Siebzehntes Kapitel
Ratlosigkeit und Entschluß

[236] Hansjörg hatte nicht ganz unrecht, wenn er Dorotheens Predigt für eine Decke hielt, hinter der das Mädchen ganz andere Gedanken und Empfindungen zu verbergen suche. Ernst aber war es ihr mit dem Zuspruch doch; sie hätte ihn in der Verlegenheit gar nicht mehr finden können, wenn er ihr nicht ganz obenauf gelegen wäre. Erst als sie schweigend neben dem Bruder zur Kirche schritt, fragte sie sich ernstlich, ob er mit der Predigt des Kaplans wohl recht gehabt haben könnte. Sie wußte sich aber so wenig vorzuwerfen, daß sie wieder ziemlich ruhig darüber wurde. Als sie aber in die Kirche kam, man sang eben den letzten lateinischen Psalm, da drehten Männer und Weiber die Köpfe um, sahen sie lange an und schienen dann Wichtiges sagen zu müssen. Ihr wurde siedig heiß und himmelangst. Auch das wieder schien man zu merken und auf allerlei Weise auszulegen, denn noch unverschämter starrte man sie an, noch länger steckte man die Köpfe zusammen, und weniger, um zu beten, als um einen[236] Punkt für den unsicher werdenden Blick zu gewinnen, zog sie ihr kleines Andachtsbüchlein heraus. Gelesen aber hat sie nicht, die Buchstaben schwammen auf dem weißen Blatte so schnell durcheinander, daß ihr die Augen übergingen, sobald sich diese fest auf eine Zeile richten wollten. War sie denn in der Kirche, dem Hause Gottes, wo alle gleich, alle Sünder sind, aber auch alle Ruhe und Trost finden können und Schutz vor den Stürmen, die da draußen toben? Es kam ihr wie eine Entweihung des heiligen Ortes vor, daß sie heute so viele zeitliche Gedanken und Erinnerungen mit da hereinbrachte, und doch war sie vergebens bemüht, derselben loszuwerden. Was sie dem Bruder noch nicht recht glauben wollte, war ihr jetzt furchtbar klar geworden. Alle sahen sie um die heutige Predigt an, alle dachten an den Stighof und weiß Gott an was, während der Kaplan droben vor dem prächtig geschmückten Altar ein lateinisches Kirchengebet eintönig heruntersang, welches außer ihm und dem Pfarrer kein Mensch in der ganzen Versammlung verstand. Warum betete er nicht lieber, daß man es verstehen konnte? Vielleicht wäre doch ein Gedanke drin gewesen, der ihr hinausgeholfen hätte über die Beziehungen und Verhältnisse des Werktagslebens! Ihr Andachtsbüchlein hatte sie ja zu Hause auch. Nur in dem lesen hätte sie dort auch können, und noch besser als da, wo sie sich von jedem anblicken und ihn dabei unwillkürlich auch seine Rechnung machen lassen mußte. Es war heute in der Kirche gar nicht wie sonst. Noch immer hatte sie da, wo reich und arm nebeneinander knieten und gemeinsam zum Mahl der Liebe gingen, sich als Kind Gottes gefühlt; heute dachte sie nur an ihre Armut, ihre Abhängigkeit. Wenn sie zu beten versuchte, war's nur ein Flehen zu Gott, daß doch er sie nicht verlasse und noch fernerhin den Schutzengel mit guten Einsprechungen sende an die, von deren Gunst ihr guter Verdienst und damit das Wohl des Vaters und der Schwester abhängig sei. Aber selbst in diesem Zusammenfassen ihrer zeitlichen Sorgen wurde sie durch das vielleicht ihr heute auch besonders auffällige Benehmen der[237] Umstehenden gestört. Sie alle schienen ihre Wechseltische hier aufgeschlagen und das Haus Gottes zu einer Höhle des Neides, des Ehrenmordes gemacht zu haben. Nur einer in den unteren Stühlen war so in seinem Gebetbuch, daß er weder sie noch die anderen zu bemerken schien – Stighans. Der hätte gewiß auch Grund gehabt, sich zu ärgern, und besonders über sie, wegen der er – wie der Bruder sagte – ins Gerede und in die Predigt hineingekommen war. Und doch war ihm auch unter dem Mittagsessen gar nichts anzumerken; die alte Stigerin freilich tat etwas wunderlich. Es war das aber auch weniger zum Verwundern, als daß Hans alles so gelassen hinnehmen konnte. Das war denn doch ein anderer Mann als Jos, dessen Leidenschaftlichkeit sie seit einem halben Jahre schon so oft erbeben machte! Freilich brauchte er sich um Kleinigkeiten auch nicht viel zu kümmern. Er stand fest auf dem Erbe seines Vaters, Jos dagegen mußte sich jede Stufe mühevoll erkämpfen. Das mochte den guten Burschen so trotzig gemacht haben, wie er damals war, als er ihr sagte, daß er nicht mehr auf den Stighof kommen werde. Freilich, zu erklären war allenfalls sein Benehmen, aber darum ärgerte das eins doch. Zwar nicht so recht und ganz wie heute die unverschämten Blicke – nur »a bitzle«, doch so, daß man es ihn nicht ungern auch etwas empfinden ließ. Und wie beim Jos war's auch bei Hansen. Wenn man auch seinen heitern Sinn, seine unverwüstliche Seelenruhe dem schon durch seine Stellung gegebenen Gefühle der Sicherheit zuschreiben konnte, so tat sie einem doch wieder wohl, und man freute sich, bald wieder zu ihm zu kommen auf seinen stillen Stighof. Wie schlimm wäre sie doch jetzt daran, wenn auch er noch dem Winde folgte? Ängstlich dachte das Mädchen, wie viele Leute er nun vielleicht wieder reden höre, bis er daheim sei. Sie Verließ mit den ersten die Kirche, und der Weg nach Argenau kam ihr endlos vor. Wen alles konnten die Stigerin und Hans auf dieser Strecke antreffen, wie vielerlei hören![238]

Heute tat ihr die Freundlichkeit der Bäuerin so wohl, daß sie nun in der Küche ein inniges Gebet zum Himmel schickte, was sie in der Kirche nicht vermocht hatte. Es kam aber auch die Frau ihr so freundlich entgegen, daß dem armen Mädchen, welches ihrer Heimkehr mit Sorge entgegensah, vor freudiger Rührung das Wasser in die Augen schoß. Das waren Leute! Viel wohler wurde einem zumute, viel frömmere und bessere Vorsätze konnte man neben ihnen machen als selbst in der Kirche. Und nun kam auch Hans und erzählte, daß er heute gar keine Lust gehabt habe, mit den anderen Burschen in die Krone zum Bier zu gehen, um da ihr dummes Geschwätz zu hören. Wenn böse Leute sie nun einmal alle zusammennähmen, so wollten sie auch gehörig zusammenhalten, so treu und fest, bis man vor Ärger darüber gar nichts mehr sagen möge.

So redete Hans, und die Stigerin hatte nicht einmal ein Wörtchen dagegen einzuwenden.

Dem Mädchen war ganz wunderbar zumute. Hansjörg hatte also vielleicht doch nicht ganz unrecht, wenn er eine Neigung Stighansens andeuten wollte. Noch wurde ihr fast angst vor diesem Gedanken, aber Hans galt ihr jetzt zu viel, als daß sie sich nicht immer mehr und lieber damit beschäftigt hätte. Auch die Freundlichkeit der alten Stigerin, die man fast eine mütterliche nennen konnte, begann sie für einen Beweis zu halten, daß die gute Frau sich mit dem Gedanken, sie einmal als Stighofbäuerin zu sehen, schon ein wenig vertraut gemacht habe.

Dorothee hatte wirklich nicht ganz unrecht. Wenn die Stigerin das Mädchen weit weniger gern gehabt hätte, als das wirklich der Fall war, so hätte Hansens Rede doch genügt, sie an ihre Pflicht als Erzieherin zu erinnern und das Glück des Kindes ihr zu einer Gewissenssache zu machen. Freilich wär' ihr jetzt jedes erlaubte rechtliche Mittel, Dorotheen aus dem Hause und mithin Hansen aus dem Gerede zu bringen, fast um keinen Preis zu teuer gewesen. Aber in Unehren sollte sie nicht aus dem Hause, da sie doch entweder unschuldig an[239] allem war, was man sagte, oder gewiß auch Hansen sein Teil an allem zufiel. Nein, unglücklich werden für immer nur eines Geredes wegen durfte die nicht, welcher Mutter zu sein die Stigerin einmal gelobt hatte. Lieber wollte sie Hansen mit dem Mädchen, das an und für sich gewiß so gut als eine zu ihm gepaßt hätte, vor den Altar treten sehen, wie sehr das auch immer gegen ihre Rechnungen sein mochte. Glücklich mußte Dorothee werden, nur, wenn's menschenmöglich war, nicht gerade um den allerhöchsten Preis; denn näher noch als das angenommene lag ihr doch noch immer das eigene Kind am Herzen, ihr einziger Sohn, den sie fast zu enterben glaubte, wenn sie keinen anderen Ausweg als eine Verehelichung der beiden zu finden imstande war.

Aber noch weniger als bei der Mutter tat die Predigt und taten die durch selbe gutgeheißenen Verleumdungen bei Hansen die Wirkung, die der Krämer ganz bestimmt erwartet hatte. Erst nachdem es Hansen von allen Seiten vorgehalten wurde, daß nur er und die Magd gemeint, sogar zum Greifen deutlich gezeichnet worden seien, ward er recht fest und sagte mit Stolz, daß er dem Übel leicht abhelfen könne, wenn Dorothee gar so gern Stigbäuerin werden möchte. Ja, nun trotzte Hans aller Welt, daheim aber, wo er die so unschuldig Verfolgte so sicher und doch auch so demütig ihre Wege gehen und die vielen Arbeiten verrichten sah, konnte er zuweilen recht weich werden. Nein, die sollte man ihm nicht mehr nehmen! Diese Freude sollte dem Neid und dem Eigennutz nicht werden! Eine Angelika fand er doch nicht wieder, und da gab es nichts Besseres, als dieses edle Wesen so hoch und frei zu stellen, als er's konnte und als sie an innerem Wert über den meisten stand.

Nach der Kirchweih war Hans dem Mädchen gegenüber gewesen wie ein Bürschlein, welches das der Mutter geholte Öl verschüttete. Wie dieses eine halbe Stunde zu spät mit den sorgfältig zusammengelesenen Scherben des Kruges, kam er mit seinen Klagen gegen den Knecht heim. Dorothee war seine Richterin, und erst die Versöhnung mit ihr gab ihm auch[240] den Frieden mit sich selbst wieder. Schon stand jetzt das Mädchen so hoch, daß er eifersüchtig werden konnte, und als er sie nun gar seinetwegen verleumdet sah, stand sein Entschluß, sie zu heiraten, damit die Plagerei doch einmal ein Ende habe, so fest, daß sich alle darüber wunderten, die ihn einmal seine Abneigung gegen den Ehestand aussprechen hörten.

Dorotheen war jetzt wunderbar zumute. Es kam alles so unerwartet, daß sie weder recht daran glauben noch sich darüber freuen konnte. Es war freilich ein großes Glück für sie und die armen Ihrigen. Aber es war ihr, wie es einem sein müßte, der auf einen Berg getragen würde. Ließe man ihn droben auf der furchtbaren Höhe, rings von Abgründen umgähnt, plötzlich allein, so käm' er gewiß nicht dazu, sich an der herrlichen Aussicht zu erfreuen. Ach, auch sie sah rings um sich neidische Aufpasser, geldstolze Basen und Unheilstifter aller Art. Sie war eben nicht durch sich selbst auf diese Höhe gekommen, sondern nur durch ein Zusammenwirken von Umständen, die ihr jeden Augenblick wieder untreu werden konnten. Auch andere dienten so treu wie sie, ohne solchen Lohn zu erhalten. Jos tat dem Hofe so viel, und nun lag er daheim. Wohl sagte sie sich, daß ja Hans neben ihr stehen würde auf der stolzen Höhe; aber wie lieb und recht ihr auch der Bursche war, so konnte sie doch kein solches Vertrauen zu ihm gewinnen, daß sie ganz ruhig wurde. Besonders quälte es sie, wenn sie aus seinen Reden etwas wie Trotz gegen den Kaplan und gegen alle, die fürs ganze Dorf Wetter machen wollten, herausklingen hörte. Jene Predigt machte ihr noch viel Kopfweh, und immer häufiger fragte sie sich, ob sie denn auch wirklich von jenen herben Vorwürfen so frei sei, als sie anfangs glaubte. Sie fand freilich nichts, und doch wollte ihr Gewissen nie ruhig werden. Ach, wie gern hätte sie bei jemandem um Rat fragen und einmal alles in ein vertrautes Herz ausschütten mögen! Aber an wen sollte sie sich wenden? Sie dachte zuerst an Jos, aber nur um heftig den Kopf zu schütteln, ohne daß sie sich noch sagte, warum das[241] nicht gehen werde. Den Rat des Vaters aber und all der Ihrigen konnte sie sich denken. Diese Leute hatten nie ein Verständnis für ihre Gedanken und Gefühle. Die Not hatte sie hart und geldgierig gemacht. Ja, die Not! Aber nun konnte sie ja helfen und mußte dabei nicht einmal ein Opfer bringen! Ja, Hans hatte sie recht gern, und die Stigerin tat auch, als ob sich wenigstens von der Sache reden lasse, ja vermied leise Andeutungen bei weitem nicht so ängstlich als sie selbst. »Es darf gehen und kann gehen«, sagte sie sich in der folgenden Woche wohl hundertmal, aber immer war sie mit ihren Gedanken, mit ihrer unerklärlichen Angst am alten Fleck. Es ging eben nicht. Irgendwo mußte ein Querholz in die Speichen hereinragen, und sie bemühte sich vergebens und sann Tag und Nacht, um die Stelle zu finden. Es war ihr peinlich, immer nur noch an das zu denken, und dennoch suchte sie in freien Stunden gerne die Einsamkeit auf, um sich ungestört ihren Gedanken überlassen zu können. So schritt sie am folgenden Samstag abends dem kleinen Weidenwäldchen zu, welches sich unter Argenau südöstlich an der Ach hinaufzieht und den von ihr in früheren Jahren angerichteten Schaden so gut als möglich verdecken zu wollen scheint.

Eine Bregenzerwälderin auf einem Spaziergang – das ist etwas Seltenes! Ihr, der es doch bei Tag und Nacht, im Sommer und Winter an nichts weniger als an Bewegung fehlt, muß gewiß etwas viel zu eng, zu schwer geworden sein, wenn sie auch noch in den so seltenen Stunden der Ruhe und der Erholung die geselligen Kreise flieht und einen Gang macht, um die Einsamkeit aufzusuchen. Man kennt sie alle, die am Feierabend noch herumgehen wie der Schatten an der Wand und dabei tun, als ob sie an ihrem Kopf voll Gedanken recht grausam schwer zu tragen hätten. Wenn man ein Mädchen so auf einmal die schönsten Spaziergänge oder am Ende gar die allergreulichsten Schluchten und Tobel aufsuchen sieht, dann achtet man sorgfältig auf alles, was sie redet und tut, ob etwa nichts beweise, daß sie sich beinahe hintersinnt habe.[242] Findet man aber noch alles in Ordnung, so sieht man ihr mitleidig nach und denkt an ein herbes, tiefes, kaum noch erträgliches Weh, an selbstverschuldetes Herzeleid, eine Liebe ohne Hoffnung oder an eine recht unglückliche Ehe. Auch die Angelika trug immer häufiger ihr Hauskreuz feuchten Auges in das Wäldchen neben der Ach hinab. Wenn ihr Kind beim Spielen oder unter dem Abendgebete einschlief und auch in Haus und Stall alles versorgt war, dann trieb es die Unglückliche, die doch noch nicht schlafen konnte, gar bald aus dem Hause. Es war ihr noch immer fast unmöglich, den Andreas in betrunkenem Zustande heimkommen zu sehen; ja aufpasserische Leute wollten bemerkt haben, daß sie nicht selten erst nach ihm ins Haus gehe, vermutlich, weil das das einzige Mittel war, einen Wortwechsel mit ihm zu vermeiden. Freilich mochte der Mann sich auch hierüber ärgern, aber Angelika konnte ungemein eigensinnig sein, wo sie die Schuld ganz nur dem Gatten zuschreiben zu dürfen meinte.

Auch heute traf Dorothee das unglückliche Weib. Sie saß hart neben der Ach auf einem moosbedeckten Steine und warf die ihr vom warmen Herbstwinde zugetragenen welken Blätter scheinbar gedankenlos in den rasch vorüberstürzenden Fluß. Ihren Kopf bedeckte statt der schweren Pelzkappe nur ein weißes Tuch, und Dorotheen kam es gerade vor, als ob sie eine Leidtragende mit dem bei Begräbnissen üblichen weißen Trauerschleier, dem sogenannten Sturz, erblicke. Da sie sich schon bemerkt sah, wagte sie nicht mehr zurückzutreten, wie bang ihr auch wurde neben Hansens ehemaliger Geliebten, die ihr in dem Halb dunkel des Waldes fast wie ein höheres Wesen erschien. Lang suchte sie vergebens nach einem Worte, die unglückliche Ernstblickende anzureden, und erbebte leise, wie vom Frost geschüttelt, als diese, sie immer schärfer ins Auge fassend, endlich fragte: »Hat auch dich die böse Welt schon da herausgetrieben? Kannst auch du ihr nur noch dienen und deine Kräfte opfern, aber dich nicht mehr mit ihr freuen, ruhen und genießen?«[243]

Dorothee sann verlegen nach, wie und warum sie denn eigentlich da herausgekommen sei, oder vielmehr sie sann, was sich denn eigentlich darüber Vernünftiges sagen ließe. Sie wollte sich nur ein wenig erspazieren, um – weil es daheim nichts mehr zu tun gab und – weil man ja keinen Tag sicher war, ob nicht der Winter dem freien Herumgehen in Feld und Wald ein Ende machen und alles ins Haus einsperren werde für lange Zeit. Sie floh eigentlich niemand und hatte auch keine Freude, sich mit der Welt unzufrieden zu zeigen. Sie war herzlich erschrocken, als Angelikas Rede sie daran erinnerte, daß ihr müßiges Herumtappen eine solche Auslegung zulassen würde.

»Warum«, fragte sie endlich, »sollte denn eins nicht einmal, bevor es schneit, noch gern einmal in einer freien Stunde, wo nichts Gutes und nichts Wichtiges versäumt wird, einen Gang durch das schöne, ruhige Wäldchen machen, auch wenn man mit Gott und der Welt zufrieden und in der besten Stimmung ist?«

Noch selten hatte Dorothee solche lange Frage in einem Atemzuge getan. Sie mußte eben eine zustimmende Antwort haben, um dann so bald als möglich wegzukommen.

»Nun, meinetwegen wohl«, sagte Angelika trocken. »Es hat jeder Mensch Liebhabereien, aber gewöhnlich streift sich das bald ab, wie die Blätter der Alpenrose, wenn sie vom Stamm wegkommt. Ist auch gar nicht schad' um die Rose, wie hübsch sie sein mag. Sie ist nicht zum Verbrennen und taugt nichts ins Futter. Ich glaub', es gibt viele, die es dem lieben Gott verargen, daß er ganze Strecken Boden mit diesen Rosen angegärtnert hat. Schau' mich nur nicht gar so groß an, wir redeten zuerst von Liebhabereien, dann von den Rosen. Ist's nicht eins? Hier hat man Gärten, aber die brauchen sie nur für Rüben und Kraut. Das ist nützlich. Denk' einmal an einen Menschen, der alles so genug hat, daß er gar nicht mehr auf den Nutzen sehen muß! Gute Nacht, Ordnung und Fleiß und Friede und Tugend! Und wer da nicht gleich mit ›Schlaf wohl‹ sagt, der kann da heraus und Blätter in den Bach werfen und[244] ihnen nachsehen, bis ihm die Augen übergehen. Ja, Mädchen, du bist meine Leidensgenossin, meine Schwester, drum hab' ich dir auch soviel zu sagen. Wir beide haben keine Eigenen mehr, die uns verstehen, drum gehören wir uns. So ganz allein ist das Leben doch gar zu langweilig.«

»Du hast ja dein Kind«, bemerkte Dorothee beinahe streng. »Seine Zukunft macht mir schwere Sorgen.«

»Und Arbeit«, fuhr das Mädchen fort, »gibt's auf so einem Hof alle Hände voll.«

»Dazu vergeht einem aber die Lust gar bald, wenn andere zum Fenster hinauswerfen, was man mit Mühe zum Schlüsselloch hereingebracht hat.«

»Mir«, sagte das Mädchen, »ist auch die Arbeit eine Liebhaberei. Wieviel hab' ich schon verschwitzen können! Hat man den Kopf ganz frei für jeden Gedanken, der kommen will, dann kann man über keinen Weg, oft nicht einmal in die Kirche, ohne daß einem etwas aufstößt und viel ärger ist, als wenn's bei der Arbeit schief geht. Ich weiß gewiß, daß auch du bei der Arbeit am glücklichsten bist und dir auch bald nicht mehr so einsam vorkommst.«

»Hast du es auch verarbeiten können, daß sie deinen Bruder verkauften?«

»Das tat mir da noch nicht so weh. Ich selbst hätte für Hansen durch ein Feuer mögen, drum fand ich's in Ordnung, daß der Bruder ging für den guten Hans.«

»Ja, das glaub' ich, denn auch ich hätte viel für ihn tun können. Wir haben uns früher auch oft und gern getroffen. Viel- und vielmal sind wir da heraus, haben dem Wirbeln und Wallen der Ach zugesehen, haben Blätter hineingeworfen und uns dann über ihren Gang verwundert. Die von mir wurden rasch erfaßt, aber nach allen Seiten hinaus und dann wieder in die ärgsten Strudel hineingetrieben, bis sie mit Hansens großen Ahornblättern endlich wieder zusammengekommen sind. Ich hab' an diesem kleinen Wunder oft meine Freude gehabt und denk' noch jetzt daran, wenn ich ein Blatt im Flusse schwimmen sehe. Auch der Jos ist vielmal[245] dabei gewesen. Schon da hat er Hansen vielfach dienen müssen, wie später auch noch, und jetzt sitzt er vergessen daheim.«

Dorothee fuhr erschrocken zusammen. Dann aber sagte sie um so leidenschaftlicher, weil ihre Worte hauptsächlich an sich selbst gerichtet waren: »Vergessen ist er nicht, und wir alle auf dem Stighof haben schon viel für ihn getan.«

»Dein Bruder wird sogar die Arbeit auf dem Hofe für ihn tun, da er doch ausgebraucht ist.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Dorothee traurig.

»Nicht?« fragte Angelika, die ihre bittere Rede sogleich bereut hatte. »Er bleibt also – ach Gott, sein jetziges Handwerk ist recht gefährlich.«

Das endlich war Dorotheens Herzen ein verwandter Ton. Jetzt trat sie näher zu dem wunderlichen Weibe, welches sie bald zu bemitleiden, bald zu hassen schien. Der letzte Ausruf gewann ihr Herz um so mehr, weil sie im Augenblicke nicht daran dachte, wie sehr Angelika dem eine glückliche Zukunft wünschen müsse, der durch ihren Vater einst aus seiner eingeschlagenen Bahn geworfen war. »Er hätt' etwas werden können und wär' bei uns nicht zu bedauern gewesen«, klagte das Mädchen.

»Ja, gewiß, denn Hans hat viel gutzumachen. Just so viel als mein Vater. Wenn er auch kein so geübter Knecht gewesen wär', man hätte sich leiden müssen und denken, in der Zeit, wo er dem Kaiser dienen mußte, hätten auch andere manches vergessen können. Oder sonst, wenn man daran sich nicht mehr erinnerte, wär' er doch der Schwager. Ja, der sollte doch kein Schleichhändler sein, damit auch die Alte mit der Verwandtschaft ein bißchen zufrieden wär'. Die sieht auf so etwas, und den Hans hat sie am kleinen Finger.«

»Gute Nacht«, sagte Dorothee unmutig.

»Wir wollen aber doch erst auch reden.«

»Reden, einem deutsch Gutes und Böses sagen möcht' ich schon auch, aber da weiß man nie, ob es gehauen oder gestochen gilt.«[246]

»Ich hab' dir weh getan, gutes Kind, aber mir selbst noch viel weher«, sagte das schöne Weib in ganz verändertem Tone. »Gewiß, ich gönne dir sein Vermögen so gut als einer. An ihn denken darf ich auch noch, nicht wahr? Auch du denkst vielleicht später an einen anderen.«

Dorothee hatte die letzten Worte nicht mehr gehört. Schon ragte eine Wand von Buschwerk empor zwischen Angelika und dem offenen Platze, wo Dorothee aufatmend zum tiefblauen Himmel emporblickte.

Die Sonne war bereits hinter der Kanisfluh verschwunden. Nur einzelne geflügelte Wölklein trugen ihre letzten Grüße über die Talenge herauf. Im Dorfe hörte man das Schellengeläute der zum Brunnen getriebenen Kühe, und die Ziegen eilten von den Bergen ihren Ställen zu. Aus den nahen Scheuern duftete das Heu wie reifes Obst, alles war in schönstem Frieden und schien sich gesättigt zur Ruhe begeben zu wollen. Dorothee kam nur langsam vorwärts, wie schnell sie sich anfangs heimmachen wollte. Waren ihr auch Angelikas Reden größtenteils unverständlich geblieben, so hatten sie ihr Herz doch mit einer ganzen Reihe quälender Gedanken belastet. Hansens Mutter und der stolzen Verwandtschaft war nicht einmal Angelika gut genug gewesen, und nun sollte sie, die Magd, an den Platz, während der treue Knecht daheim lag! Einem von ihnen beiden geschah nicht recht, oder es mußte aus den jetzigen Verhältnissen noch ganz anderes erwachsen, als man augenblicklich vermuten konnte. Auch der Vorwurf wegen dem Bruder gab dem Mädchen zu sinnen. Es hätte doch schon damals etwas tun können bei Hansen, wenn es jetzt soviel bei ihm galt. Ums bare Geld hätte er auch einen anderen Stellvertreter für sich bekommen. Durfte sie den Hansjörg opfern für die allerdings zahllosen Wohltaten, die nur sie erhielt? Während sie stand und sann, trugen zwei Mütterchen die mit dürrem Buchenlaub gefüllten Bettsäcke nicht weit von ihr vorüber. »Mein Ältester«, sagte die eine Laubsackträgerin, ohne die unfreiwillige Lauscherin zu bemerken, »hielt sich auch mit aller Kraft an einem Dornstrauch[247] fest, als vor einem Jahr droben am Üntscherspitz das Bergheu unter seinen Füßen wegzurutschen begann.«

»Das wohl«, entgegnete die andere, »aber Dorothee hält sich im Fallen an anderen Menschen fest und reißt sie mit in den Abgrund der Schande. Hans ist mit ihr ins Gerede gekommen. Nun hält er sie für die Unglückliche, und da will der gute Bursche sie beide durch eine Verbindung retten. Bei ihm ist's nur Mitleid und Trotz gegen die Leute, und aus Dummheit und Eigensinn ist noch nie viel Gutes entstanden.«

Gefühlvolle Menschen, deren Einbildung sich beständig in einem engen Kreise bewegt, pflegen noch mehr als andere jedem Gegenstand, jedem Erlebnisse die Farbe ihrer augenblicklichen Stimmung zu leihen. Alles lebt, liebt, jubelt und weint mit ihnen, und der unbedeutendste Vorgang wird auf diese oder jene Art in Zusammenhang mit ihrem Leben gebracht. Es geschah, um sie zu mahnen, aufzumuntern oder das Künftige anzudeuten. Hätte Dorothee die beiden Mütterlein zu anderer Zeit so reden gehört, so wäre sie dadurch allenfalls an andere närrische Schwätzereien derselben erinnert worden; jetzt aber waren es nicht etwa kurzweg die und die, sondern ein höheres Wesen hatte jene wenigen und doch so inhaltsschweren Worte durch sie gesprochen. Wie hätte sich alles so gut treffen, sie gerade diese Worte hören müssen, wenn daraus nichts Wichtiges werden sollte? War wirklich sein Entschluß nur aus Trotz entstanden, oder hatte er sie wahrhaft gern? Das erste konnte sie nicht glauben, und wenn sie das zweite annahm – sie suchte und fand dafür Gründe –, so hätte sie lange schon gehen sollen. Dann hatte der Kaplan recht.

Feierliches Glockenläuten erklang im Tale. Die Berge gaben mit den den Feierabend verkündenden Klängen die frohen Lieder der Arbeiter wieder, die nun aus Feld und Wald zu den Ihren zurückkehrten. Ein leises Lüftchen schüttelte die mächtigen Buchen, und mit dem letzten Laub rieselten tausend Keime auf den nur noch mit Zeitlosen bedeckten Grund. Herbst und Samstag –! Man steht gern einmal still, um eine[248] gewisse Strecke des Lebensweges von solchen Höhen aus zu übersehen. Viele gingen jetzt zur Beichte und ließen sich helfen bei ihrer Rechnung. Ach, auch sie hätte sich in diesem Augenblicke zum Pfarrer gewünscht! Warum fiel es ihr denn nicht schon längst ein, wohin sie sich wenden müsse in ihrer Ratlosigkeit? »Wenn ihr«, hatte der edle Greis in der Schule gesagt, »keinen Freund auf der Welt mehr habt und niemand, der euch hinaushilft aus Nebel und Nacht, oh, so glaubt nicht, daß ihr das allein könnt, glaubt euch nicht zuviel, sondern nehmt teil an den Schätzen der Gnade, der Erfahrung und des Trostes, die die Kirche durch den Beichtvater anbietet; wendet euch an ihn, der nicht wegen den Gesunden auf guter Weide, sondern gerade wegen den Kranken und Verirrten jeden Sonnabend und an jedem Heiligen Tag im Beichtstuhl sitzt, um zu helfen, zu trösten und zu erlösen!«

Ganz deutlich wußte das Mädchen noch jedes Wort, so daß es die ganze Rede wie gelesen hersagen konnte. Und dabei wurde sein Gesicht immer heiterer. Ja, es wollte beichten, alles sagen, wie es war, und dann den Zuspruch erwarten. Eine Gewissenssache war's jedenfalls, und die wichtigste, die es noch gehabt hatte. Der Priester an Gottes Statt sollte nun sprechen und seinem Herzen Ruhe gebieten.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 236-249.
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