6. Szene

[293] Königin – Orestes.


DER KÖNIG zu Mephisto, der sich tief verneigt.

Wo ist sein Herr?

MEPHISTOPHELES weist hinaus.

Geruht und seht:

Er wandelt mit Ihro Majestät!

KÖNIG zornig.

Geh!!


Mephisto ab.

Zu Orestes, sehr bewegt.


Seht Ihr es nun selbst, Orest?[293]

Sie meiden beide Spiel und Fest

und finden sich zum Stelldichein!

ORESTES.

Ach Herr, es mag ein Zufall sein.

Es ist noch Tag und jeder sieht,

was sich ereignet und geschieht.

KÖNIG.

Jawohl! Ich sehe! Du bist blind!

ORESTES.

Wer mag gleich Arges denken? Sind

wir alle nicht von seinem Wort

und seinem Geist in Bann geschlagen?

KÖNIG.

Das ist es ja! Ist er am Ort,

so wag' ich keinen Laut zu sagen.

Es liegt gebietend in der Luft,

ein jedes Ding scheint ihm zu lauschen,

oft hör' ich ferne Schwingen rauschen,

wenn mir sein Wort zum Herzen ruft.

Und einem Mann von solcher Macht

soll ich mein Liebstes blind vertrauen?

Ich nenne Schuld nicht und Verdacht,

doch offen ist der Sinn der Frauen,

daß vieles ohne Wahl sie fassen

und eins für alles gelten lassen.

ORESTES.

Nur große Liebe quält sich so.

Nie kann uns Gleichmut Gram bereiten.

Doch faßt Euch, Herr, seid wieder froh,

ich steh' Euch treu und wach zur Seiten.

Obwohl ich meine rechte Hand

für meine Schwester setz' zum Pfand,

so will ich scharf und nüchtern schauen,

daß keiner sie von rechten Wegen

verleiten soll. Habt nur Vertrauen

zu mir und meinem guten Degen.

KÖNIG.

Wenn ich nur seinen Namen wüßte!

Ich fühl' in ihm den großen Mann,

doch kommt's mich manchmal plötzlich an,

als ob er was verbergen müßte.

Sein Diener spricht von hohen Graden

und vieler Titel Schwergewicht.[294]

Allein ich weiß noch immer nicht,

wen ich an meinen Hof geladen.

Nun hat sein Wort und seine Art

das Fragen füglich mir erspart,

denn wo sich hohe Werte zeigen,

da mögen alle Namen schweigen.

Ich fühle ihn erst unbekannt,

seit ich als Mann den Mann empfand.

ORESTES.

Er mag nach allem äußern Schein

Gelehrter oder Dichter sein

und ist in seinem Vaterland

ganz ohne Zweifel weit bekannt.

Will seinen Namen er verschweigen,

ist ihm wohl tiefe Demut eigen.


Quelle:
Bruno Ertler: Dramatische Werke. Wien 1957, S. 293-295.
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