Einleitung.

In der guten alten Zeit hatte im Bregenzerwalde wohl jedes Dorf und jedes Dörflein seine Linde, sein sog. Kaufhaus oder sonst einen öffentlichen Platz, wo nicht nur die Jugend sich versammelte zu Spiel und Tanz, sondern wo auch die ernsteren Väter oft und gerne ihre Schätze von Lebensweisheit zum Nutzen und Frommen aller öffneten. Nicht nur Dorfneuigkeiten wurden auf solchen »Stubata« zusammengeschwemmt; diese hatten für jeden Gemeindebürger die Bedeutung einer Schule, indem er hier zum Landsbräuchlichen erzogen wurde, durch ehemalige Fremdler, die nun in Ehr' und Ansehen bei den ihren lebten, Kunde von der Welt erhielt und sich dabei sein Urteil über Menschen und Sachen frei nach seiner Eigenart bildete.

Oft und oft bestätigte sich schon in solchen Versammlungen der Ausspruch eines ungarischen Abgeordneten:

»Ein gesprochenes Wort wirkt und kann nützen, immer aber schadet es weniger als ein ungesprochenes.«

Die alten Bregenzerwälder waren ganz andere, als ein ihnen ferner Stehender hätte glauben können, was man freilich auch vielen Kindern der jetzigen Zeit – nur in[328] umgekehrtem Sinne – nachsagen muß. Unsere Väter waren die Verfasser des Jahrhunderte zu Recht bestandenen Landsbrauches, durch den sie sich selbst ihr schönstes Denkmal gesetzt haben, und auch die von ihnen auf uns gekommenen Sprüche und Redensarten beweisen, daß sie nicht nur über Milchwirtschaft und Käsebereitung nachzudenken pflegten.

Sie ist nun vorüber, jene Zeit, wo aus dem Auge jedes jungen »Wälders« die stolze Hoffnung, einmal Landammann zu werden, herauszuleuchten schien, doch lebte die Erinnerung an sie immer im Gedächtnis und noch mehr im Wesen der Besten des Volkes fort.

Die Versammlungen unter den Dorflinden haben aufgehört, denn unsere Verhältnisse scheinen nicht nur größeren Volksversammlungen, sondern auch den harmlosesten Zusammenkünften ungünstig zu sein. So ist es denn jenen Guten und Tüchtigen nicht mehr gegeben, auch die anderen zu und mit sich zu ziehen, und in viele Sümpfe verläuft sich der mächtige Strom, der den Verkehr zu beleben, der alle zu tragen vermöchte. Unsere Feste sind, wo ihnen der frohe Tanz und das freie Wort fehlen, zu gemeinen Schlemmereien geworden, von denen die Besseren sich bald mit Widerwillen ins sog. Herrenstüble zurückziehen. So hat sich, dank dem Bemühen unserer Erzieher und Leiter sowohl als ihrer gutmütigen Helfer und Helferinnen, auch, hier jene bedauerliche Trennung der Klassen zu vollziehen angefangen, an der die jetzige Gesellschaft krankt. Selbst wo nach dem Ausspruch unserer Dichter alle gleich sind und sich als Gleiche fühlen, in Wirtshäusern, in Kirchen und auf Friedhöfen, gibt es bevorzugte Plätze, auf die der gewöhnliche Mensch nur noch mit dem Gefühle des Neides zu blicken vermag.

Aber einen Platz hat das Volk noch, wo es sich frei[329] bewegt, wo Mißtrauen und Neid noch immer vergebens ihren Samen streuten, damit er aufschieße riesengroß und die Menschen sich zwischen dem Unkraut wie auf einer Prärie vorkämen – dieser Platz ist – die Sennhütte.

Nach des Tages Mühen und Sorgen kommen hier die Dorfbewohner mit den gefüllten Butten zusammen, um den Segen des Stalles, die Milch, die hier gesennet wird, sich messen und aufschreiben zu lassen. Jeder kommt hieher als abhängiger Bauer, als Arbeiter und in seinen Werktagskleidern, wie er den Kuhstall verläßt; daher gilt denn auch immer der am meisten, der die anderen am besten unterhält. Früher war es gewöhnlich der beste Spaßmacher, jetzt, seit dem man etwas ernster worden, ist es der Zeitungsleser oder wer sonst Kunde zu bringen weiß von dem, was in der Welt geschieht.

Der von wenigen kapitalbesitzenden Händlern abhängige Bauer fühlt seine Lage zu ähnlich der der Arbeiterbevölkerung größerer Orte, als daß die Arbeiterbewegungen, von denen die fleißiger, als man glaubt, gelesenen deutschen Zeitungen berichten, ihm hätten gleichgültig bleiben können. Und wie überall wurden auch hier mit der sozialen zugleich die politischen Fragen in den Kreis der Beratungen gezogen.

Es gibt und gab Leute, die das als ein trauriges Zeichen der Zeit schmerzlich beklagten. Es gab solche, die von heiliger Stätte aus diejenigen zu bekämpfen suchten, die einem zeitgemäßen Gedanken zum Ausdruck verhalfen; doch die Tat schlug in ihr Gegenteil um, da durch das so erregte Aufsehen gar mancher aus seinem krankhaften Schlummer geweckt und so der Wirkungskreis der Angefeindeten nach allen Seiten erweitert wurde.

Mißverständnisse und Verwechslungen des Sachlichen mit dem Persönlichen konnten um so weniger ausbleiben, in[330] je weiteren Kreisen der Gedanke der Sennhüttler, die Produzenten zu eigenen Unternehmen zu vereinen, besprochen wurde.

Es dürfte nun endlich Zeit sein, sowohl Freunden als Gegnern in einigen Gesprächen, die der Verfasser kürzlich zu belauschen Gelegenheit hatte, die Grundgedanken jener früheren Unterredungen unverfälscht vorzulegen.

Der hier auftretende Lehrer hat im letzten Sommer als Maurer in der Fremde allerlei gehört und gelesen; er ist daher nicht immer, ja nur selten eins mit dem etwas behaglichen Vetter Michel, den man jedoch im ganzen keinen Stockbauern, sondern einen ziemlich fortgeschrittenen liberalen Michel nennen darf.

Dem Verfasser, einem Bregenzerwälderbauern, fällt es nicht ein, mit einem Cicero1 oder auch mit weit Geringeren zu wetteifern; aber beim Bauen wird man wohl auch die gemeinen Arbeiter brauchen können. Also einstweilen Steine zusammentragen, seinerzeit werden sich die Anstreicher schon finden! Dem »Ruf aus Vorarlberg« folgen diese Gespräche. Die einfache, freilich mir auch bequemste Form verrät den Wunsch, daß sie auch in weitern Kreisen gehört und erwogen würden.


Franz Michael Felder.

Fußnoten

1 Cicero wird hier genannt, weil Felder eine Stelle aus dessen Tuskulanen 1,16 gegen Ende des »Zweiten Gespräches« zitiert.


Quelle:
Franz Michael Felder: Gespräche des Lehrers Magerhuber mit seinem Vetter Michel, in: Franz Michael Felders sämtliche Werke. Band 4: Erzählungen und kleine Schriften, Leipzig 1913, S. 328–362, S. 328-331.
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