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[64] Als mich die Morgensonne weckte, war mein erster Gedanke – etwa Andreas Marxele?

Fehlgeschossen!

»Der große Redner der Zukunft, der neue Heiland der Volksfreiheit, der – –«

Halt ein – du beschämst mich! Erinnere dich doch, daß ich im leichtsinnigsten Jahre des Lebens stand und daß heute Schmutziger Donnerstag war!

Ach, ich dachte an Blechmusik, an Fleischtörtchen, an unsern Umzug und an ein unerlaubtes Tänzchen zu Nacht.

Die Fastnacht ist nirgends so groß und schön wie in den Dörfern hinten im Lande. Jedes Haus hat für sich Fastnacht und auf dem ärmsten Tische duften schon am Morgen Birnenwecken zum Kaffee. In Küchen, die nur das gesottene Rindfleisch das Jahr über kennen – ein so ausgesottenes Rindfleisch, daß die Katze es dem Hund und der Hund der Katze überläßt – gibt es zu Mittag nun Braten vom Lamm oder einer fetten Ziege und geräucherte Schweinswürstchen, die wie ein Kranz im Sauerkraut liegen. Am Abend aber wird[64] vor jeder Stube Buttermilch mit einem saubern Besen zu weißen, schaumigen Flocken geschlagen und die Herrlichkeit mit Nüssen und gedörrten Birnen genossen. Zur besseren Verdauung schüttet man ein Spitzglas Zwetschgenwasser den fetten Speisen nach.

Das ist die Fastnacht im Hause. Dann kommt die Fastnacht mit den Nachbarn. Die Schlagsahne füllt einen größern Kessel, zu den Wecken gesellt sich ein Apfelkuchen und statt der Zwetschge wird heute Kirsch geschnapset. Ein Dorfkünstler nimmt die Mundharmonika oder eine verquiekte Handorgel, und nun wird durch die niedrige Stube gewalzt, daß die Loden stäuben, die alten Stühle klappern und Großmutter das Fenster öffnet, um frische Luft zu schnappen.

Endlich die Fastnacht im großen Dorfrahmen, die Buden mit roten alten Ladenweibern und Eierringeln und gebackenen Männchen und Fräulein; der Geruch von Bratwürstchen und sauren Leberchen, der aus der Krone dem Vorübergehenden in die Nase strömt; die geschlossene Schulstube; der Umzug der Bürschchen unter vierzehn Jahren verbunden mit Bogenschießen und Abendessen in der Krone; der wandernde Schabernack, den die Jünglinge durch das Dorf aufführen mit Verkleidungen, schrecklichen Masken, drolligen Kapriolen, bissigen Inschriften auf den Stangen und der gelungenen Verspottung irgendeiner Dorfschwäche oder sogar eines vaterländischen Gebrechens; endlich am Abend eine Bauernkomödie im großen Saal der Krone, halb aus einem[65] alten Hefte, halb aus der witzigen Eingebung des Augenblicks aufgespielt und mit einem Beifall belohnt, der Hände und Füße gleichmäßig benutzt und aus ehrlichem Herzen weint und lacht. Nicht vergessen will ich die nächtigen Straßen, gefüllt mit Liedern der Holzpfeife, mit Jodeln heiserer Kehlen, mit Laternenlichtern, schwankenden Schatten und wohl auch mit dem Geflüster eines verliebten, tief im Häuserdunkel wandelnden Paares. Von Zeit zu Zeit knarrt ein Fensterchen im Studierzimmer des Pfarrers. Kopfschüttelnd und seufzend schließt der Hochwürdige es wieder. Die Fastnacht geht noch immer um! – Er schlägt das welke Evangelienbuch auf und sucht sich für den nächsten Sonntag einen möglichst strengen Text aus. Nach einer Weile öffnet er den Scheibenflügel wieder. Ach, noch tanzt die eitle, schöne Herodias! – »Tanze nur,« murmelt der Geistliche, »aber morgen ist doch Aschermittwoch« – Und ein Lächeln der Genugtuung spielt flüchtig um seine Lippen. Er nimmt eine Prise Schnupftabak zwischen die Finger, schnupft aber nicht, sondern versinkt in ein tiefes Nachdenken.

Er sieht im Geiste die Kirchleute in gemessenem Zuge zur Chortreppe hervortreten, niederknien und das Haupt beugen, um die Asche auf den Scheitel zu empfangen. Wie viele verschiedene Köpfe! – er kennt sie alle! – Da ist der Gemeindeammann Markus, der mühsam seine steifen, achtzigjährigen Beine krümmt. Sein weißhaariger Kopf ist breit und stark wie eine[66] Bergkuppe. Die Vorsätze, die da herauskommen, sind wie Felsen. Aber der Lehrer Philippus Korn, der den Schülern vorausschreitet, trägt einen kleinen, spitzen Schädel und durch das spärliche, bleichbraune Haar schimmert ein weicher Grund. – Zierlich gekräuselt und von eleganter Form erweist sich der Wirbel des Gemeindeschreibers, während der Kronenwirt kurzes, struppiges Haar auf seinem echten Römerhaupte zeigt. Der Walomerbauer, der reichste im Dorfe, hat einen viereckigen Schädel, und fast immer duftet er vom Heu und hat noch einige fahle Halme im schwarzen Haare stecken. Es kommen die Häupter der Ratsherren, meist sorgfältig gekämmt und noch glänzend vom Salatöl, womit sie sich gesalbt haben, der Waisenvogt, kahl wie ein Zementboden, der Nachtwächter, langhaarig, unruhig und so aufgeschüttelt, daß sogleich jede Aschenspur in den Strähnen verschwindet; der Sägmeister, dem eine unbewachsene, vernarbte Stelle über den Wirbel läuft und der jedesmal mit unehrerbietiger Hand die Asche auf dem Rückweg wieder wegstreicht, weil sie ihn unerträglich kitzle. Die von den Hügeln haben alle blondes steiles Haar, runde Köpfe, vorstehende, dicke Ohren und von irgendeiner neulichen Schlägerei noch rote und braune Merkzeichen. – Jetzt folgt die Schar der Jünglinge, voran die Studenten. Der geistliche Träumer sieht deutlich den gescheiten, kurzgeschnittenen, vom blonden Haar geradezu leuchtenden Kopf Jakobs, Walters blasses, braunes, langes Haar, Josephs frommes Haupt, das[67] gleichsam schon nach der Schere ruft, um sich die Tonsur zu schneiden; dann den wilden, ungestümen Krauskopf des Theodor Walomer, nun die langen, kurzen, vier-, fünf- und mehreckigen Köpfe der Schulbuben und endlich die weichen, noch kaum fertigen und doch so eigensinnigen Schöpfe der Büblein unter sieben Jahren.

Aber alle diese Häupter beugen sich, alle begraben die Fastnacht unter dem Ernst eines neuen, weiterblickenden Lebens. Es geht ein Zug von Buße durch die Menschenzeilen und auch er, der Pfarrer, wird in der Sakristei das graue Haupt beugen und den Kaplan sprechen hören: »Gedenke, o Mensch, daß du Staub bist und zu Staub zurückkehrest!« – »Ja, ja alles ist Staub, alles ist Wind, außer Gott und seiner Gerechtigkeit!« – murmelt der Priester und schlummert nun doch leise ein, während die Lippen sich noch lange wie im Gebet bewegen und die Finger die Tabakprise pressen.

Ein Schrei schallt schrill von der Straße.

Zwei Männer fallen in enger Verschlingung vor der Kronenstiege zu Boden und ringen in stummer Wut weiter. Der Sägmeister Simon faßt den Georg Scheiwe, einen jungen Bergbauern, an der Gurgel, daß dieser keucht wie ein Erstickender. Aber Georg wälzt sich schwer auf den Bedränger und stößt ihm zweimal das Knie so kräftig in den Bauch, daß der lange Simon von der Säge den Hals des Gegners losläßt und vor Übelsein schwitzt. Doch greift er gleich wieder nach dem geschwollenen Gesichte Georgs und will ihn an Ohr[68] und Haar fassen. In diesem Augenblick kommt der kleine, breitschultrige Wirt die Stufen hinunter, packt die zwei Wütenden mit je einer Hand am Genick und zieht sie wie Erhenkte vom Boden auf. Dann schüttelt er sie so derb, daß sie wie Säcke umfallen, sowie er sie abstellt. »Streit will ich keinen auf meinem Boden, ihr Lümmel, und erst recht nicht wegen einem dummen Weibsbild, verstanden?« – Männer kommen aus der Wirtschaft und führen die halb Bewußtlosen heim. Dorothea Frommer aber, die umstrittene Jungfrau mit dem glänzenden Korallenhalsband, tanzt lustig mit jedem hübschen jungen Kerl, der sie darum fragt, Walzer und Polka weiter. Winkt ihr aber ein Student und vorab der siebzehnjährige Theodor Walomer, dann gibt sie Körbe nach allen Seiten und dreht sich allein nur noch mit ihm und noch einmal so gelenk auf ihren spitzen Füßen. Und so sicher tanzt sie, daß sie weder rechts noch links auf die Seite zu blicken braucht; sondern immer hängt ihr Auge an dem Kraushaar, dem starken Flaum und den lachenden, blauen Augen des reichen Jünglings, der schon wie ein Mann aussieht. Und doch weiß sie, daß die schöne, aber arme Tochter des Wegmachers Sebastian Frommer einen solchen Herrensohn nie heiraten darf. Denn auch das Dorf hat seinen Adel und seine Plebejer und hält auf strenge Etikette.

Der Saal stinkt von Zigarren, halbgeleerten Gläsern, verkalteten Speiseresten und dem trunkenen Atem der[69] Tänzer. Die Lampen werden bleicher, hinter den Vorhängen wird der fahle, dämmerige Morgen sichtbar.

Der Pfarrer erwacht vom rasselnden Geschrei seiner Weckuhr. Ihn friert. Ei sieh! – er reibt sich müde die Augen – da hat er auf dem Stuhl genächtigt und – wahrhaft! – noch immer die Prise Tabak zwischen den Fingern. Er schnupft und niest und steht neu belebt auf. Gott sei's gedankt, die Herodias hat ausgetanzt und der Bussprediger Johannes ist wieder Meister im Dorf! –

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 64-70.
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