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[183] Es war eine Geschichte vom losen Fräulein Leben und von der gestrengen Frau Ewigkeit, die auf einer Heerstraße zusammentrafen und ein Stück weit mitsammen gingen. Jene war heiterblau, diese dunkelgrau bekleidet. Aber sie gingen nicht allein. In ihrer Mitte[183] Arm in Arm, klapperte ein dürrer, hagerer Geselle mit, Gevatter Tod.

Nun entspann sich ein merkwürdiges Dreigespräch.

»Du bist ein Schurke, Tod!« sagte mit saftendroten Lippen frischweg Fräulein Leben. »Ich sollte dich eigentlich aus dem Arm schütteln.«

»Aber, ich bitt' schön, hübsche Jungfer Bas', man verschwärzt und verleumdet mich.«

»Nein, du bist der edelste Helfer!« rühmte die alte Mutter Ewigkeit mit ihrem pergamentgelben Gesicht und ihrem straff gescheitelten, silbergrauen dünnen Haar.

»Ahne, das ist zuviel Ehre – –«

»Was bist du denn,« fragten die Weiber, »wenn man dich weder loben noch schelten darf?«

»Ich bin nichts, gar nichts ohne euch. Ich bin der letzte Buchstabe von dir, liebes Bäschen, und bin der erste Buchstabe von dir, ehrwürdige Großmutter Ewigkeit. Aber wenn ich nicht wäre, wäret auch ihr nicht. Du, regsames Jüngferchen, hättest keinen geruhigen Feierabend und du, stille Ahne, hättest keinen Morgen. Seht, ich bin euch so nötig wie der Abend dem Tag und der Nacht nötig ist.«

Die Greisin nickte, aber Bäschen Leben meinte: »Warum tötest du dann auch Kinder? Menschen mitten im Morgen? sag', Lügner!«

»Sei höflich, Bäschen, ich lüge niemals! – Du wirst doch nicht glauben, daß ich eine so mechanische, stumpfsinnige, irre Uhr in der Weste trage wie ihr[184] Menschen. Wenn ich sage: ein Tag, – so meine ich nicht durchaus den achtzigjährigen Gemeindeammann von Lachweiler. Das ist an der lebendigen Gottesuhr, nach der ich mich richte, vielleicht noch lange kein Tag. Und ich meine nicht durchaus ein zehnjähriges Kind von Heirelis oder Walomers. Das ist vielleicht an meiner Uhr schon viel mehr als ein Tag. Eure Uhren taugen alle nichts. Sie gehen alle über einen Leisten. Und doch hat kein Mensch die gleiche Zeit. Jeder hat eine andere Uhr, mit andern Stunden und Jahren. Du freilich, Bäschen, glaubst, jeder Mensch müsse so und so viele Paar Schuhe durchgetrampelt haben. Da irrst du. Die Schuhe sind nicht die Hauptsache. Das Seelchen im Leibe ist die Hauptsache. Das sagt von selbst, wie früh oder wie spät es ist. Ich habe schon Seelchen aus dreijährigen Körperchen entbunden. Die waren reifer, als viele Neunziger. Und ich habe Seelen aus Achtzehnjährigen geholt. Die waren welker als Sechziger. Ich,« sagte der Tod und klopfte klirrend an seine Knochenbrust, »ich mache sie nicht reif oder welk. Ich bin nur der Finger, der sie pflückt, der Rücken, der sie vom Diesseits ins Jenseits trägt. Gott winkt und ich hole die Gezeichneten. Gewiß, ich meine es gut. Aber ab und zu wollen die Seelchen nicht recht mitkommen. Sie schauen immer wieder zurück und vergaffen sich ins Hintenliegende und wollen nochmals Wurzeln in den verbrauchten Boden schlagen. Da muß ich sie zerren und reißen, oft mit Schweiß und Blut,[185] bis sie gehorsam folgen. Doch deswegen bin ich kein böser Führer, sondern sie sind böse Gespanen.«

Nun nickte auch Fräulein Leben ganz wenig.

»Jetzt hör' noch, Bäschen, gerade deine Lustigen, deine Jungen, deine Kinderchen folgen mir am liebsten. Ein Greis mit seinem goldenen Feierabendgesicht ist gewiß ein prächtiger Himmelfahrer und tief senken die Patriarchen und Propheten vor ihm ihre Standarten. Aber wenn so ein süßer grüner Schlingel, Mägdlein oder Bübel, das noch wie ein voller, roter Rosenstock dasteht und lacht, wenn ich's anfasse, nun mit allen hundert Blumen und Räuchlein in den Himmel wirbelt, so daß der ganze Saal von solcher Jugend zu duften anfängt und es den grauesten Engeln schelmisch zumute wird und sogar unser alter Stammvater ein Schnadahüpferl aus dem weiland Paradies zu pfeifen probiert: na, meine Damen, das ist dann doch wahrhaft noch viel köstlicher anzuschauen!«

Mit dieser Erklärung war Bäschen Leben zufrieden und wollte dem Gevatter dankbar die Hand drücken. – Aber, denkt euch, meine Kinder, da stand schon niemand mehr zwischen ihm und der alten Mutter Ewigkeit. Sie zwei gingen allein Hand in Hand mitsammen.

Da sagte Jüngferchen Leben: »Liebe Großmutter, ich habe dir die Hand gedrückt. Verstehe wohl, ich habe den Tod gemeint!«

Und die Ewigkeit darauf: »Bäschen, merkst du[186] nicht, daß es nichts Drittes zwischen uns braucht! Das ist ja eben der Tod, wenn wir uns die Hand drücken. Jetzt gerade ist eine schöne liebe Seele wieder frei geworden und gen Himmel gefahren.« – – –

So ungefähr und weiter noch vieles erzählte der Lehrer in seiner seltsamen Art, die Augen bald schließend, bald durch die Fenster hinaus weit, weit über das falbe Winterland in eine unendliche, ferne Gegend schickend. Die Bauern sagten, er sei ein Philosoph. Die reden nämlich so spiegelklares und spinnwebwirres Zeug durcheinander.

Wir Schüler meinten, solange Lehrer Philipp redete, seinen Satz haarscharf zu verstehen. Eine Minute später vernebelte sich uns wieder alles. Aber einen Klang von Trost hatte dieses Märchen doch in mein Bubenherz geläutet.

Als ich indessen auf dem Heimweg aus der Schule das dichtverhängte Kammerfenster wieder erblickte, hinter dem meine arme kleine Schwester lag, da kam mir das Kranksein und Sterben auch für so junge Geschöpflein, nach denen der Himmel hungert und die er mit Zinken und Flöten empfangen will, dennoch wie ein schwarzes Unglück vor. »Nein, nein, liebes Bäschen Leben,« sagte ich, »gib dieser grauen harten Großmutter doch ja nicht etwa deine warme Hand! Elschen soll noch auf Erden bleiben, und ich helf' ihm dazu, soviel ich kann. Ich und du, Base, wir selbander, werden doch sicher über das graue Weiblein Ewigkeit Meister.«

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 183-187.
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