Zweites Kapitel
Worin sich Hans und Jos etwas deutlicher aussprechen

[36] Der Mond war eben aufgegangen und schaute freundlich zwischen den von blütenähnlichen Nebelstreifen umflossenen Bergspitzen aufs neuergrünte Tal herab und auf die Kirche, deren schlanker Turm neben dem tannenbekränzten Fluhfelsen emporragte. Nur unwillig gab der neben dem einsamen Gotteshaus am Felsen vorbeirauschende Strom das trübe Bild des freundlichen Nachtwandlers wieder zurück. Aber wie er auch zischen und tosen, wie drohend er sich gebärden mochte, er war doch nicht imstande, die Ruhe der Bewohner seiner gesegneten Ufer zu stören. Nie schläft wohl der Bauer besser und träumt süßer, als wenn die Flüsse den unwillig grollenden Winter so mir nichts, dir nichts zum Tale hinaustragen. Da öffnet er wohl, trotz den ängstlichen Warnungen der besorgten Hausmutter, sich doch ja vor der Nachtluft in acht zu nehmen, vor dem Schlafengehen die Fenster des Zimmerchens, um das Klagen und Lärmen des aus dem Lande ziehenden Feindes recht deutlich zu hören. Im Winter muß man sich wohl oder übel mit seinen Sorgen ins Zimmer[36] einsperren, und die meisten sind, so sich selbst überlassen, weitaus am schlimmsten dran, weil sie eben nicht viel mehr anzufangen wissen, als ihre Langeweile totzustricken oder den Nachbar zu hecheln, mit dem sie im Frühling und Sommer im schönsten Frieden leben und arbeiten können. Erst das Auferstehungslied der Natur, das Tosen der Bäche, welche endlich die eisige Decke wieder zu sprengen vermochten, öffnet auch die Fenster und die Herzen wieder, daß überallhin ein Gefühl einziehen kann; da reden sie alle wieder von den Arbeiten des Frühlings, während im Winter fast jeder sich mit etwas anderem quälte.

Doch unsere beiden Freunde hatten trotz der wunderschönen Osternacht recht ungleiche Gedanken, als sie so auf dem mondbeleuchteten Platze zwischen der tosenden Ach und der stillen Pfarrkirche dahinschritten. Dem Jos tat die frische Nachtluft recht wunderbar wohl, nachdem er in des Krämers engem Schneiderstüblein die ganze Woche für den morgigen Tag fast auf Leben und Tod hatte arbeiten müssen. Ein Gefühl der Freiheit, wie er es noch selten empfand, hob sein Köpfchen, welches er sonst ein wenig hängen zu lassen pflegte. Erst jetzt schien ihm sein Trotz gegen den bisherigen Arbeitgeber nicht mehr nur Folge einer Verstimmung, welche seit Wochen – ja offen sich zugestanden, seit dem Faschingsdienstag, wo er das erstemal auf einen Tanzplatz kam – sein ganzes Wesen belastete. Ja, wenn er jetzt alles wieder überdachte, so kam ihm sein heutiges Betragen, obwohl es ihm den Dienst beim Krämer kostete, ganz gehörig und planmäßig vor. Der harte Winter war nun glücklich überstanden, unter dem wiedergeschmolzenen Schnee wuchs überall Arbeit hervor, so daß er noch nichts verloren geben mußte, auch wenn seine erste Rechnung fehlte und Hans ihn nicht auf den Platz seines bisherigen Knechtes ließ, welchen letzte Woche ein Bericht von der Erkrankung seines Vaters auf dessen stattliches Anwesen zurückrief.

Am Ende lag ihm gar nicht so viel an diesem Dienst. Es war ja fraglich, ob er da jemals eine frohe Stunde haben könnte[37] und ob nicht die böse Stigerin oder noch öfter fast die gute Dorothea, Hansens Magd, ihn zum Sterben ärgern würde ... Es gab auch anderwärts Arbeit in frischer, freier Luft, und das war ihm genug. Wenn er sich nur nicht mehr bloß ins Zimmer zu seinen Gedanken einsperren mußte. Das aber hätt' er jetzt nicht mehr ausgehalten, während ihm früher so wohl war bei der Nadel, wenn er leise fröstelnd andere hinaus in Kälte und Nässe gehen sah.

Es war gerade, als ob er nirgends mehr Ruhe finden könne, seit er auf dem Faschingsdienstag mit Dorotheen getanzt hatte. Noch ärger wurde das, als es draußen immer mehr erwarmte und der allüberall jubelnd verkündete Frühling ihm gar nichts als das Zimmer voll Fliegen und noch längere Arbeitstage bringen zu wollen schien. Gewiß hätte selbst der Krämer, obwohl der sonst so abhängigen Leuten gegenüber keinen Spaß verstand, die trotzigen Stichelreden seines Schneiders nicht gar so hoch aufgenommen, wenn er seine Stimmung zu fassen und zu beurteilen imstande gewesen wäre. Aber das war des Krämers Sache nur bei Leuten, wo es ihm etwas eintrug. In der Karwoche lagen außer den Wänden des Zimmers auch noch ganze Berge von dringender Arbeit auf dem armen Schneider, den der Krämer nach Belieben einspannen zu können meinte. Schon seit Mittwoch grollte und donnerte es bald da, bald dort; heut abend machten sie sich gegenseitig ihren Standpunkt klar, und darüber hatte es nun Feuer zwischen ihnen gegeben, daß sie so bald wohl nicht mehr zusammen unter einem Dache leben mochten; darum war Jos heut ausnahmsweise lieber ins Wirtshaus als heim zur Mutter, von der er über seinen Wochenbericht schwerlich ein besonderes Lob erwartete. Jetzt aber war ihm wieder ganz leicht. Der Riß zwischen ihm und dem Krämer mußte ja recht groß werden, wenn er den Bitten der guten Mutter gegenüber stark bleiben und einmal aus dieser Krämerhöhle herauskommen sollte. Das beste war immerhin, wenn er auf alles Bitten und Betteln sagen konnte: »Es geht nicht mehr«, wenn ihm selbst auf der anderen Seite das auch[38] etwas traurig vorkommen mochte. »Aber jetzt nichts von Traurigkeit!« rief er sich zu. »Wär's nicht eine Schande gewesen, wo immer man einmal davon erzählt hätte, daß einer der besten Schüler sich ohne die Gnade dieses Krämerwurms nicht mehr ordentlich durch die Welt bringen könne?«

Die Leute freilich hatten ihm immer ein faules Mutterbüblein gescholten, weil er nie draußen im Schwabenlande blieb, wo das Einerlei der ungeheuren Kornfelder dem an die nahen Berge Gewöhnten wie eine furchtbar große Rechentafel vorkam. Ja, lieber als bei den wohlgenährten Württembergern, wo so manches arme Landeskind Arbeit und Brot fand, blieb er daheim bei der Mutter. Aber seine Tadler hatten darum denn doch nicht ganz recht. Faul war der Jos nicht. Er sammelte das von der Ach ausgeworfene Holz, daß die Mutter mehr als genug hatte; auch gewann er Beeren für den Pfarrer und andere Liebhaber; ja, man konnte ihn brauchen, wozu man wollte, wenn man ihm nur nichts vom Schwabenland sagte. Diese Furcht vor der Fremde hatte ihn schon früh in die enge Werkstätte beim Krämer getrieben, die von diesem nebenbei auch noch als Rumpelkammer benutzt wurde. Aber so wohl war ihm doch nicht geworden, als Hansjörg, der damals beim Krämer arbeitete, ihn in die Lehre zu nehmen versprach, wie jetzt, wo er sich von dem ewigen Nädeln und Fädeln erlöst fühlte.

Aber nun mußte er seine Bitte um Arbeit denn doch ein wenig einzuleiten beginnen. Wenn Hans ihn auch nicht brauchte, so konnte der ihn doch vielleicht irgendwo empfehlen. »Jetzt geht denn die Feldarbeit wieder an«, begann er hustend, »wahrscheinlich schon gleich nach den Feiertagen.« Stighans schien ihn gar nicht zu hören, der hatte jetzt auch an ganz anderes zu denken. Unverwandt schielte er zu jenem kleinen Häuschen drüben über der Ach am Argenstein, dessen halbblinde Fenster mit den runden Scheiben das trübe Bild des Mondes zwischen neubelaubten Buchenästen hindurchschimmern ließen. Was jetzt wohl das Mathisle dort machte? Das arme, verlassene Mathisle, das nicht einmal mit seinen[39] drei Kindern daheim Arbeit und Brot, ja selbst kein gutes Bett hatte! Gewiß dachte es an den Hansjörg, der ihm seine Stütze werden sollte, und dabei ballte es seine Faust vielleicht auch gegen ihn, Stighansen, der ja, wenn auch wider Willen, seinen wackeren Buben zu den Soldaten gebracht hatte. Wie bitter Stighans auch den Tod seines einzigen Bruders Karl beweinte, er wünschte doch oft, daß derselbe, wenn es nun doch einmal sein mußte, ein Jahr früher gestorben wäre, damit er dann nicht mehr zur Rekrutenaushebung hätte mitlosen und verspielen müssen. Daß es ihm nicht um die paar hundert Gulden war, welche er dem Hansjörg, seinem Stellvertreter, zu zahlen hatte, wußte wohl jeder, der den Stighans auch nur ein wenig kennen gelernt hatte. Geizig war er nicht, und seine Sparsamkeit im Kleinen mußte man ihm für Ordnungsliebe auslegen, wenn man seine Freigebigkeit im Großen sah. Freilich, er hatte es, denn er war, obwohl es dem in schlechten Kleidern gleichgültig Daherwatschelnden kein Mensch angesehen hätte, bei weitem der reichste Bauer in der ganzen Gegend. Außer dem Stighof, von dem seine Familie den Namen hatte, und vielen Kapitalbriefen gehörte ihm auch das stattliche Anwesen in Argenau, einem der vielen Weiler des Dorfes, die zusammen die Gemeinde Au bilden, und das schlechte Häuschen mit dem Gut am Argenstein, zu dem er jetzt noch immer so scheu hinüberschielte, während er mit seinem ehemaligen Schulfreunde langsam und schweigend auf dem seit lange zum erstenmal wieder trockenen Platze neben der Kirche hart am Fuße des Fluhfelsens dahinschritt. Erschrocken standen beide still, als sie, plötzlich durch das dumpfe Geräusch der Schritte in ihren Gedanken unterbrochen, auf der gedeckten Brücke sich befanden, welche rechts über die Ach zu den an der Arge liegenden Weilern Argenfall, Argenzipfel und Argenau, dem sogenannten Herrendorfe, führt.

Hans war ordentlich froh, daß Jos sich auf einen Balken der Seitenwand setzte, indem er sagte: »Da ist's recht schön und[40] ein gehöriges Durcheinander in den Wasserwirbeln unten.

In dem Lärmen und Tosen ist mir immer am wohlsten.«

»Mir ist's schon auch recht, daß ich etwas höre«, sagte Hans leise, indem er seinen silberbeschlagenen Tabakkübel aus der Tasche zog. »Da wollen wir eine Weile sitzen und eins plaudern, lauter, als das Wasser tost.«

Aber so ein lautes, frohes Gespräch, das alles übertönt und vergessen macht, läßt sich nicht so mir nichts, dir nichts befehlen. Beide wollten unterhalten oder vielmehr unterhalten werden, und doch saßen sie wieder schweigend da, während Hans seinen wohlbeschlagenen Maserkopf aus der mit lieblich duftenden Blättern bis zum Platzen gefüllten Schweinsblase füllte, die Dorothea ihm mit seidenen Bändern hübsch eingefaßt hatte. Jetzt schlug Hans Feuer, und als der von seinem Stein aufzuckende Blitz die mächtigen Balken der sonst vom Dache beschatteten Brücke beleuchtete, dachte er an den armen Hansjörg, der seinetwegen über so manchen Gewehrblitz erschrecken mußte; Jos aber beneidete den Meister, der durch diese Brücke das Dorf verband und ganzen Geschlechtern ein Wohltäter wurde. Dann schauten beide durch eine in der Brückenwand gelassene Öffnung hinab auf die tosend hinausstürzende Ach. Hans erblickte nun auch wieder die schneeweißen Eierschalen neben sich auf einem Balken und sagte lachend: »Merkwürdig, wie man doch bei allem Ernste noch ein Kind ist und am Kindischen seine größte Freude haben kann!«

»Und warum auch nicht?« fragte Jos. »Ist einem doch als Kind weitaus am wohlsten! Ich wollte fast, daß ich mein Lebtag ein Kind hätte bleiben können.«

»Ich doch nicht«, versetzte Hans schnell. »Glücklich«, fügte er dann sinnend bei, »recht glücklich sind wir da freilich gewesen.«

»O gewiß«, fiel Jos, dem das »wir« noch besonders wohlgetan hatte, herzlich ein und begann dann zu schildern, wie wohl ihm damals gewesen, wenn auch ihn, den Jungen der unbeliebten Schnepfauerin, nur höchst selten ein Auge freundlich[41] angeblickt habe. Auch Hans erinnerte sich lachend manches lustigen, tollen Streiches, den sie damals mitsammen machten. Der gutmütige, nur etwas unbeholfene Bursche konnte das lebhafte, zu allem aufgelegte Jösle unter den Kindern der Nachbarschaft weitaus am besten leiden, weil es ihm gewöhnlich auch die lästigen Schulaufgaben machte und überhaupt aus vielen Verlegenheiten half. Hansens Vater fand das ganz in der Ordnung. Dafür ja, meinte er, sei man eben reich, daß man andere gleich einspannen könne, wo man nicht gern selbst ziehe. Die Stigerin war auch nicht gegen das Einspannen, doch sie wehrte Hansen den vertrauten Umgang mit einem Menschen, dessen Dasein nach ihrer Ansicht in den Augen Gottes und aller guten Menschen ein Greuel sein mußte. Die arme Schnepfauerin, die die vom Söhnchen verdienten Kreuzer des reichen Nachbarn recht grausam nötig gebraucht hätte, kam auf den Gedanken, ihr Jösle sei der Stigerin zu arm; doch daß sie damit nicht das Richtige getroffen hatte, bewies später der Umstand, daß sie ihren Hans auch nie neben des reichen Krämers Angelika sehen wollte, weil ihr Vater manches tat, was sie ihm erst vor drei Jahren verzieh, als er den Hansjörg, seinen Schneider, – sie kümmerte sich in der Angst nicht, wie – für ihren jüngeren Sohn zu den Soldaten geschwätzt hatte.

Als Hans vorhin sagte, daß er doch die Jahre der Kindheit sich nicht mehr wünschen würde, dachte er sicher an den Zwang, den die Mutter besonders nach dem Tode des alten Stigers ihm und seinem Bruder selig angetan hatte. Sie durften nur mit wenigen, meistens langweiligen, verzogenen Kindern aus den besten, angesehensten Häusern spielen, und so wenig als bei der Wahl ihres Umgangs war ihnen sonst gestattet, sich ihren Gefühlen und Neigungen zu überlassen. Das war noch jetzt nicht anders, nur daß Hans sich nun eher daran gewöhnt hatte.

Als Hans heute den Jos zum Mittrinken einlud, dachte er gewiß nicht im entferntesten mehr an eine Auffrischung des alten freundschaftlichen Verhältnisses. Das wäre ja jetzt etwas[42] ganz Neues gewesen, und etwas Neues wollte Hans ebensowenig als sein seliger Vater, dem er in diesem und noch in vielen anderen Stücken merkwürdig ähnlich war. Nur sein Schrecken über den vom Vorsteher vorgelesenen Brief hatte ihn gedrängt, irgend jemandem etwas Gutes zu tun, um dann mit sich selbst wieder etwas zufriedener zu werden. Wenn es dann dem Jos gelang, seinen ehemaligen Freund wieder lebhaft an gemeinsam verlebte schöne Stunden zu erinnern, so darf man doch nicht glauben, daß er da schon als fortgeschickter Schneider und dienstsuchender Knecht oder Tagwerker geredet habe. Solchen armen Jöslein stehen in der Regel viel zu wenige Figuren zur Verfügung, um gute Schachspieler zu werden. Hier auf der dunkeln Brücke, dem einzigen Platz außer seinem Hause, wo niemand ihn wegschicken durfte, war wunderbar obenauf gekommen, was jetzt in ihm arbeitete. Begeistert redete er von der Zeit, in der sie beide Kopf und Hand, Klugheit und Tatkraft, List und Geld immer traulich zusammenzuhalten pflegten, bis er durch das Kommen eines Dritten unterbrochen wurde.

Es war der Krämer, der sich gleich hart neben Hansen stellte und vertraulich plauderte, bis er auch den neben ihm im Dunkel sitzenden Schneider erkannte. »So, du bist auch da?« sagte er etwas verlegen. Dann drehte er sich um, indem er auch Hansen recht bald und glücklich heimzukommen wünschte.

Bald waren die festen Tritte des für sein Alter noch ungewöhnlich rüstigen, nur etwas nach vorn gebeugten Mannes verhallt.

Unsere beiden Freunde aber dachten noch nicht daran, ihm ins Herrendorf hinauf zu folgen, von wo der Schatten seines stattlichen Hauses über den Hügel auf die mondbeglänzte Ach herunterragte. »Ich hätte gedacht«, bemerkte Jos, »der Krämer hätte nun sein Hühnchen für morgen gerupft und müßte nicht auch noch in der Nacht Geschäfte machen, da er ohnehin denen die Haare ausreißt, die sich von ihm kämmen lassen.«[43]

»Laß ihn doch einmal gehen!« bat Hans in beinahe befehlendem Tone.

»Ja, wir wollen uns die schöne Stunde nicht verderben«, stimmte der Schneider bei. »Sie ist wirklich schön, und mir tut es so wohl, daß wir wieder einmal vertraulich beisammen sind und, wie früher oft, das gleiche haben und das gleiche wollen. Mir ist das Herz so aufgegangen, daß ich keinem Menschen mehr etwas absein könnte. Mit dir ist mir der Mut und die Weichheit von früher wieder gekommen. O Hans, es ist schade, daß du sonst in jetziger Zeit so weit von mir stehst und so hoch ob mir, daß mir schon fast schwindelt, wenn ich zu dir hinaufsehe.«

Hansen schienen diese Worte nicht besonders zu gefallen. Hastig langte er nach seinem Hute mit den Eierschalen und schritt über die Brücke auf die Schattenseite hinüber. Jos ging, seine Rede herzlich bereuend, langsam nach. Es war jedenfalls unklug, den Schwachen schon jetzt wieder an die Abneigung seiner stolzen Mutter zu erinnern. Schweigend bestiegen sie die kleine Anhöhe, von der aus sie nun die ringsum an die Berge gleichsam angelehnten Weiler und die einsam stehende Kirche zu übersehen vermochten.

Hans stand aufatmend still und sagte lachend: »Dein Schritt paßt noch gerade so zu meinem wie früher. ›Hans und Jösle, Hans und Jösle, Hans!‹ klappt es noch wie früher, wenn wir miteinander über die Gasse gingen. Das ›Hans‹ ist mein Tritt und das andere Gezappel dein Gang. Mir tut es wohl, das wieder einmal zu hören, wenn ich mich auch freue, daß wir seitdem älter und auch etwas klüger worden sind.«

»Du hast gut fröhlich sein«, erwiderte Jos. »Fröhlich kannst du zurückschauen und sorglos in die Zukunft. Wer ins Schwabenland hinausfährt, weiß gar nicht, wie weit es ist. Und auch draußen erlebt er ganz anderes, als wer mit der ganzen Habe im Zwillichsack auf dem Rücken ermüdet ankommt und einen Dienst sucht. Ja, Hans, du bist ein glücklicher Wanderer!«

»Und du?«[44]

»Ich bin müde worden auf meiner bösen Strecke und nun gar noch verirrt.«

»Du ermüdet? Das sollte man in den Kalender drucken lassen.«

»Warum nicht gar! Von mir mag man nicht einmal reden, geschweige denn schreiben und lesen. Nur wenn ich einmal den Kopf auch ein wenig aufrichten will, hat man Zeit, mich zu tadeln und wie ein Donnerwetter über mich herzufahren.«

»Um so etwas nur tät ich mich eben gar nicht bekümmern.«

»Ich freilich auch nicht, wenn ich festsäße wie du. Aber den armen Leuten geht zuweilen alles aus, sogar die Geduld.

Auch sein Roß und das Rind schützt der Bauer und verzeiht ihnen einen tollen Sprung, wenn sie sich sonst gut halten; so einem armen Teufel gegenüber jedoch kennt man keine Gerechtigkeit und dünkt sich selbst um so höher und besser, wenn man ihm ein rechtes Kohlrabengesicht gemacht hat.«

»Ist dir wieder einmal einer auf die Zehen gestanden?«

»Sie treten einem nicht bloß auf seine Zehen, sondern auch auf die Hände, den Kopf und das Herz.«

»So geht's einem, wenn er zu geduldig ist und sich so wenig zu regen und zu wehren weiß wie du«, spottete Hans.

»Wehre dich, wenn du die Katze im Sack bist, mach' eine Faust, wenn du keine Hand hast!«

»Lachen über alles oder gehen ist immer das gescheiteste.«

»Es ist besser, zwanzig gute Lehren geben, als eine einzige befolgen. Das Kätzlein weiß gar nicht, wie der Maus zumute ist. Stell' dich an meinen Platz in Gedanken, weg von deinem Geld und deinem Anwesen, zu einer Mutter, für die du arbeiten und etwas verdienen möchtest. Kannst du das?«

»Ganz leicht.«

»Wir wollen gleich sehen. Sag' mir nur, ob man da nur lachen und gehen kann, wenn sich auch das Ehrgefühl niemals regen sollte?«

»Aber so als Ladenschneider hast du doch keinem Menschen etwas nachzufragen, wenn du nur deine Sache gehörig machst.«[45]

»Als den Bauern, allen Kunden und dem Krämer und der Zusel. Aber schon an der hätte einer genug. Das ist dir eine, viel, viel ärger als drei Wochen Zahnweh. Wenn dich der Alte – denn Vetter mag ich ihn nicht mehr nennen – lange genug gebügelt und geschert hat, fährt auch sie noch daher auf ihrem Hochmut und läßt es mich jeden Augenblick empfinden, daß ich nicht der Hansjörg bin, für den sie ganz ein anderes und ein recht liebliches Paar Augen gehabt hatte. Aber das ist jetzt aus. Ins Haus geh' ich nicht mehr, aber noch einmal bis vor die Tür, um dem Pfau diese Schalen da zu streuen. Sie wär' nach dem Brauch noch zu jung für den Jungfrauenstuhl, drum wird das unseren Biggel nicht wenig ärgern.«

»Und was willst du dann?« fragte Hans ernst.

»Was ich kann.«

»Jetzt gibt's Arbeit genug, wenn einer nicht nur schimpfen, sondern auch schaffen will. Du hast dich freilich an die Stube gewöhnt, und nicht jeder, der einen Knecht oder Tagwerker braucht, würde dich gleich anstellen wollen. Komm nach den Feiertagen zu mir. Man kann dich nicht auf der weiten Gasse lassen.«

Hans hatte ungewöhnlich entschieden gesprochen, gerade so, als ob jemand das Gegenteil sagte. Es war ihm auch wirklich, als ob er schon das Kopfschütteln seiner Mutter sehe, an die auch seine letzten Worte gerichtet waren.

Jos sagte bei weitem nicht so schnell und freudig ja, als Hans wohl erwartet hatte.

»Bei mir«, fing der reiche Bauer wieder an, »bei mir wirst du es dann wohl aushalten können, und Zuseln, die dir böse Augen machen und dich quälen, gibt es auch keine. Die Mutter kümmert sich nicht mehr gar so um alles wie früher, Dorothea aber, die Magd, ist so gut und brav, daß du sicher mit ihr zufrieden bist.«

»Das glaub' ich von Herzen gern«, sagte Jos mit einem Seufzer. »Gewiß erleb' ich in deinem Hause nur Liebes und Gutes, aber es kann einem zuweilen auch das Heilsamste und Kräftigste[46] ungesund sein, wenn es zur unrechten Zeit genommen wird.«

»Zu stolz wenigstens«, bemerkte Hans etwas streng, »wird dir des armen Mathisles Dorothea hoffentlich nicht vorkommen; aber ich weiß gar nicht, wie du da meinst?«

»Honig, zum Beispiel«, sagte Jos, »paßt viel weniger auf den Hemdkragen als auf das Butterbrot«.

Jetzt war Hansens Geduld zu Ende. Er meinte es doch so herzlich gut mit dem sonderbaren Trotzkopf. Sogar den lieben Hausfrieden setzte er seinetwegen aufs Spiel, denn es war nicht zu erwarten, daß die Mutter es mit ihm auch habe wie mit dem Krämer, den sie früher gar nicht leiden konnte, der aber jetzt ein Mann ganz nach ihrem Herzen war, so daß Hans ohne seinen Rat kaum eine Ziege kaufen durfte. Hans wenigstens erwartete einen tüchtigen Verweis, daß er so einen ungeübten Knecht ins Haus bringe, einen Menschen überdies, den sie nun einmal nicht leiden könne. Dafür aber hatte er von dem dienstlosen Schneiderlein gerade keinen Dank, doch wenigstens ein freudiges Ja gehofft. Und nun waren solche schlechte Späße der Dank und die Antwort. »Der Teufel«, fuhr er auf, »oder wer sonst Lust hat, mag da dein dummes Gerede deuten und erlesen. Ich will jetzt ganz kurz und gut wissen, ob du am Dienstag kommst oder nicht.«

»Ich komme«, sagte Jos, und man konnte ihm dabei leicht anhören, wie wohl ihm wurde, als er endlich mit sich selbst eins geworden war.

»Und warum«, fragte Hans, »kommt das denn gar so schwer, daß man fast meinte, man müsse es mit einer Steinschraube heraufwinden?«

Das kam dem guten Burschen in diesem Augenblicke so unerwartet und griff dabei so tief, daß er in der Eile nur eine andere, scheinbar gar nicht hierher gehörige Frage hervorzubringen vermochte: »Sagst du mir auch, für welches Mädchen du die Schalen da bekommen hast, nachdem ich gegen dich so offen gewesen bin?«[47]

»Von Herzen gern«, antwortete Hans fröhlich, »die sind für Dorotheen, die Magd. Die Wirtin hat also ganz umsonst gefürchtet, es könnte Händel geben ... Solche Späße machen wir immer, und du glaubst gar nicht, wie kurzweilig das dann ist.«

»Ich kann es mir wohl einbilden«, sagte Jos leise. Hans aber fuhr munter fort: »Ihr Namenstag fällt in eine Zeit, wo es weder Blumen noch frisches Laub gibt. Ich und der alte Knecht aber, ein herzguter Kerl und nicht so ein Kopfhänger wie du heute, wir haben uns gleich zu helfen gewußt. Wir wollten ihr zeigen, daß wir die Bedeutung kennen, die der sechste Hornung für sie hat. Rate nun, damit du doch deinen Ärger über die Zusel einmal aus dem Gesichte bringst, womit wir dem guten Mädchen seinen Namenstag schmückten?«

»Nun, mit was denn?«

»Morgens in aller Frühe, noch bevor sich eine Kuh im Stalle regte, haben wir statt Festbäumchen zwei Besen rechts und links neben der Tür ihrer Kammer auf die Stiele gestellt, um welche statt Blumen duftendes Bergheu gewunden und mit alten Hosenträgern befestigt wurde. Schießen konnte nun freilich keiner von uns, ein gehöriges Namenstagsgerumpel aber hat es denn doch geben müssen; das hätten wir durchaus nicht anders getan. Wir suchten auf der Rumpelkammer sorgfältig alles Küchengeschirr, welches sie im Laufe des Jahres und seit länger zerschlagen oder unbrauchbar gemacht hatte, und in einem alten, verwetterten Hute befestigten wir es so ob der Türe, daß es laut klirrend niederstürzte, als diese von innen geöffnet wurde. Die Gute hat herzlich gelacht über diese Aufmerksamkeit, die wie eine andere den guten Willen zeigte; doch du mußt nicht glauben, daß uns der Streich geschenkt geblieben sei.«

Jos konnte nicht so herzlich lachen wie Hans, obwohl er sich wenigstens den Schein geben wollte. Er war froh, daß er nun bei dem Gäßchen anlangte, welches zum Hause seiner Mutter hinunterführte.[48]

»Also am Dienstag oder vielleicht schon übermorgen will ich kommen«, rief er noch zurück und hätte fast dem Hans eine gute Nacht zu wünschen vergessen.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 36-49.
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