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[168] Elschen war nicht gestorben. Selbst kleine und zarte Mädchen sterben nicht so geschwind. Ich stellte mir nach dem Bilde, das mir der Kaplan am Namenstag geschenkt hatte, so etwas wie einen Wind vor, der da nur ein Flämmchen auszublasen habe. Aber Elschens Flämmlein hielt noch so fest am jungen Wachs seines Lebens, daß es wohl hitzig hin- und herflackerte, auf-und niederging, aber noch lange nicht erlöschen wollte.

Nach zwei Tagen waren die ärgsten Fieber vorbei. Das liebe Kind lag nun totenbleich und wie ausgebrannt in den weißen Kissen. Nur die Augen, die jetzt für ein so kleines Kind viel zu groß und angelweit aufgesperrt schienen, glühten noch eben mit jenem Lichtlein, das der Tod nicht auszublasen vermochte.

Ich und Paula gingen am Montag mit traurigen Gesichtern in die Schule, teils aus wirklicher Geschwisterliebe, teils auch aus kindlicher Wichtigtuerei. Denn es ist doch wichtig, ein tiefkrankes Schwesterchen daheim zu haben, wichtig, einen schwarzbefrackten Doktor täglich morgens und abends mit seinem Schimmel und seiner Kutsche vors Haus fahren zu sehen, vor allem aber wichtig, wenn der Lehrer in der Mitte zwischen Knaben und Mädchen steht, die trübe Brille putzt, sich feierlich räuspert und dann, den Blick schmerzlich auf den leeren Platz unseres Schwesterchens werfend, langsam sagt: »Kinder, unsere liebe Schülerin von der vierten Klasse,[169] das brave Elschen Walter, ist schwer krank. Betet, daß es bald wieder gesund wird! Besuchen dürft ihr es jetzt noch nicht. Aber dem Heireli könnt ihr euere Grüße und guten Wünsche mitgeben.« Und wichtig war es nun, wie alle Knaben und Mädchen auch auf den leeren Stuhl blickten, wo Elschen sitzen müßte, wenn es nicht krank wäre, mit seinen roten Puffärmeln, dem schlanken, geraden Hals und dem tiefbraunen, mit einem schildpattenen Kamm zusammengehaltenen, alles überflutenden Haar.

Paula wurde bei den Worten des Herrn Philipp Korn puterrot, ich aber lehnte mich in die Banklehne zurück und nahm mit souveräner Miene das Tuscheln und die vielen lieben Blicke als kameradschaftliche Teilnahme entgegen.

Die Krankheit Elschens hatte mich ernst gestimmt. Am Bette dieses Kindes mit den unschuldigsten Augen der Welt war ich mir so recht über meine Schuld klar geworden. ›Ist es etwa meinetwegen erkrankt?‹ fragte ich mich häufig. ›Kann es am Ende gar nicht mehr gesund werden, bis ich meinen gestohlenen Fünffränkler wieder zurückgestellt habe? Wohl möglich! Man hat auch schon derartiges erzählt, daß oft Unschuldige für Schuldige leiden.‹ Dieser Gedanke aber war mir von allen der furchtbarste.

Ich beschloß nun, täglich den Fünfer für das Brötchen auf die Seite zu legen. In der Woche macht das dreißig Rappen, in vier Wochen gerade hundertzwanzig[170] Rappen aus, also genau, was mir zum vollen Fünffränkler fehlt. Nach vier Wochen werde ich mit den Münzen zum Stoppelbauer gehen und den Fünffränkler umwechseln. Wenn er ihn dann nur noch hat! Denn mich dünkte, es müsse der ganz gleiche Taler sein, den ich gestohlen habe, sonst sei mein Vergüten doch kein volles Vergüten, es bleibe immer noch ein bedeutender Rest Schuld, den man nur mit jenem silbernen Leopold ganz hätte tilgen können. Mir stand das Haar zu Berge, wenn ich mir vorstellte, der Stoppelbauer gebe inzwischen dieses unersetzliche Silber aus. Daß doch die vier Wochen rasch verstrichen!

Mit diesem Taler wollte ich dann zur Mutter gehen und sagen: ›Mutter, da ist das gestohlene Geld. Schlag mich, aber verzeih mir!‹

Standhaft hatte ich bereits vierzehn Tage hindurch gespart. Schon lag ein ansehnliches Häufchen Fünfer beisammen. Ich hatte meine Not, sie gut zu verstecken. Während des Tages trug ich sie in meiner rechten und linken Westentasche, am Abend band ich die vielen Batzen in mein Nastuch und legte den Schatz wie ein Geizhals unter mein Kopfkissen. Oft griff ich beim Erwachen schnell danach, um mich zu vergewissern, ob mein Diebstahl nicht auch gestohlen worden sei.

Wenn um zehn Uhr die Schüler zum Bäcker in die Krone liefen und mit den frischen, braunrindigen, oft noch dampfenden Brötchen zurückkamen, und wenn ich dann meine Kameraden mit ihren braunen Zähnen[171] hineinbeißen sah, dann lief mir die Gier heiß über die Zunge, und zweimal mehr als sonst hungerte ich. Aber ich blieb fest. Oft mußte ich mich vor Paula verstellen, damit sie nicht merkte, daß ich gar nie mehr das Pausebrötchen kaufte. Dann kaute ich heuchlerisch und gab vor, wie das Brot doch heute vorzüglich schmecke.

»Ja, heute ist es sicher in Butter gebacken,« sagte mir einmal Paula nach einer solchen Verstellung. »Willst du noch ein wenig von meinem Brötchen?«

Sie hielt mir die Hände von der Schürze verdeckt entgegen.

»Nein, danke,« log ich, »ich habe selber noch das halbe in der Tasche.« Dabei verzehrte mich der Hunger.

Da streckte das Mädchen mir lachend die leeren Hände unter dem Tuch hervor. »Soviel könnte ich dir nämlich geben, nur soviel!«

»Soll ich mein halbes mit dir teilen?« sagte ich nun mit einer Frechheit, die ich sofort bereute. Ich griff an die Tasche, als wollte ich den Rest hervornehmen. Aber ich zitterte, daß Paula ja sagen könnte.

»Nein, nein, ich machte nur Spaß, ich bin ganz satt!« sagte die Schwester, und ich atmete wie aus einer großen Gefahr entronnen auf.

Eines Tages sagte mir Jakob: »Komm auch! Heute haben wir Zwieback!«

»So!« machte ich.[172]

»Warum kaufst du keine Brötchen mehr? Meine Mutter sagt, sie sehe dich gar nie!«

Verlegen stotterte ich etwas wie: ›Ich weiß selber nicht, ich habe keinen Hunger am Vormittag, ich kaufe schon wieder,‹ und so weiter.

»Dummheiten, wenn einer einen Fünffränkler wechseln kann! Jetzt komm.« Damit faßte er mich unter dem Arm und zog mich vor das Fenster der Bäckerei, die seinem Vater gehörte. Er klopfte gebieterisch ans Schiebfensterchen: »Fritz, zwei Zwiebackbrötchen!«

Der Geselle im weißen Schurz, das lange Haar an den nackten Armen mit Mehl bestäubt, wollte sogleich dem Sohne des Hauses willfahren.

»Ich nehme keines,« schrie ich so laut, als handle es sich da für mich um etwas Gefährliches. Ein Zwiebackschnittchen kostete nämlich zehn Rappen.

»Gut, so nehmen wir eines zusammen,« befahl Rex, »soviel wirst du doch aushalten – oder?«

Er warf einen Zehner aufs Gesimse und nahm eines der zwei Brötchen und biß hinein. Dann hielt er es mir hin.

Für mein Leben gern aß ich Zwiebackschnitte. Diese da aber war so eiergelb und duftete da, wo Rex abgebissen hatte, so köstlich nach frischer Butter, daß ich, vom Gelüste übernommen, gleichfalls einen Bissen nahm. Dann biß Jakob wieder ein Stück weg, und so wechselten wir ab, ohne daß einem vor dem andern geekelt hätte, bis ich noch den Rest kriegte.[173]

»Fünf Rappen!« heischte Rex nun, der es in Geldsachen wie alle Knaben unseres Alters sehr genau nahm.

Ich griff in die Weste und gab ihm den Fünfer. Aber augenblicklich kam ich mir wie ein unverbesserlicher Verbrecher vor. Dieser verkrämerte Fünfräppler wog in meinem Gefühl so schwer, wie nur je der Fünffränkler. Als ich heimging, hatte ich die mutige Zuversicht verloren, die mir die vergangenen Wochen hindurch so wohl getan hatte. Ich kannte noch nicht die moralische Bedeutung von einem Rückfall, aber ich fühlte das Häßliche und Beschämende davon doch sehr deutlich. Auch verdroß es mich unbeschreiblich, daß ich nun an jenem Samstagnachmittag, an dem ich zum Stoppelbauer gehen wollte, erst vier Franken und fünfundneunzig Rappen beisammen hätte, also gerade diesen verplemperten Fünfer zu wenig. Und dessent wegen mußte ich dann eine volle Woche länger warten. Denn nur am Samstagnachmittag hatten wir frei.

Indessen war meine Schwester, wie mich dünkte, fast genesen. Sie trug keine roten Fieberflecken mehr auf den Wangen gegen Abend, wie vorher immer noch. Nein, das hatte aufgehört. Sie sprach wieder wie früher, nur etwas leiser und langsamer. Nichts tue ihr weh, sagte sie lächelnd. Dennoch aß sie beinahe nichts, ihre Lippen waren immer so trocken und zerrissen, und man mußte Elschen stützen, wenn es am Nachmittag ein Stündchen aufstehn und an der Sonnenseite[174] der Stube, am wohlverriegelten Fenster sitzen wollte, das auf den grünen Kirchplatz sah. Wir lagerten uns dann um Elschen herum und erzählten, wie es heute in der Schule zugegangen sei, welche Mädchen aufsagen, welche an der Tafel rechnen, welche vorsingen mußten, welches den Aufsatz am besten gemacht habe, welches bestimmt sei, diese Woche die Tafel abzuwaschen und die Stube auszukehren. Und jedesmal fügte ich noch bei, welches Mädchen heute Schläge bekommen habe, und wollte in meiner bübischen Rauhigkeit gar nicht merken, wie wenig angenehm Elschen diese letzte Mitteilung war.

Von den Knaben erzählte dann Paula, denn ich galt als parteiisch. Ich rühme den Jakob zu sehr gegen den Theodor, tadelten meine Schwestern. Elschen aber wie alle kleineren Mädchen hatte viel mehr Gefallen an Theodor. Er kam ihnen wie der Erzengel Michael auf dem Altarbild unserer Kirche vor, dem er in der Tat im Gesichte und in der Haltung auffallend glich. Wenn er im vollen Golbgelock seines Hauptes, mit den sprühenden, blauen, aber so treuen Augen vor der Klasse stand, ein Bein ritterlich vorgestemmt und einen Arm in die Hüfte gespannt, und dann mit seiner hell erschallenden Stimme rief: »Heraus mit dem Georg, wenn er kein Zopf sein will, heraus mit dem Scheiwesepp! Heraus mit dem Helsenmarkus!« dann staunten diese Kleinen still und andächtig ihn an. Wenn er aber rief: »Heraus mit dem Jakob!« dann jubelten sie unbändigen Beifall.[175]

Die größeren Mädchen dagegen schwärmten heimlich für Jakob. Sie erkannten in ihrem reifern Sinn, daß Jakob fähiger, klüger und selbst noch körperlich anmutiger sei. Seine schlanke, unendlich biegsame Gestalt, das zarte Rot seines schmalen Angesichts, das verhaltene Feuer seiner Augen, seine geschickten Worte und etwas Unsagbares, Gefährliches und sehr zu Fürchtendes in seinem Wesen, das lockte diese schon von allen möglichen weiblichen Ahnungen erfüllten Jungfrauen weit mehr, als die gesunde, tiefgebräunte, kräftige Schönheit des Walomer und seine überstürzende Kraft. Doch mein Elschen und auch Paula zählten sich noch nicht zu diesen weisen Jungfrauen.

Wurde nun erzählt, wie die zwei wieder gerungen hätten, und fügte Paula wie gewöhnlich hinzu, daß Theodor diesmal sicher gewonnen hätte, wenn nicht der Lehrer zu früh dazugekommen wäre, dann lächelte Elschen mit einer innigen Zufriedenheit. Während aber früher ihr Lächeln das ganze Gesicht von der Stirne bis zum Kinn ergriffen hatte, lächelte jetzt nur noch ihr Mündchen. Daran erkannte ich, daß mein Schwesterchen immer noch krank war; doch auch daran noch, daß sie schon in einem kurzen Satz innehalten und rasche Atemzüge tun mußte, wie ein Vögelchen während des Trinkens.

Am Freitag der vierten Woche – zum Taler fehlten mir nur noch zwei Fünfer – blieb Elschen zu Bette. Schon gestern war ihr minder wohl gewesen.[176] Der Arzt behauptete, das Wetter sei schuld daran. Denn seit drei Tagen hatte die strenge Kälte dem Föhn weichen müssen. Der Schnee schmolz in einem Tage vom Millionär zum Bettler zusammen. Die Dächer rauschten von kleinen Bächlein, über den Hügel hinunter liefen die Quellen wie kleine Flüsse, die ganze Natur sah wie aus der großen Wäsche gekommen aus. Bei solchem Witterungswechsel, flüsterte uns die Magd zu, entscheide sich eine Krankheit gerne zum Bösen oder Guten.

Elschen klagte, daß sie wieder Schwindel habe, schon, wenn sie nur über das Bett hinausschaue. Sonst sah sie aus wie immer. Wir spielten um ihr Bett. Berta Walomer war da, und mit ihr war Theodor gekommen, der mit täppischer Hand Elschen über das seidenfeine Haar strich und immer sagte: »Krank, so krank!«

Meine Mutter brachte einen Teller voll Mandeln und Zitronensternen, die Elschen mit heißen Blicken ansah, aber wovon sie kein Krümchen kosten durfte. Während nun Berta eifrig aß, rührte Theodor nicht eine Mandel an.

»So nimm doch,« ermunterte ich ihn und stieß ihn an.

»Darfst du wirklich keine essen, Elschen?« fragte Theodor und bemühte sich nach Kräften, seine laute Stimme zu bändigen.

»Nein, Thedi, iß du die meinigen!« bat Elschen.[177]

»Also!« machte Theodor und nahm nun hie und da ein Stück vom Teller. Aber ich sah genau zu, wie er es eine Weile in der hohlen Hand barg und dann unbemerkt, während er dazu hustete oder sich schneuzte, in der Tasche verschwinden ließ. Ach, er wollte sie aufheben und dann einmal mit Elschen essen. Ich erzählte es hernach den Schwestern. »So etwas wäre deinem feinen Jakob nie in den Sinn gekommen,« meinte Paula. Elschen aber lächelte, und diesmal spielte die Freude nicht bloß um ihre blassen Lippen, sondern färbte ein bißchen sogar die Nasenspitze und drang in die großen Augen. Sie lächelte wie in gesunden Tagen.

Berta erzählte, ihre Base im Bezirksort sei gestorben, und die Eltern, das heißt der Vater und die Stiefmutter, würden erst abends spät von der Beerdigung heimkommen. In unserer gesunden, kindlichen Unbefangenheit fiel keinem ein, daß ein solches Gespräch an diesem Bett unpassend sei, am wenigsten Elschen selber. Denn sie fragte nun sogleich: »Würdet ihr gerne sterben?« Dabei schaute sie uns alle zugleich an.

»Ich nicht,« fiel ich vorschnell ein. Bevor meine Fünffrankengeschichte nicht geregelt war, wollte ich überhaupt nicht sterben, und auch nachher noch ziemlich lange nicht.

»Wenn man wüßte,« bemerkte altklug die strenge Berta, »daß man nachher gleich einem Engel in den Arm fiele, ja, dann schon!«[178]

»Das weiß man aber doch nicht!« bestritt ich.

»O ja doch, das weiß man!« lispelte Elschen.

Sie schloß glücklich die Augen, denn sie erinnerte sich, wie gestern der Pfarrer gekommen; wie man darauf alle Türen zugetan, so daß sie mit dem freundlichen Geistlichen ganz allein war; wie sie ihm dann das kleine Büchlein ihres Lebens ausplauderte, mehr Dummheiten als Sünden, mehr Unwissenheit als Übelwollen. Jetzt war ihr sehr wohl. Sie wußte, daß der liebe Gott alles verziehen hatte, selbst jenen bösen Augenblick, wo sie den Finger ins Honigschüsselchen getaucht und zweimal – oder war es dreimal? – sie will lieber sagen dreimal – daran geschleckt hatte. Längst hatte sie das der Mutter gebeichtet. Doch nun wußte auch der Pfarrer alles, nun hatte es keine Not mehr, nun war ihr wirklich leicht, so leicht, als zöge sie in einem durchsichtigen Wölklein durchs Blaue hinauf und immer noch höher hinauf. Engelchen sah sie bis jetzt noch keine, aber sie glaubte doch hinter der Tapete und mitunter neben dem Bette und zwischen dem gefalteten Vorhang hervor ein süßes Kichern und Summen zu hören, wie von Geisterchen, die sicher sehr bald etwas von ihrem himmlischen Wesen sehen lassen würden, sei es ein goldenes Haarschöpfchen, sei es einige Federchen von den kurzen, spitzigen Flügeln, mit denen sie an der Kirchenwand gemalt sind.

»Und du, Thedi,« fragte Elschen und strengte sich an, ihm ins Gesicht zu schauen, »möchtest du auch nicht sterben?«[179]

»Was denkst du, ich?« antwortete Theodor bestürzt, »was soll dann aus dem Zuchtstier werden, der sich nur von mir füttern läßt? Und meine zwei Geißen, wo sollen die hin? Ich habe doch jetzt nicht Zeit zu sterben, ich – nein, Elschen – du lachst mich aus, aber –«

Elschen lächelte wirklich.

»Da sieh einmal unsern Tyras an! Wenn ich nur einen halben Tag fort bin, heult er zum Erbarmen.«

»Das ist wahr,« gestand Berta.

»Auch muß ich später für den Vater auf den Viehmarkt gehen und Rosse kaufen; und, eja! ins Militär muß ich auch, zur Kavallerie, die reitet, ja, ja, das muß ich, siehst du, es geht schon nicht anders!«

Elschen hatte noch etwas auf der Zunge. Sie bedachte sich ein wenig, wurde rot, aber sagte dann rasch: »Aber, Thedi, mit mir sterben?«

»O mit dir sterben,« erwiderte statt des Knaben Schwester Paula, »sogleich wollte ich das!« Sie stand Theodor gegenüber auf der anderen Bettseite und schmiegte sich zärtlich an Elschen.

»Du wirst auch nicht sterben, dummes Zeug, so zu reden!« polterte Theodor nun und fuhr ihr wieder über das Haar, was sie nicht ungern zu leiden schien.

»Nein, wer denkt denn auch ans Sterben? Die Base, mußt du wissen, war schon zweiundachtzig Jahre alt. So ein junges Vögelchen läßt man doch nicht schon ausfliegen!«[180]

Überrascht blickte ich Theodor an. Woher hatte er dieses wunderbare Wort?

Der rauhe und doch feinfühlige Bube merkte sogleich, wie sich eine leise Traurigkeit wie ein durchsichtiger Schleier über das kleine kranke Gesicht legte, und fügte darum unmittelbar bei: »Aber wenn du und ich nach vielen Jahren einmal miteinander sterben dürfen, dann nehmen wir doch den Tyras mit. Man weiß ja nie, was einem auf dem Weg passieren kann.«

»Aber er dürfte nicht bellen,« bemerkte Elschen freudig.

»O er wird artig sein. Schau', ich machte nur so –« er hob den Zeigefinger – »und der Hund kriecht mir vor die Schuhe.«

»Ja, das ist wahr,« bestätigte Berta streng und beinahe zornig, weil alles so richtig war, was der Bruder sagte und sie in nichts widersprechen konnte.

»Aber ich würde doch gerne sterben,« seufzte Elschen, ohne irgend zu wissen, was eigentlich leben und was sterben heißt. »Ich würde euch dann zuschauen vom Himmel herab am Abend, ja, ja, durch den Abendstern wie durch eine Brille. Und ich würde schon sehen, was ihr treibt!« schloß sie vergnügt und schier ein wenig schlau, indem sie dachte, wie sie uns etwa auf einer Heimlichkeit ertappe.

Bei diesen Worten schrak ich zusammen wie von einer Wespe gestochen. Ah, sie würde wahrhaft wie jeder Geist alles sehen hier unten auf Erden, nichts[181] könnte man mehr geheim halten. Wie ich das gestohlene Geld in der Tasche herumtrüge, wie ich es nachts unter das Kopfkissen schöbe, alles sähe sie. Die ganze Dieberei läse sie mir dann aus dem Herzen, denn diese Geister sehen auch in die letzte Falte der Seele hinein. Nein, das durfte nicht sein, Elschen mußte leben, wenigstens, bis ich kein Dieb mehr war. Morgen ist Samstag, da gehe ich über den Melzberg zum Stoppelhofer und er muß mir bei Gott und Seligkeit den Belgier wieder geben. Es fehlen mir nur noch fünf Rappen daran. Die will ich ihm vierfach nachzahlen, wenn ich nur jetzt, um Gottes willen jetzt das Silber zurück bekomme!

Das Kind fühlte sich sehr müde, als der Besuch ging. Es schlief fast den ganzen Abend, und wenn es die Augen offen hielt, schien es immer noch zu schlafen, oder es war so zerstreut oder versunken, als lebe es in einer anderen Welt.

Am Samstag kam mir die Mutter sehr ernst vor. Der Pfarrer und der Doktor waren schon früh beim Schwesterchen gewesen. Auch der Lehrer Philipp Korn kam noch rasch vor Beginn der Schule, und als er zu uns in die Lehrstube trat, blickte er zuerst auf mich mit einem seltsam roten Auge. Ich sah, daß er mir etwas sagen möchte, aber etwas, was er ebenso ungern sagte, als ich es ungern anhörte. ›Wenn er nur nicht zu meiner Bank herunterkommt,‹ dachte ich, ›wenn er nur nichts sagt! Es ist sicher nichts Gutes!‹ Philipp Korn schwieg denn auch.[182]

Aber in der letzten Stunde, da wir ein kriegerisches Gedicht von Körner deklamieren sollten, schlug er das deutsche Lesebuch zusammen und fing an, uns Geschichten zu erzählen, was er sonst nur zweimal im Jahre tat: am Silvester und in der Fastnacht. Doch waren es eigentlich keine richtigen Geschichten, wie wir Kinder sie liebten und woraus wir ersahen, wie es einem lustigen oder traurigen Menschlein von den Windeln an bis zu einem goldenen oder doch gut silbernen Ruhebänklein des Lebens durch manche vorherige Fährlichkeit erging. Nein, nicht so plauderte Philipp Korn jetzt. Da, wo er bisher mit der Schilderung aufhörte, da begann er jetzt. Er redete vom Weggehen aus der Welt. ›Aha, das ist es, was er mir allein hat sagen wollen!‹ dachte ich dabei, ›aber das geht ja nur Elschen an, vielleicht nicht einmal Elschen!‹ Und ich las es den andern Schülern vom Gesichte ab, daß sie ganz gleich urteilten wie ich. Ja, ich hörte den Namen meines schwer kranken Schwesterchens mehrmals über die Bänke schweben.

Doch bald merkten wir, daß es uns alle gleichmäßig berührte, weil wir alle ja sterben müssen.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 168-183.
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