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[196] Ich erwachte in meinem Bett, gerade als der Arzt seine weiße Manschette vom Handgelenk in den Ärmel zurückschob, um mir den Puls zu greifen. Sogleich fiel mir das Auge wieder wie von selbst zu. Aber ich hörte den Doktor leise zählen, über hundert hinaus.

»Jede Aufregung muß vermieden werden, Frau Walter,« sagte der Arzt und ließ meine Hand los. »Lassen Sie niemand herein! Ihr Knabe muß die Krankheit schon lange mit sich herumgetragen haben.«

»Wird es schlimm kommen?« fragte die Mutter leise. Ihre Stimme sollte fest erscheinen, aber sie zitterte doch ein wenig. Ich hörte ungemein scharf.

»Es kann eine Krankheit zum Heile sein!« versetzte der Arzt ausweichend.

Das verstand ich nicht. Wie Fensterladen am hellen Mittag schlossen sich mir wieder die lichten Sinne, und dunkel wurde es wie früher. Aber doch schoß es mir noch durch den Sinn: ›Ich habe bekannt, zurückgegeben, mir ist[196] wohl!‹ Und wie in etwas Weiches zurückfallend, schlief ich ein.

Als ich nach Wochen wieder aufstand, bleich, unsicher in den Sohlen und mit zitternden Fingern, da hatte man Elschen längst begraben. Ende März durfte ich an einem sommerlich warmen Nachmittag zum erstenmal mit Paula auf den Friedhof gehen. Das schmale Grab duftete von Veilchen. Paula erzählte mir, daß die Blümchen aus Kronenwirts Veilchenwiese stammen. Aber nicht Jakob, nein Theodor habe sie mitsamt den Wurzeln der Mutter gebracht, um Elschens »Totengärtlein« damit zu zieren. Der Walomer sei zu Jakob gegangen und habe seinen Gegner darum gebeten, was Theodor nicht so leicht geworden sei. Er bittet nicht gern, besonders nicht seinen Gegner!

Kaum hörte ich darauf. Auch die goldschnäbeligen Amseln, die zu oberst auf den Friedhofbäumen saßen und süß wie eine Orgelpfeife sangen, und das leise Geflüster im heimlich ergrünenden Geäst beachtete ich nicht. Sondern ich blickte von Elschens Grab suchend über die anderen Gräber hin, als müßte da irgendwo neben dem guten Schwesterchen auch der alte böse Heireli begraben sein, jener Heireli, der fünf Franken gestohlen hat. Nirgends sah ich das gesuchte Grab; dennoch fühlte ich mich als ein anderer, neuer Heireli.[197]

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 196-198.
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