8

[187] Von der Haustüre bis zum Estrich ging eine heimliche aber große Unruhe durch unser Haus. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich meine Mutter mit ungekämmtem, scheitellosem Haar. Elschens Fieber stiegen so hoch, daß die Kleine uns nicht mehr kannte. Der Arzt hatte Eis verordnet. Aber bei diesem Tauwetter gab es ringsum nicht einmal mehr Schnee. »Mutter,« sagte ich wie erleuchtet, »ich hole am Tannsee einen Sack voll. Dort gibt es noch genug Eis.« – Und ohne ihr Ja oder Nein abzuwarten, sprang ich in meine Kammer und rechnete auf der Bettdecke nochmals genau mein Kleingeld zusammen: einen saubern Zweifränkler, neun Zwanzigräppler und dreiundzwanzig Halbbätzler. Jeden dieser Fünfer kannte ich genau. Den verbogenen besonders gut. Mit ihm hatte ich das erste Brötchen gefastet. Und als ich den glänzenden hier mit der laufenden Jahreszahl in die Weste schob, da hatte ich schon einen Franken erspart. Der mit dem Rostflecken, ach, das war der unselige, den ich gegen das Zwiebackbrötchen herausbekommen hatte.

Dreimal zählte ich, ob die Summe wirklich vierhundertfünfundneunzig Rappen betrage.

Ich knüpfte den ganzen Haufen jetzt vorsichtig in mein Nastuch ein, dann lief ich ungestüm den Hügel empor, den Eissack auf der Schulter und den Pickel in der Hand. Der Marsch war mühselig wegen des kotigen Weges und überaus traurig, so oft ich an den[188] gleichen Spaziergang vor vier Wochen in eitel Lust und Übermut zurückdachte.

Bald hatte ich den Sack gefüllt und sprang jetzt mit klopfendem Herzen zum Bauernhof hinüber, über dessen Dach ein niedriger, zerstreuter Rauch kroch. Es war Vesperzeit. Durch die Haustüre gelangte ich unmittelbar in die Küche. Hier saßen an der Seitenwand mitten im blauen, erstickenden Rauch der Bauer, sein Weib, eine ältere Tochter und das Gesinde beim Kaffee. Unter dem Tische hervor knurrte ein schwarzer Hund.

»Was will der Junge?« fragte der Stoppelbauer.

»Ich – ich möchte wohl – gerne mit Euch reden!« – Mit großer Scheu knüttelte ich meine Geldkatze aus den Hosen, »und – ja – eben – ich möchte gern den Fünffränkler zurück, den ich Euch vor vier Wochen gegeben habe, Ihr wißt wohl noch, wegen dem Heimfahren – da sind vierhundertfünfundneunzig Rappen. Es fehlt nur noch ein Fünfer,« fügte ich kleinlaut bei, »aber ich will Euch dafür am nächsten Samstag zwei Fünfer bringen.«

»So gib ihm den Fünffränkler,« sagte die Frau zum Manne, »wenn es so ist. Er wird eben lieber sein Stück wieder haben.«

»Ja, so wie die Frau sagt! – Ich möchte meinen Fünffränkler wieder.«

Der Bauer schnitt sich ein Stück Käse ab. »Ja – den Fünffränkler habe ich nicht mehr. Alles[189] Silber ist am Dienstag auf den Markt in die Stadt gegangen.«

Bei dieser Eröffnung war mir wahrhaft, ich werde in einen Abgrund geworfen. Die Leute am Tische blickten mich mitleidig an.

»Was liegt dir denn am Fünffränkler?« fragte die Frau wohlwollend und führte mich zu einem Stuhl. »Sitz ab! Du kommst vom Dorf. Dort gibt dir der Pfarrer oder der Wirt zur Krone gern einen Fünffränkler für deine Münzen.«

»Aber, das ist dann nicht mehr der gleiche!« versetzte ich beinahe weinend.

Die Bäuerin schenkte mir eine Tasse voll und meinte zum Manne gewendet: »Es ist vielleicht sein Taufbatzen oder sein Zahngeld. Das wechselt man nicht gern.«

Mich beschämten diese guten Worte. Nein, es war nicht das Patengeschenk, es war einfach ein gestohlener Fünffränkler, und nur dieser gleiche Fünffränkler, meinte ich, könne mich vom Fluche der Sünde retten.

»Könnte ich ihn vielleicht wieder bekommen?« fragte ich in meiner Verzweiflung. »Es war der König Leopold von Belgien darauf, der mit dem Bart und langen Kopf.«

»Nein, Bub, wo der ist, weiß Gott allein! Vielleicht schon überm Meer! Aber höre, jeder Fünffränkler ist auf den Rappen gleichviel wert.«[190]

Mir füllten sich vor Bitterkeit die Augen. »O ihr versteht mich nicht,« rief ich von Schmerz überwältigt und stand rasch auf.

»So trink doch aus!« bat die Frau. »Bist du nicht Walters, der Älteste?«

»Nein, ich muß heim,« sagte ich und riß mich eilends los. »Ich habe einen Sack Eis geholt.« Damit sprang ich unvermittelt aus der Küche, ohne Abschied. Nur auf der Schwelle rief ich über die Schulter zurück: »Danke!« – doch wußte ich nicht warum.

Ach, keinem kann ich beschreiben, wie elend mir um die Seele war auf diesem Heimgang. Als ich in unser Tal hinunterstieg – es war sehr neblig gegen Abend geworden – da sah ich schon von der Halde aus, daß in der Kammer Elschens helles Licht glänzte. Aber auch im übrigen Haus war überall Licht. Weitaus am stärksten glänzte es jedoch aus der Krankenkammer. Eine große Beunruhigung erfaßte mich. Was ist das? Kein gewöhnliches Licht! In mächtigen Sätzen sprang ich den Hügel hinunter, rannte ins Dorf hinein und kam voll Schweiß und Angst über die Treppe zur Stube.

Die Tür war offen, aber die Stube stand leer, nur die Lampe brannte auf dem Tische. Auch die Türen der Küche und des Speisestübchens standen ordnungslos offen. Keine Seele herum! Ob der Diele hörte ich ein fernes Gemurmel, und nun glaubte ich[191] auch reichlich Kerzenrauch zu riechen. Oben bei Elschen war man also!

Mit Eissack und Pickel erstürmte ich die Stiege. Im obern Stock flutete mir aus der offenen Kammer Elschens das Licht vieler Kerzen entgegen. Paula trug eine, die Mutter, die Magd, die Patin eine, und sie alle knieten mit den Kerzlein, hinten gegen das Fenster auch der Lehrer und seine alte Mutter und zwei Schülerinnen. Der Pfarrer stand am Fußende des Bettes und betete aus einem Büchlein mit rotem Schnitt. Aber das alles schwamm dunkel wie ein Haufen Schatten zwischen meinen Blicken und den Lichtern hin. Elschen konnte ich nicht sehen. Ihr Bett mit dem hohen Kopfende stand mir entgegen. Ich sprang über die Schwelle vor und stieß einen Schrei aus vor Schrecken.

Da lag ja mein Schwesterchen so tief und steif und so klein im Kissen wie eine Puppe von Wachs. Die Augen waren noch offen, aber sahen auf niemanden, sondern blickten, wie mir schien, statt heraus in sich hinein. Die Händchen waren gefaltet und preßten ein schwarzes Kreuzlein. Die kleinen, weichen Furchen an den Fingergelenken schienen weggewischt. Voll und faltenlos war alles Fleisch an ihr. Die bläulichen Lippen ließen eine Spalte offen, durch die man die weißen Oberzähne schimmern sah.

»Elschen!« würgte ich hervor und ließ Pickel und Sack fallen. »Ist sie tot? Ist sie tot?«[192]

Dann fiel ich neben den Leuten, die ihren Arm nach mir ausstreckten, auf die Knie und fing an, das Beten der Versammelten durch mein lautes, ungeheuerliches Weinen zu stören. Schließlich drückte die Mutter mein Gesicht in ihre Schürze, und nun weinte ich stiller, wie man weint, wenn aller Widerstand gebrochen ist.

»Es ist jetzt bei den Engeln!« flüsterte mir die Mutter zu.

Da hob ich den Kopf ein wenig und betrachtete Elschen scheu. ›In der Tat,‹ dachte ich, ›es schaut und lauscht ganz anderswohin als wir.‹

Nun fing Paula wieder an zu weinen.

»Es ist ihm besser, als uns hier,« wandte die Mutter sich gegen meine Schwester. »Auch sieht es uns ja. Es ist ein Engel. Und die Engel sehen uns bis ins Herz hinein.«

Das sprach die Mutter gegen Paula gewandt. Aber ich fühlte es der Stimme förmlich an, daß mir allein diese Worte gelten konnten.

Furchtbarer als je erfaßte mich jetzt im Angesicht der Leiche der Gedanke, daß Elschen in diesem Augenblick meine Sünde schon wisse – oder daß ihm der liebe Gott meine Schlechtigkeit erzähle.

›Weißt du auch, Elschenengelchen,‹ wird er sagen und mit seiner heiligen Hand den braunen Scheitel der Schwester streicheln, ›weißt du auch, dein Bruder da unten ist ein ziemlich schlechter Bube.‹[193]

Elschen würde ganz beschämt seine Flügelchen, die ihm kaum recht angewachsen sind, hängen lassen.

›Was meinst du, wieviel der Erzdieb deiner Mutter gestohlen hat? Etwa zehn Rappen oder einen halben Franken? Schau, einen Fünffränkler!‹

Und jetzt würde Elschen vor Schrecken die Flügel sträuben wie ein geängstigtes Vögelchen, und wenn man im Himmel noch weinen könnte, so würde es nun sicher weinen. Und wahrlich, es wird eines Nachts herunterfliegen und an mein Fenster pochen und rufen: ›Heireli! gib das Geld zurück, ich darf mich ja sonst im Himmel nicht einmal neben den mindern Engeln zeigen!‹

Ja, es kommt und wird mich erschrecken und mir gar keine Ruhe lassen. Bald wird etwas im Kasten krachen, bald unter dem Bett liegen und seufzen, bald am Kissen vorbeihuschen, vor der Türe mit den Füßen scharren oder zum dunkeln Fenster bleich hereinschauen. Ich bekomme böse Träume, ich werde gar krank, ach Gott, wie schrecklich ist das!

Hätte ich doch den Fünffränkler beisammen!

Wieder sah ich aufs Bett. Rein wie Schnee war da alles, das Linnen, die Stirne, der Totenkranz. Wie durfte ich mit meiner Sünde neben diesem reinen Wesen stehen? Wird es nicht plötzlich erwachen und schreien: ›Mein Bruder da ist ein Dieb, schafft ihn doch aus meiner stillen Totenkammer!‹

Elschens Lippen waren jetzt so bleich, als wäre nie ein hitziges Wort darüber gekommen, und die kleinen[194] Hände waren so weiß, als hätten sie nie etwas Schmutziges berührt, nie etwas Unerlaubtes probiert, vor allem nie gestohlen; und das hatten sie auch nie! Nein, diese Hände hatten immer nur gegeben!

Ja, einmal – wie kam mir das jetzt nur in den Sinn? – da aß ich mein Brötchen in der Pause mit einem so schnellen Hunger, daß Elschen herzulief und mir ihr noch unangegriffenes Brot herhielt und sagte: »Heireli, nimm meines auch, du hast Hunger!«

Und ich nahm es und aß es vor den Augen Elschens fertig. – O, welch ein Mensch war ich! Und ich bin nicht besser geworden, nein schlechter, jetzt habe ich gar gestohlen, ich bin ein Dieb neben diesem Engel, o! –

In diesem Augenblick überkam mich die Zerknirschung so wütend, daß ich alles vergaß, was um mich herum war. Ich schrie laut auf, zerrte mich von der Mutter los und sprang in meine Kammer! – Dort riß ich das Geld unter dem Kissen hervor, lief zurück, stürzte vor der Mutter hin und rief: »Mutter, Mutter, da ist das Geld!«

Ohne auf sie oder Paula oder die Leiche mehr zu achten, gerade, als würde ich von einem innerlichen Sturme gerüttelt, knotete ich die Zipfel des Nastuches auf, riß es dabei in Fetzen und warf das Geld klirrend und weiterrollend vor uns auf den Boden. Dann hob ich die Hände und schrie mit einer Stimme, die ich selbst nicht mehr kannte: »Mutter, – es fehlen noch[195] fünf Rappen! – Fünf Rappen – fehlen – noch!« wiederholte ich und brach dann über dem martervollen Geldhaufen zusammen.

»Nun hab' ich doch kein Kind verloren!« hörte ich die Mutter sagen, ich spürte ihr warmes Auge und ihre Lippen auf meiner Wange. Dann brauste es über mich wie ein Wind, und ich verlor die Besinnung.

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 187-196.
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