Elftes Kapitel
Wie man schiebt und geschoben wird

[156] Wieviel auch, seit man das »Volk« als Kunstobjekt zu behandeln begann, über Bauern und besonders über Bauernmädchen geschrieben wurde, es ist doch immer noch fraglich geblieben, ob die guten Kinder sich mit der Kirchweih mehr die Woche vorher oder nachher in Gedanken beschäftigen. Wahrscheinlich wird man, wenn noch dreißig Jahre Dorfgeschichten geschrieben und alle deutsche Erdenwinkel durchstöbert sind, sich für die Woche hernach entscheiden.

Bei einzelnen kann das schon jetzt als ausgemacht gelten. Zusel hatte nicht viel, wenigstens gar nichts Besonderes gehofft. Nur einmal ein wenig Lärm wollte sie haben, und nun war aus dem Spaße ganz unvermutet Ernst geworden. Jetzt[156] war der Ehrgeiz des Mädchens wach. Was sich so wie von selbst angezettelt hatte, das mußte nun fort und fertig gewoben werden, damit sie sich vor Hansjörg, wenn er wiederkam, nicht mehr so gleichsam in ihrer Blöße sehen zu lassen brauchte. Der Bursche war ihr jetzt wieder viel im Sinn, woran vielleicht auch die von Jos gemachten Anspielungen einige Schuld haben mochten. Sollte wirklich der Vater ihn in des Kaisers Rock gebracht haben? Sie fragte, horchte, sah in den Rechnungsbüchern nach und ergab sich nicht mehr, bis es ihr klar geworden war, daß der Krämer wirklich nur Mathisles Abhängigkeit benützt habe.

Aber diese Entdeckung wirkte jetzt nicht mehr so, wie sie noch vor wenigen Monaten gewirkt haben würde. Wohl konnte sie den armen Burschen bedauern, aber sein Briefhandel war dadurch nicht entschuldigt. Hansjörg war eben ein Mensch, der so wenig fest auf seinem Platze stehen konnte als der Heuer. Ob aus der nämlichen Ursache, war ihr jetzt ziemlich gleichgültig. Ihr Liebhaber mußte ein ganzer Mann sein; woher es ihm kam, blieb ihr immer das nämliche, wenn es nur da war. Hansjörg und der Heuer, sie waren sich so ziemlich gleich, denn beide zogen schon vor dem ersten Hindernisse jämmerlich ab. Das waren keine Männer; einen Mann aber wollte sie nun an ihrer Seite wissen, der sie schützen und jeden Angriff von ihr abwehren konnte.

Als Jos sie mit seinem Spotte erröten machte und der Heuer rat- und tatlos neben ihr sitzen blieb, da hatte die Stolze es einmal ganz durch und durch empfunden, wie wehrlos ein Mädchen neben dem aus Armut und – Gemeinheit herausgewachsenen, vielleicht schuldbewußten Vater steht. Ja, er hatte recht, dieser Vater, sein stolzes Gebäude mußte stürzen, wenn sie ihm nicht das schützende und bindende Dach aufsetzte. Und sollte sie das nicht von Herzen gern, um in alle Zukunft froh und sicher wohnen zu können?

Wie sie doch einmal so an Hansjörg hatte kommen können? Man hatte geredet, gelacht, nach und nach die gleichen Ansichten bekommen und sich aneinander gewöhnt, man wußte[157] selbst nicht wie. Es war eben gefährlich neben so einem berechnenden Burschen, gerade wie jetzt für Hansen neben dessen Schwester. Freilich verriet Dorothee durch ihr Weglaufen von Hansen eine Neigung für den ehemaligen Schneider, aber Zusel erfuhr ja an sich selbst, wie wenig derlei launenhaften Spielereien zu trauen sei. Wohin konnte der leichtsinnige Hans nicht von dem Mädchen noch gebracht werden, wenn erst Hansjörg wiederkam und den Ratgeber machte! So einfältig, als sie sonst wohl geglaubt, war Hans jedenfalls nicht, das hatte sie aus der mehrstündigen Unterhaltung mit ihm erfahren; aber schwach war er, und besonders der Magd gegenüber recht schwach, sonst würde er sie, die ihm so schmählich davonlief, schon am Tage nach der Kirchweih aus dem Dienste geschickt haben. Freilich suchte sie sich zu bereden, daß das eben nur seine Gleichgültigkeit verrate, aber es wollte nicht recht gehen, und Zusel, die nun siegen mußte um jeden Preis, nachdem sie einmal angefangen hatte, ließ die beiden bald auch durch andere in und außer dem Hause auf Schritt und Tritt beobachten.

Wer sucht, der findet. Das gilt auch von einem Menschenpaar, dem man einmal ein Liebesverhältnis zumutet, und gilt besonders, wenn die Beobachter und Beobachterinnen für jede Mitteilung reichlich belohnt werden. Zusel bekam bald jeden Abend Bericht und arbeitete sich so immer tiefer in die Sache hinein. Bald vermochte sie Hansen, den sie jedesmal sah, wenn er mit Sense oder Rechen vorüberging, bei weitem nicht mehr so unbefangen etwas Witziges nachzurufen als in den ersten Tagen nach der Kirchweih. Später hatte sie nur noch ein scheues »Guten Morgen« für ihn, und wenn er sie dann erstaunt, fragend ansah, so gab ihr das aufs neue zu denken, weil sie dadurch etwa eine der schon von jemand gemachten Beobachtungen bestätigt wähnte.

Nachdem das letzte Heu beim Krämer glücklich untergebracht war, verkehrte das Mädchen fast nur noch mit Leuten, welche von Stighansen redeten. Dadurch gewannen die unbedeutendsten Reden und Handlungen des guten Burschen in den[158] Augen der Zusel eine Wichtigkeit, daß man davon leicht auf eine starke geheime Neigung schließen konnte. Es war auch ganz natürlich, daß das von den zum Aufpassen Bestellten bald genug geschah. Sie vermochten aber das viel eher geheimzuhalten als das, was sie an Hansen und Dorotheen beobachteten oder dem Beobachteten unterlegten. Auf einmal kamen über Hansen und seine Magd die sonderbarsten Gerede ins Dorf. Kein Mensch wußte, woher, denn sie waren überall auf einmal, und Zusel fand, freilich durch ihre Veranlassung und Schuld, nun allgemein bestätigt, was sie geahnt und gefürchtet hatte. Es war schrecklich, daß das Mädchen nicht nur den unschuldigen, unerfahrenen Burschen an die Ketten der Sünde zu schmieden und daran festzuhalten wußte, sondern selbst die alte Stigerin blind und taub zu machen verstand. Durch solche Mittel und auf solchen Wegen sollte der stattliche Hof, auf dem redliche, sittenstrenge Väter in Gottesfurcht walteten und alles zusammenhielten, nun einer herabgekommenen Freundschaft zufallen? So ging es jetzt hin und her, daß Zusel, der das immer einen Stich gab, beinahe zur Verzweiflung gebracht wurde. Auch der Krämer hörte solches Gerede gar nicht gern. »Die altbackene, fromme Dorothee«, meinte er, »wäre selbst nie so gefährlich als dieses Geschwätz, das Hans und vielleicht sogar auch die alte Stigerin nur für den Lärm der Neidestrommel halten. Wenn das geschieht, dann freilich kann aus der kindischen Liebelei etwas Großes werden.«

»Da sieht man's«, klagte Zusel, »auch du glaubst an diese Liebelei!«

»Oh, die nur ist nicht gefährlich«, lachte der Krämer, »und besonders dir nicht.« Und das errötende Kind mit wohlgefälligem Lächeln betrachtend, fuhr er nach einer Pause schmeichelnd fort: »Gefährlich hätte dir nur eine werden können, und die bist du selbst mit deinem trotzigen, leidenschaftlichen Sinne. Seit ich diese eine nicht mehr fürchten muß, fürchte ich gar nichts mehr. Wenn du nur nichts verdirbst, dann muß es gehen, auf diese oder jene Art. Die alte, geldgierige Stigerin[159] ist auch noch da, und Hans wird müssen, wenn er nicht will.« »Aber ich will nicht und muß nicht, wenn es so klingt«, sagte Zusel entschieden. »Alles wär' mir wie Gift und Messer, was nur so gezwungen käme. Die Zusel ist zu stolz, um sich einen Liebhaber nur so gleich einem Gefangenen zuführen zu lassen. Selbst, freiwillig soll er kommen – oder gar nicht.«

Der Krämer, dem der Erfolg immer die Hauptsache und das einzige war, was er im Auge hatte, fand seine Tochter geradezu unbegreiflich. In der letzten Zeit hatte er sie für recht verliebt gehalten, drum glaubte er, nun müsse ihr jeder Weg recht sein, auf dem der Geliebte ihr entgegengeführt werden könne. Wunderbare Leute, diese Weibsbilder! Schon an seiner Seligen hatte er zuweilen etwas bemerkt, was ihm rein unverständlich war.

Der Mann saß und sann, bis es zu dunkeln begann. Auf einmal entstand draußen an der Haustür ein Gerumpel, als ob nicht nur ein, sondern wenigstens ein Dutzend Türklopfer in Bewegung gesetzt würden. Zusel wollte sehen, was es gebe. Sie verließ das Zimmer mit den Worten: »Den Hans mag ich unter solchen Umständen gar nicht, und du brauchst in der Sache nichts mehr zu tun.« Aber noch bevor der Krämer sich von seinem Erstaunen über diese Rede wieder erholt hatte, schoß das Mädchen zurück und hauchte fast atemlos: »Jetzt, Vater, jetzt haben wir's. Der Hansjörg ist da! Geh doch du, denn ich kann ihn in seinen Soldatenkleidern, kann ihn jetzt durchaus gar nicht mehr sehen.«

»Was mag er wollen?« fragte sich der Krämer, während das Mädchen in seine Kammer eilte. Langsam und jeden Tritt noch langsamer ging der Mann der Haustüre entgegen. »Daß der Spitzbub' schon heute kommen muß«, murmelte er. »Es steckt doch noch ein Tropfen vom früheren Blute in ihm, ein böser, giftiger Tropfen, und kein Mensch kann sagen, wie lange das Mädchen so fortläuft, wenn er kommt. Mit Hansen ist's wie aus. Sie hat keinen Sinn fürs Vermögen, denn die Verwöhnte weiß nicht, mit wie blutsaurer Arbeit man es erwerben muß. Wunderliches, ehrgeiziges, demütiges, opferwilliges,[160] selbstsüchtiges Volk – diese Weiber! Am End' ist's gut, daß Hansjörg mich trifft. Er soll nicht Lust kriegen, so bald wiederzukommen.«

Und der Krämer sah wirklich recht grimmig aus, als er der Türe zuschritt, seine Hand aber zitterte beim Öffnen gewiß ärger, als wenn er je einem Grenzjäger öffnete, der nach den wohl versteckten geschmuggelten Waren zu suchen kam. Er erwartete etwas ganz Besonderes und nahm alle seine Kraft zusammen. Trotzdem prallte er zwei Schritte zurück, als er die hohe Gestalt des schönen Kaiserjägers in der kleidsamen Uniform erblickte, die seinem ganzen Wesen etwas Stolzes, Sicheres gab, vor dem dem Handelsmann himmelangst wurde. Der Krämer hatte seine Sprache verloren; auch der Mann mit dem schönen, etwas gebräunten Gesichte schwieg eine Weile und schien unterdessen jeden Augenblick noch größer zu werden. Endlich wünschte seine klangvolle Stimme einen guten Abend.

»Was ist gefällig?«

»Ich hab' mich nur sehen lassen wollen in des Kaisers Rock.« Dieser Trotz im Tone gab auch dem Krämer wieder Kraft. »Dann«, sagte er, »hättest du lieber am hellen Tage kommen sollen.«

»Kann schon auch noch geschehen. Ich werde überall sein, wie das böse Gewissen.«

»Hättest du sonst nichts wollen?« fragte der Krämer etwas scheu.

»Einen Pfeifenkopf kaufen.«

Das Geschäft war bald abgetan, und der Kaiserjäger verließ brummend das Haus.

»Was da«, rief der Krämer, die Schublade zuschlagend, daß die porzellanenen Pfeifenköpfe klirrten, »so einen Taugenichts, der mit lauter Kupferkreuzern zahlt, sollte unsereiner fürchten? Dummheit!«

»Ist er fort?« fragte Zusel, die unbemerkt bis unter die Ladentüre geschlichen war.

»Natürlich, warum sollte er dableiben?«[161]

»Ich glaub', er sei ins Dorf hinein.«

»Ist mir gleichgültig.«

»Aber mir nicht. Wenn er nun auf den Stighof geht?«

»So wird Hans keine große Freude haben.«

»Oh, ich auch nicht!«

»Pah!«

»Der Kuppler und Verführer hat uns noch gefehlt. Wenn ein anderes Haus ins Geschrei käm' wie der Stighof, dann tät's Predigten und Christenlehren geben, daß jedes Kind sie heimzutun wüßte. Ist's doch im Frühling denen von der Kanzel aus nachgetragen worden, die vor dem bestimmten Alter sich in den Jungfernstuhl machen. Hier aber will man nichts sehen und nichts sagen, wenn schon das ganze Dorf davon voll ist.«

Der Krämer stand neben dem Ladentische und sann. Dann plötzlich sagte er: »Mädchen, das ist gar nicht so übel«, und ging hinaus.

Am anderen Tage ging er zur Messe und dann in den Pfarrhof. Langsam schritt er durch den Garten, in dem er den greisen Pfarrer vergebens hinter schon welkenden Blumenbüscheln und Rosenhecken zu erspähen suchte. Vor der Türe band er sich noch das Halstuch fest, ordnete den Hemdkragen, nahm die Zipfelkappe ab und trat auf das einladende »Herein« herzhaft in die Stube.

Der Pfarrer saß beim Frühstück und sah den seltenen Gast etwas strenge an. Doch länger als einige Augenblicke vermochte der gute Mann gegen keines seiner Pfarrkinder unfreundlich zu sein. »Es wird doch nichts fehlen, daß Ihr selbst einmal kommt?« fragte er und fuhr dann lächelnd fort: »Es ist mir lieb, daß ich mich Ihres Besuches auch wirklich freuen darf.«

»Ich hätte vielleicht zu einer etwas passenderen Zeit stören sollen«, stotterte der Krämer.

»Ich gehöre meiner Gemeinde zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht«, antwortete der Pfarrer.[162]

Der Krämer setzte sich auf den ihm gebotenen Stuhl und begann: »Es ist vielleicht nur eine Einbildung, was mich hertreibt; aber solche Einbildungen können oft vom Schutzengel kommen oder von den armen Seelen. Mir einmal sind in meinem Leben schon weit weniger lebhafte Vorstellungen verhängnisvoll geworden. In den letzten Tagen und ganz besonders heut' ist's mir immer ganz merkwürdig vorgestanden, ich sollte für die Seelen meiner guten Schwiegereltern doch auch etwas mehr tun, als was öffentlich und sozusagen nur anstandshalber für sie geschah. Zum Beten freilich hat unsereiner keine Zeit, drum tat ich gern für die Seligen ein Dutzend heilige Messen in aller Stille lesen lassen.«

»So«, sagte der Pfarrer trocken und schritt langsam gegen den Schreibtisch.

Dem Krämer war ordentlich wohl, daß der Pfarrer ihn endlich aus den Augen ließ. Der durchdringende Blick hatte ihm zuletzt beinahe die Sprache genommen. Jetzt plauderte er wieder so behaglich wie einer, der eben einer Gefahr entrann und nun jede Spur der gehabten Angst wegzulächeln sucht. »Mit meinen guten Schwiegereltern«, erzählte er, »hab' ich denn doch nicht immer im schönsten Frieden gelebt. Was konnten sie für die ererbte Denkungsart? Oh, es war gewiß nicht böser Wille, wenn sie mich meine frühere Armut und die Fehler meiner Schwester oft schmerzlich empfinden ließen. Ich ertrug das um so geduldiger, weil ich selbst noch manchen Fehler abzubüßen hatte. Ich hab' viel gelitten, aber der liebe Gott hat mich dafür gesegnet, mehr als ich hoffen konnte – viel mehr, Herr Pfarrer! Als Vater kann ich immerhin zufrieden sein – wenigstens mit dem Kinde, welches von mir erzogen wurde. Die Zusel hat freilich noch nicht alles im Kopf wie ich. Natürlich, junge Mäuse bemerken nur den Speck, ältere auch die Fallen, in welchen er liegt. Im ganzen muß ich das Mädchen loben und sagen, für dieses Alter könnt' ich sie kaum anders wünschen. Verstand und Ernsthaftigkeit kommen erst mit den Jahren, das weiß ich nur zu gut von mir selbst und muß ihr im Grund verzeihen, daß sie sich mit[163] Mathisles Hansjörg etwas zu tief einließ. Er war eben als Ladenschneider im Haus, und man weiß wohl, daß es kein Gut tun kann, wenn Feuer und Stroh so nahe zusammenkommen. Mich hat's schon lange gewundert, daß das auf dem Stighof, wenigstens scheinbar, immer noch so gut tun kann. Verbrannte Kinder fürchten das Feuer, und ich muß gestehen, daß ich da nicht immer nur müßig hätte zusehen mögen. Die gute Alte aber scheint nichts zu merken, und der Herr Pfarrer wird leider die Wichtigkeit der Sache bisher auch noch zu wenig erkennen.«

Der Pfarrer, welcher mit immer noch größeren Schritten die Stube durchmessen hatte, blieb jetzt vor dem erschrockenen Krämer stehen und fuhr diesen an: »Ich hab' in Konstanz studiert!«

Der Krämer verstand den Sinn dieser Worte nur zu gut. Der alte Pfarrer hatte seine Studien schon damals vollendet, als der Bregenzerwald noch zum Bistum Konstanz gehörte. Er meinte sich ordentlich damit, kein Brixner zu sein, und ermangelte nicht, den jüngeren Geistlichen gegenüber seinen Hirscher und Wessenberg mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens zu verteidigen. So brachte er sich unter seinen eifrigen Berufsgenossen in den Ruf eines allzu freisinnigen Mannes, und bald betrachteten ihn seine Amtsbrüder nur noch so von oben herab, wie einen verirrten Führer, dem die rechte Erleuchtung fehle. Ihn aber schien das wenig zu kümmern. Lächelnd eilte er aus ihrer Gesellschaft zu seinen Büchern heim. Mit den Jahren aber erlag er mehr und mehr seinen Eigenheiten. Wenn andere Geistliche und besonders die ihm beigegebenen Kapläne das Betschwestertum großzogen, so sah er darin nur einen Schachzug gegen sich selbst, und der Ärger darüber, daß man ihn so zu unterhöhlen trachte, ließ ihn bald zu streng und bald zu milde vorgehen. Besonders stolz war er auf den unbestrittenen Ruf, daß er ein Mann des Friedens und für keinerlei Schwätzereien zugänglich sei. Es lag auch etwas von diesem Stolz in den Worten,[164] mit denen er den Krämer und seit Jahren jeden heuchelnden und schmeichelnden Zuträger abgefertigt hatte.

Der Krämer saß auf seinem Stuhle wie ein verhagelter Frosch. Er sah sich erraten, daher er denn von Stighansen und seiner Magd nichts weiter mehr sagen, sondern sich vor allem wieder selbst so gut als noch möglich aus der Schlinge ziehen wollte. Das ging wohl am besten, wenn er nochmals an den eigentlichen frommen Zweck seines Kommens erinnerte. Schon ihm selbst gab der Gedanke daran wieder eine gewisse Sicherheit, so daß er, während er die Zipfelkappe aus der Tasche zog, zwar leise, aber doch ziemlich fest zu sagen wagte: »Nun, der Herr Pfarrer muß ja seine Hirtenpflicht kennen. Messen aber für Verstorbene werden wohl auch in Konstanz gelesen?«

»Ja«, antwortete der Pfarrer mit erzwungener Ruhe, »in Konstanz und überall; ob man ein paar Gulden zahlt oder nicht, wird wenig ändern. Da kommt's beim Stifter auf die Absicht an. Ist die gut, so ist alles gut; mir selbst aber schmeichelt das gar nicht, und ich mag mich durch solche Stiftungsgelder auch in keinem Kloster besonders empfehlen lassen. Wer ein Opfer bringen will, der komme mit reinem Herzen, sonst muß ich ihn bedauern. Ich will damit niemand beleidigen, aber gegen so wackere Leute wie die vom Stighof solltet Ihr niemand aufreden wollen, verstanden? Ein altes Weib kann Hans doch als Magd nicht anstellen.«

»Aber –«

»Gut – weiß schon, daß Dorothee Euch im Weg ist, Euer Goldfischlein unterzubringen und reichen Fischfang zu halten. Der gute Hans könnte mich wahrhaftig dauern. Er ist schon was Rechtes wert, und die Dorothee auch. – Nur nicht gemuckst! Wo die ganze Gemeinde fürs Reden und Lügen bezahlt wird, darf der Pfarrer doch auch noch etwas sagen, wenn er es umsonst tut. Der Dorothee tät ich ein rechtes Glück gönnen, aber dreinreden möcht' ich weder so noch so, denn ich hab' in Konstanz studiert –«[165]

Der Krämer war zum Pfarrhof hinaus, als ob ein Sturmwind ihn erfaßt hätte, und heim kam er, ohne etwas davon zu merken. Aber müde fühlte er sich, unaussprechlich müde, so daß er eine Weile sich erschnaufen mußte, bevor er seiner Tochter das Erlebte zu erzählen imstande war. Der Bericht wurde etwas ungenau, so daß Zusel daraus die Überzeugung schöpfte, der Pfarrer müsse von Dorotheen schon gewonnen sein.

»Zum Pfarrer hätte man eigentlich gar nicht gehen sollen«, meinte sie.

»Wär's aber anders gegangen, so würdest du alles jetzt dein Werk heißen«, antwortete der Krämer ärgerlich. »Beim Kaplan werden deine Freundinnen sicher das Ihrige tun. Mein Gang hat doch zuwege gebracht, daß wir wissen, woran wir mit dem alten Konstanzer sind.«

»Das hätte man sich denken können.«

»Nicht so leicht«, widersprach der Krämer. »Nicht viele würden Dorotheen vor dir den Vorzug geben.«

Jetzt stellte sich Zusel in Gedanken zum erstenmal neben das stille, fleißige, bescheidene Kind. Sie dachte sich an den Platz des Pfarrers und derer vom Stighof und wechselte die Farbe. »Heiraten wird sie Hans aber doch nie«, tröstete der Krämer. »Da wird die alte Stigerin entschieden auf deiner Seite sein, und die ist denn doch noch mehr als der wunderliche Pfarrer.« »Mir ist Hans am meisten«, klagte Zusel. »Der sollte wollen, und sonst sollte dann meinetwegen alles dagegen sein. Ja, erst dann wär's hübsch und könnte man seine Freud' haben an einer Liebschaft. So aber, wie du die Sache nimmst, ekelt's mich ordentlich an, und ich hab's schon gesagt, daß ich keinen mag, den man mir mit Gewalt zuführen muß. Weit lieber ging ich noch heut' in ein Kloster.«

»Oho!«

»Ja ja, man hat mir schon gesagt, wie es dort eine mit meinen Mitteln so gut haben könnte, und der Himmel wäre gewiß.« Der Krämer kannte die Launenhaftigkeit seines Kindes zu gut, um diese Worte besonders ernsthaft aufzunehmen. Vielleicht[166] war's auch nur ein Seitensprung, um ihn von der Hauptsache abzubringen. Das sollte aber nicht so leicht gehen. Er fragte geradezu: »Du willst also den Hans nicht?«

»Eben will ich ihn, und nur daß er nicht auch will, noch lieber als ich, könnte mich zum Weinen bringen.«

»Dann sind wir ja eins.«

»Bei weitem nicht. Mir ist sein Vermögen ganz gleichgültig.«

»Du bist halt eben verliebt. In der Ehe wird das schon wieder anders kommen.«

»Verliebt bin ich nicht. Wenigstens war mir Hansjörg einmal viel lieber. Wenn nur der nicht gerade jetzt gekommen wäre, daß noch eine Weile alles beim alten bleiben dürfte. Aber ich bin im Gerede. Es muß etwas geschehen, und ich weiß nicht, was. In meinem Kopf dreht sich alles um und um. Vater, du kluger Mann, mach' mich ruhig. Du hast mir den Hansjörg genommen, nimm mir auch den Hans! Dir muß das noch viel leichter werden. Gib ihnen Geld, tu, was du kannst, daß niemand mehr von mir und von ihm und von Dorotheen rede. Tu das, oder ich werde krank und sterbe.«

Der Krämer verließ unmutig die Stube, Zusel blieb allein. Aber schon einige Minuten später schlich eine ihrer Freundinnen, die Köchin des Kaplans, so leise zu ihr herein, daß Zusel sie erst bei ihrer leisen Anrede erschrocken auffahrend wahrnahm.

»Ich hab' dir nur noch geschwind etwas erzählen wollen«, flüsterte die Betschwester.

»Ich dir auch«, sagte Zusel etwas unfreundlich.

»So erzähle nur, ich muß gleich wieder gehen, damit mich niemand hier sieht.«

»Man darf dich hier schon sehen.«

»Aber so erzähle doch«, drängte die Köchin.

»Wir haben die arme Dorothee denn doch zu sehr ins Geschrei gebracht. Es könnte sie leicht den Dienst kosten, wenn einmal die alte Stigerin etwas davon erfährt.«

»Das soll es auch«, fuhr die Betschwester auf. »Wenn du auch erkalten solltest im frommen Eifer, die Mitglieder des Dritten[167] Ordens, den der Kaplan selbst errichtete in diesem Dorfe, haben sich der Sache kräftig angenommen, und dir winkt die Siegespalme schon auf Erden, wenn du nicht wankst. Dorothee ist eine Sünderin, und die Mutter unseres Ordens, bei der du sehr wohlan bist, hat unter den Schwestern ein tägliches Gebet für sie und um Ausrottung des Ärgernisses angeordnet. Das wird wirken.«

»Ist Dorothee denn auch im Orden?«

»Keine Rede, aber wir haben die Pflicht, für große Sünder und für Bedrängte zu beten.«

»Dann betet nur auch für mich!«

»Warum nicht gar! Das würde dich gleich in ein böses Gerede bringen.«

»Wie denn in ein Gerede?«

»Man hat so seine Gedanken über die, für welche man betet, und es gibt viel zu viele, die diese Gedanken, die man natürlich nicht immer für sich selbst behält, zu erhorchen wissen. Aber um so fruchtbarer ist unser Gebet. Ich will dir zu deiner Aufrichtung nur ein einziges Beispiel erzählen. Unser jetziger Pfarrer war in der ganzen Gemeinde seiner Lauheit wegen beliebt, und es schien unmöglich, die Leute darauf zu bringen, daß etwas nicht in Ordnung sei, da ja Frieden und Eintracht herrschte. Lachte doch noch fast alles mit, als er die ersten Schwestern unseres Ordens ihrer vielen Kommunionen wegen Tabernakelmäuse nannte. Nun, wer zuletzt lacht, der lacht am besten. Wir begannen, für ihn um Erleuchtung und einen christlichen Eifer zu beten, und schon steht er ziemlich ohne Einfluß, wie gefällig er sich auch gegen jedermann zeigt. Nur noch der Doktor, die Zeitungsleser und einige Fremdler stehen auf seiner Seite. Der verspottete Kaplan aber ist zu Ehren gekommen in der Gemeinde, bei den anderen Geistlichen und auch beim Bischof, der dem guten Manne, von Haus aus blutarm und niedrig, seinen Eifer noch auf dieser Welt belohnen kann. Soviel vermag unser Orden selbst gegen den Pfarrer.«[168]

Zusel hatte erstaunt zugehört. Von dem vielen Gehörten war ihr nur noch eines ganz klar, daß der Pfarrer nicht den rechten Eifer habe. Sie sagte: »Was du erzählst, kommt mir fast wie ein Wunder vor.«

»Das ist es auch.«

»Daß ihr aber recht habt, weiß ich wegen dem Pfarrer. Daß der manches zu leicht nimmt, haben wir selbst erfahren. Es ist wohl recht, wenn man dem auf die Finger klopft.«

»Und die Dorothee sollten wir schonen? Du willst Hansens arme Seele nicht retten?«

»Laß mich darüber nachsinnen.«

Die Köchin stand auf, öffnete die Tür und fragte zurück: »Wir haben für dich angefangen, sollten wir gegen dich enden?« »Wer so viel kann, muß recht haben. Ich gehe in Gottes Namen mit und will das Meine tun«, antwortete das Mädchen langsam mit bebender Stimme.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 156-169.
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