Zufriedene Stunde

[49] Zufriedene Stunde. Durch die offne Thür

Kommt vom Balkon die milde weiche Luft

Des niedergehenden Septembertages

Und, minder mild, der Lärm der Straße: Kreischen

Von Knaben, die sich balgen; helle Stimmen

Der kleinen Mädchen, Ringelreihe tanzend;

Das scharfe Kleffen meines Nachbarhündchens

Und dann und wann der tiefe Polterbass

Des Milchmannshundes. Auch das Läuten trägt

Der Pferdebahn zu mir der schnelle Schall,

Und, dumpfer, von der nahen Alster her

Den kläglich heisern Ton der kleinen Dampfer.


Zufriedene Stunde. Auf den Knieen das Buch,

»Jenseits von Gut und Böse« nennt der Vater

Sein wundersames Kind der Einsamkeit,

So auf den Knien das aufgeschlagene Buch,

Lass' ich den wirren Klang des Lebens lächelnd

Die zarten schüchternen Gedanken mir

Zurück ins dunkle Nest der Seele scheuchen.


Zufriedene Stunde. War ich je so fröhlich,

So herzensstill, so gütig? Oftmals schon

Schlug ich die Thür mit leisem Fluche zu,

Wenn so von draußen mit der plumpen Faust

Der wüste, rohe Lärm des Tages griff

In meine zarten feinen Seelenfäden,

Das kaum begonnene Gespinst zerstörend.

Doch heute kann ich's lächelnd dulden. Seltsam.[50]


Zufriedene Stunde. Ohn' warum, wozu.

Du dreimal Glücklicher, dem jeder Tag

Bringt solche Stunde, solche Stunden wohl.

Und giebt's nicht Glückliche, die immer so,

So fraglos, leben hin ihr ganzes Leben?

Ein wirrer Ton, ein unbestimmter Klang

In all den wirren, unbestimmten Klängen

Der wundersamen Lebenssymphonie,

Füllstimmen nur im wuchtig lauten Tutti.


Zufriedene Stunde. Oder nicht? Ist Schlaf

Nur diese Stille, diese satte Stimmung,

Die wunsch- und fragelose? Wie? Nicht Glück?

Nicht Glück für mich? Wenn sich dem wirren Lärm

Nun hell und klar, wie rieselnd Gold, entringen

Die zauberhaften Solostimmen wieder,

Die feinen kirrenden Zauberflötentöne?

Und in dem stillen dunklen Rattennest,

Das meine Seele nenn' ich, wird's lebendig

Und läuft und springt und drängt und pfaucht und pfeift?

Nein! tutti tutti! forte! con fuoco!

Recht brausend, lärmend, alles übertäubend!

Bum bum! tam tam! Nicht diese zarten, feinen

Geheimnisvollen Rattenfängersoli.


Zufriedene Stunde, stille, satte Stunde!

Ganz ohne Wunsch die eingelullte Seele,

So ruhefroh, so flach, so unbewegt –


Quelle:
Gustav Falke: Mynheer der Tod. Hamburg 1900, S. 49-51.
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