt. Dies alles hier, dies Zueinander längst unerregter Masse, stumpfes Vorbeisein, willenlos mitgeschleppt, ach, es martert, bindet und höhnt. Wie Gift ätzt jedes Wort, wie Geißel trifft mich das Lachen, das diese Mauern durchgellt in verachtender Öde ...! Zerbräche dies alles ...

MARPALYE springt auf. Zerbrich es ...!

DER NARR lächelt. Was wolltest du dann an seiner Stelle schaffen?

DER SEHENDE WÄCHTER. Was selbst ersteht, gläubig erwarten. Ich sah doch den Stern!

DER NARR. Warum fing er an deinem Speer sich nicht, dieser Stern, den du träumtest ...?

DER SEHENDE WÄCHTER. Träumte ...? Ich sah ihn mit diesen Augen vom Turm ... als ich Wache hielt ...

MARPALYE erschrickt. Du hast Wache gehalten? Diese Burg mit geschärften Sinnen bewacht ...?

DER SEHENDE WÄCHTER. Heute nacht ...

MARPALYE tief enttäuscht. Belians Turm ... mit deinen Augen bewacht ...? Ohne ihn anzusehen, schmerzvoll. Geh ... und melde dem Herrscher, was du gesehen ... Geh, du Knabe ... du schwärmender, eitler Knabe ... der vom Neuen schwatzt ... und das Alte bewahrt ...

DER SEHENDE WÄCHTER ohne zu begreifen, bittend. Prinzessin ...!?

MARPALYE zornig. Geh ...!

DER SEHENDE WÄCHTER geht langsam ab.

DER NARR nickt lächelnd, dann nimmt er die Laute. Ich sing dir mein Lied, Marpalye ...

MARPALYE sitzt wieder wie im Anfang, den Kopf nach den Bergen gewandt, leise schmerzlich. Singe ...


Während der Narr zu spielen anhebt, verdunkelt sich die Szene.

Verwandlung unter Donnermurren.


Quelle:
Bruno Ertler: Dramatische Werke. Wien 1957, S. 231-232.
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