Fünfundzwanzigstes Kapitel
Was an diesem Abend noch weiter geschah

[343] Auch Zusel und Angelika, die beisammen in der mit Heiligenbildern verzierten, ungewöhnlich stark eingeheizten Wohnstube saßen, hatten das nur in einzelnen Klängen vom Sturm da herüber geworfene Feierabendläuten gehört. Aber wie seltsam auch die Glocke klang, die beiden Schwestern dachten doch an gar nichts Besonderes. Stehend beteten sie laut[343] den Englischen Gruß und setzten sich dann wieder zu dem kleinen Tischchen, auf welchem Zusel die verschiedensten Seidenstoffe zur Auswahl für ihre Hochzeitsärmel ausgelegt hatte. Das Mädchen prüfte, verglich, stellte sich bald näher, bald ferner, wand jedes Stück um die schöngeformten runden Arme und schien über die Vorbereitungen zur Hochzeit alles andere vergessen zu haben. Oder war es gar etwas noch Ärgeres als nur ihr Leichtsinn, was ihr bang machte, wenn Angelika von der Zukunft redete und sie sogar zum Weinen brachte, da die so unglücklich verheiratete Schwester sagte, daß nun sie den einsamen Väter zu pflegen und ihm nach Kräften frohe Tage zu machen gedenke? Angelika kam zu der Überzeugung, daß die Leidenschaft für Hansen, wohl nur aus Trotz und Hochmut entstanden, fast schon wieder mit den anfänglich im Wege stehenden Hindernissen vergangen sei. Hansens ehemaliger Geliebten tat diese Bemerkung jetzt noch doppelt und dreifach weh. Sie konnte die Frage nicht mehr zurückhalten, ob wohl Dorothee und Hans einander unglücklich gemacht hätten.

Zusels kleiner Mund konnte sich recht unschön verziehen bei dem Ausruf: »Du bist auch noch auf der Seite der Elenden, die mir Hansen hat wegnehmen wollen!«

»Sie hat ihn vielleicht so innig geliebt wie du.«

»Das wär' für so ein armes Ding schon anfangs eine Dummheit gewesen.«

»Wenn aber so eine Neigung ohne jede Aussicht war, hättest du das arme Mädchen bedauern sollen, statt sie mit den allergemeinsten Mitteln zu bekriegen, ja fast zugrunde zu richten«, sagte das Weib, und ohne das unfreundliche Gesicht der Schwester bemerken zu wollen, fuhr sie, immer wärmer werdend, fort: »Vor dir steht eine schöne Zukunft, wenn du nur nichts Böses mit hineintragen mußt. Sonst aber wär's schade, wahrhaftig schade um alles. Denke dir nur, daß du jetzt nicht mehr bloß für dich allein da bist, sondern daß ein gewiß lieber, guter Mensch nun sein Schicksal an das deine[344] knüpfen will. Es wär' schon grad' zum Weinen, wenn du nicht einmal empfinden solltest, wie wichtig das ist. Hans gehört dein, du kannst glücklich werden, wenn dein Weg zum Glücke rein ist. Wäre doch die Welt so weit und groß oder der Mensch so gut und vernünftig, daß niemand gestoßen und getreten würde, wenn man auf diesem Wege vorwärts ginge! Euch beide will, muß ich glücklich sehen, das Gegenteil tät mir noch weher als alles andere.«

»Zur Unterweisung«, antwortete Zusel spitz, »hat man uns auf den Freitag zum Pfarrer befohlen. Du bist mir gar nicht die Rechte zum Predigen über glückliche Ehen. Es fehlt da zu sehr am guten Beispiel.«

»Aber nicht an Erfahrung.«

»Gut, so benütze sie nur für dich!«

»Es ist schon zu spät, wenn man einmal gegen sein Herz, gegen sein Gewissen gehandelt hat in einer so wichtigen Sache – wenn das große Ja vor dem Altar nur eine Lüge gewesen ist. Ein kleines Unrecht, nur eine Verirrung ragt oft wie ein Schatten in die ganze Zukunft hinein. Ich bitte dich um Hansens, um deines Glückes willen, keinen Fluch mit in die Ehe zu nehmen. Oh, die Tropfen sind furchtbarer Same des Unglücks, die über eine Verbindung in gerechtem Schmerz geweint werden! Denk' an Hansjörg und an Dorothee!«

»Das«, lachte Zusel gezwungen, »sind freilich nur Schatten, und vor denen fürcht' ich mich nicht. Die sollen meinetwegen nur hereinragen ...!«

In diesem Augenblicke begann die Sturmglocke zu läuten, und vor dem Haus entstand ein gewaltiger Lärm. Aus dem Durcheinander von Fragen und Antworten brachte Angelika schließlich heraus, daß es hinten im Dorf irgendwo brenne, daß aber Genaueres in dem Schneegestöber nicht zu erkennen sei. »Jesus Maria, mein Margretle!« jammerte die junge Mutter schon unter der Stubentür. »Um Gottes willen, Schwester, komm!«[345]

»Was kann ich tun?« fragte Zusel ruhig. »Es wird jetzt nicht gerade bei dir brennen müssen. Der Vater ist nicht da, jemand aber muß daheim sein. Ist mir eigentlich auch ganz recht. Wochenlang hätt' ich keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht, wenn ich so ein Elend mitansehen müßte.«

Der größte Teil dieser Rede war von Angelika nicht mehr gehört worden. Mit einem »Ach Gott!« stürzte sie die Stiege hinunter und befand sich jetzt schon mitten unter denen, die auch zum Retten und Helfen auf den Schauplatz des Unglückes eilten.

Der Schmied mit den jüngeren Burschen der Gemeinde war fluchend bemüht, die Feuerspritze unbeschädigt durch die enge Gasse und noch überdies zwischen Zaunpfählen, die starr aus dem Schnee herauf in den Weg hineinragten, halb zerfallenen Mauern und Holzbeigen hineinzubringen. Es war aber nicht mehr möglich, auch bei dem hinter einem Hause rechts und links aufgehäuften Bauholz vorbeizukommen. Mit unsäglicher Mühe mußte die Spritze wieder um die ganze Länge des Hauses zurück und aus der Gasse auf den Schnee gebracht werden, dessen untere Schicht zwar ziemlich hart, aber doch nicht fest genug gefroren war für solche Last. Nur schrittweise war hier, wo keine Pferde mehr benützt werden konnten, dem brennenden Hause näher zu kommen. Auf den Ruf des Schmieds ging es einen Ruck um den anderen. Auch Weiber und Mädchen halfen ziehen und stoßen oder waren doch wenigstens mit anderen am Platze. Sogar Angelika stand still und dachte ans Helfen. Aber die Angst der Mutter trieb sie bald wieder vorwärts auf dem schlechten Weg. Sie mußte doch vor allem wissen, ob ja nicht ihr Haus bedroht oder gar von dem Unglücke getroffen sei.

Der Sturm ließ nach, das Schneegestöber legte sich, und am bleiernen Himmel sah man da und dort ein Sternlein flimmern. Im Dorfe ward es immer heller, und jetzt fuhr's über den Schnee wie der Blitz. Der gleich folgende Schlag war dem des fernen Donners ähnlich. Angelika hatte bei der furchtbaren[346] Beleuchtung schon genug gesehen. Einen leisen Schrei ausstoßend, sank sie zusammen, aber schon im nächsten Augenblick eilte sie über den Schnee, wie es nur eine Mutter konnte, der es das Leben des einzigen Kindes zu retten galt. Das Auffliegen des Pulverfasses hatte auch dem Krämer, welcher ziemlich nahe dem brennenden Hause bewußtlos im Schnee lag, die Besinnung wiedergeweckt. Erschrocken sprang er auf und sah, wie das stattliche Gebäude schon an drei Ecken in Flammen stand. Alles, was er in den letzten Viertelstunden durchmachte, lag auf ihm mit furchtbarer Schwere und würde den Greis wieder in den früheren Zustand niedergedrückt haben, wenn er nicht noch ans Margretle, das liebe, gute Kind, gedacht hätte. Das lag nun in dem brennenden Hause, vielleicht von der erwarteten Mutter träumend oder von ihm, während sich die Flamme näher und näher wälzte, immer lauter brummend und prasselnd, wie vorhin im Stadel. Diese Vorstellung gab dem Krämer alle seine Kräfte mit einemmal wieder. Wie oft auch der Schnee jetzt unter seinen schweren hastigen Tritten brechen und er fast knietief einsinken mochte, dennoch kam er früher als Angelika vor dem Hause an. Ach, alle die vielen sah er einzig mit der Rettung der anderen Häuser beschäftigt. »Niemand«, rief er verzweifelnd, »niemand hat ein Herz für das arme Kind, niemand, niemand!«

Kein Mensch hatte gesehen, was der Krämer litt, als er den Himmel röter und röter werden, die ernsten Felsenköpfe da droben immer heller leuchten sah, während die Sturmglocke läutete. Niemand wußte noch, daß auf ihm allein alles mit doppelter Schwere liege, was diese Stunde der ganzen Gemeinde brachte. Aber eine Empfindung davon weckte schon der Ton seiner Stimme. Es war etwas in seinem Ausruf, das alle schaudern machte und ihr Mitleid mit dem sonst so unbeliebten Mann erregte, daß auch die Nachbarn sogar nicht mehr an die Gefahr dachten, die ihren Häusern drohte. Es war nur den folgenden Worten des Krämers zuzuschreiben,[347] daß man sich bald wieder von ihm abwandte und besorgt nach den immer mehr zusammenschmelzenden Schneemauern blickte. Der unglückliche Mann sah die Leute rat- und tatlos herumstehen. Er wußte nicht, daß alle mit Schmerzen warteten, bis Hans wiederkomme, daß man dann das Haus niederreißen und wenigstens der ärgsten Gefahr ein Ende machen dürfe. Mit heiserer Stimme rief er: »Steht ihr denn alle müßig, wenn man aus Menschenliebe sich regen sollte? Regt euch nur, ihr tut's nicht umsonst! Hundert, tausend Gulden, alles dem, der mir das Margretle wiederbringt!«

Ein unwilliges Gemurmel war die Antwort. »Er soll sein Geld nur behalten«, hieß es, »das Leben ist dafür niemand feil. Beim nächsten Windstoß ist alles aus, und besser wär's, wenn man das Haus gleich niederwerfen tät.«

Der Schnee zum Erhalten der schützenden Mauern vor den Nachbarhäusern war immer schwerer herbeizuschaffen. Schon flogen brennende Schindeln von der Stubenwand darüber hinaus, und fast alles eilte den bedrohten Gebäuden zu. Der Krämer schrie ihnen nach: »Seid ihr Menschen? Um alles nicht einmal einer! Und ich habe so viel getan fürs Geld, alles ums Geld! Herr und Gott, ich, ich muß das Margretle retten oder mit ihm sterben! Ja, sterben will ich, wenn man gar nicht mehr helfen kann.«

Den Bauern fiel es in der Verlegenheit nicht ein, ihm zu sagen, daß Hans schon hinein sei und gewiß das mögliche tun werde. Prüfend schauten sie sich um; es schien schwer, noch ins Haus, und unmöglich, später wieder herauszukommen.

Jetzt kam Hansjörg mit einer Leiter und lehnte sie vor der Wohnstube an. Viele wehrten ab und sagten: »Das Haus muß zusammengestürzt werden, sobald Hans herauskommt, oder gar noch früher.«

»Ist Hans drin?« fragte der Krämer, und ohne noch auf Antwort zu warten, die er schon aus den Gesichtern las, machte er sich auf die Leiter und rief: »Ich muß auch hinein, und ihr mögt dann einen dreifachen Mord begehen. Ich muß retten. Hab' ich alles das Elend im Stadel angerichtet, um nicht für[348] einen Schleichhändler zu gelten, so will ich doch nun kein Mörder sein!«

Hansjörg wollte den Aufgeregten, Verzweifelnden zurückhalten. Der aber machte sich mit Anstrengung aller Kräfte los und schrie, daß es alle hörten: »Ich hab' das Feuer angelegt im Stadel, als ich den Grenzjäger merkte, und ich will nun auch mit ihm kämpfen. Laßt den Mordbrenner retten oder zugrunde gehen!« Ein Fenster klirrte, und der Krämer verschwand hinter der ersten Flamme, die ein leiser Windstoß an dieser Seite des Hauses vorübertrieb.

Jetzt brannte das Haus auf allen Seiten. Hansen mußte das Entrinnen jeden Augenblick schwerer, ja schon fast unmöglich werden. Alles rief ihm zu, daß schon die Decken in den Zimmern sich zu senken begännen, aber dann fragte man sich erschrocken, wo er denn eigentlich noch herauskommen sollte, da ja schon alle Löcher in den Wänden Flammen ausspien.

Nochmals riefen alle Hansen und dem Krämer zu, sich doch um Gottes willen gleich herauszumachen. In den Lärm hatte sich eine Stimme gemischt, die jeder hörte und die jedem durch Mark und Bein ging. Es war die Stimme Angelikas. Schon im Herbeistürzen hatte sie aus dem Lärm alles erraten können. »Vater, Margret, Hans!« rief sie in einem fort. »Ja«, glaubten endlich mehrere von innen antworten zu hören, und im nächsten Augenblick sprang Hans mit dem zitternden Kind im Arme auf den Schnee, wie wenn jener Flammenstrom ihn herausgespien hätte.

»Das werd' ich dir nie vergessen!« jubelte die Mutter.

»Ich dir auch nicht«, sagte Hans. »Da die alle hätten rufen können! Als das Kind gefunden war, sah ich mich überall eingesperrt. Schon war mir der Mut ganz vergangen. Ich machte Reu' und Leid. Aber da hab' ich dich gehört, gewaltig hat es mich erfaßt, eine neue Kraft ist in mir lebendig worden und hat getrieben, daß ich dann, ich weiß selbst nicht wie, herausgekommen bin.«[349]

Jetzt stürzten mehrere Decken im Hause ein. »Nun ist's aus mit dem Krämer!« jammerten sogar die, welche wie Angelika neben dem geretteten Kinde alles andere vergessen zu können schienen.

»Und wo ist Andreas?« fragte Angelika mit unsicherer Stimme.

Die Bauern sahen sich verlegen an und meinten, er müsse noch neben dem Stadel im Schnee liegen. Einige jedoch wollten gesehen haben, daß der Verwundete von Jos, Dorotheen und noch einigen, die doch sonst nicht viel zu nützen glauben mochten, hinweggebracht worden sei.

Das war auch wirklich so gewesen. Dorothee, die eben einen Gang ins Herrendorf zu machen hatte, war mit den ersten auf dem Platze gewesen und sprang sofort dem Unglücklichen bei, den alle anderen verließen. Später kam auch Jos so schnell, als ihm sein immer noch nicht ganz hergestellter Fuß zu gehen erlaubte. Um das Haus herumgehend, sah er Dorotheen, und die beiden wollten sich eben anreden, als der Krämer laut vor allen seine Untat bekannte. Beide schwiegen erschrocken still, und erst nach einer Weile sagte das Mädchen: »Wie ist doch das eine schreckliche Stunde; jener Fluch meines Vaters, wie furchtbar hat er gewirkt!«

»Nein, Dorothee, das ist ja, wie du hörst, nur aus Mißtrauen und Schuldbewußtsein entstanden.«

»Und aus dem unseligen Schleichhandel. Oh, nehmet eine Lehre für euch, wenn ihr auch diesmal noch ungeschlagen durchkommt!«

»Gar nicht so ungeschlagen«, sagte Jos etwas bitter. »Auch mir und meinen Freunden ist hier der letzte Sparpfennig, alles zugrunde gegangen.«

»Dann«, sagte Dorothee noch beinahe fröhlich, »hat euch doch auf euerm Weg nur ein ersetzbarer Schaden getroffen. Ihr seht nun, wie es noch gar zum Verbrechen führt, wenn man aus Gesetz und Ordnung heraustritt und nur an sich selber denkt.«[350]

Jos aber konnte seinen Verlust nicht so leicht verschmerzen. »Unseliges Mißtrauen!« rief er. »Es wär' nie so weit gekommen, wenn auch der Krämer gemeinschaftliche Sache mit uns gemacht hätte. Aber der wollte den Hansjörg wegwerfen, drum hat er dann sich so vor ihm und dem Grenzjäger gefürchtet, als die beiden kamen, um mich zu einem Schoppen einzuladen. Ja, du hast wohl recht. Diese Stunde ist ernsthaft und lehrreich für Arme und Reiche, die ein ander im Kriege gegenseitig furchtbar werden.«

»Und du versprichst mir nun wohl, in Zukunft bei fleißiger, friedlicher Arbeit dein Heil zu suchen?«

»Nicht nur ich«, antwortete Jos, »wir alle sollten den Vorsatz mit heimnehmen, uns gegenseitig das Leben so zu gestalten, daß jeder mit der bestehenden Ordnung zufrieden wär' und keiner auf Abwege getrieben würde, weder Arm noch Reich. Wenn man das tät, so wär's noch mehr als nur so ein Haus wert.«

»Nun, so mach' den Anfang!« bat das Mädchen lächelnd.

»Versprich mir, in dieser Weise das Deine zu tun!«

Sie reichten sich die Hände und wechselten einen herzlichen Druck. Dann drehte sich jedes auf eine andere Seite und hatte mit dem Verwundeten zu tun oder dafür zu sorgen, daß er so schnell als möglich irgendwo untergebracht werde. Sie hätten viel nicht genommen, wenn ihr Gespräch von jemand auch nur gesehen worden wäre. Wie sind die Leute! Ihr Urteil ist sehr streng, und man verargt es einem, in solchen Augenblicken an sich selber zu denken, obwohl es fast jeder tut. Nun aber bemühten sie sich auch desto mehr um den Verwundeten, welcher mit Hilfe noch einiger Herbeigerufener in das nicht gar zu fern stehende Häuschen der Schnepfauerin gebracht wurde.

Nun glaubte Jos den Andreas in guten Händen. Er eilte wieder fort, den Doktor zu holen, und kam gerade recht an dem brennenden Hause vorüber, um Angelika noch geschwind Auskunft auf ihre Fragen über das Befinden des unglücklichen Gatten zu geben. »Er lebt, ist aber bewußtlos und scheint[351] mir am Kopfe sehr bös von etwas getroffen«, sagte Jos kurz und machte sich, ohne noch auf weitere Fragen zu hören, wieder fort.

»Und mein Vater?« jammerte Angelika.

»Tröst' ihn Gott im ewigen Leben!« riefen mehrere, die kein anderes Trostwort für die Unglückliche fanden.

»Hat er denn so aus der Welt gehen müssen? So schnell und unvermutet, sogar ohne Beicht' ...!«

»Er hat gebeichtet«, sagten einige, die dann aber erschraken, daß sie an sein schreckliches Geständnis erinnerten, und sich so schnell als möglich aus der Nähe der Unglücklichen machten, um nicht noch genauere Auskunft geben zu müssen.

Man redete wieder vom Niederreißen des Hauses, aber die Nachbarn, welche nach dem Dafürhalten aller die Sache doch weitaus am allermeisten anging, wollten durchaus nichts davon wissen. Seit der Sturm aufgehört habe, sei keine Gefahr mehr vorhanden, und auf der anderen Seite wär's doch noch möglich, daß der Krämer lebte. Im Grunde glaubten das nur wenige, aber man schwieg, weil man Angelika nicht um die letzte Hoffnung bringen wollte. Sie stand auf dem alten Platze wie angebannt, während der glänzende Strahl aus der nun endlich angekommenen Spritze mitten in die zischenden Flammen fuhr. Tränenlosen Auges starrte sie in die Glut, nur wenn wieder etwas am Hause zusammenstürzte, fuhr sie auf, wie wenn sie selbst getroffen zu werden fürchtete, sonst aber schien sie nichts, nicht einmal das Weinen des ermüdet neben ihr in den Schnee gesunkenen Kindes zu bemerken.

Erst als Jos mit dem Doktor zurückkam, rief sie: »Der Vater ist als Retter in guter Absicht gestorben. Gott sei ihm gnädig!« Dann hob sie das zitternde Kind auf den Arm, küßte es und folgte den beiden zum Gatten ins Häuschen der Schnepfauerin.

Mit immer besserem Erfolg arbeiteten Löschmannschaften und Spritze, da bald schon die letzten Dachbalken brachen und in den Gluthaufen stürzten, dem nun auch mit Schnee, welchen man von allen Seiten auf Schlitten herbeiführte, ganz[352] vortrefflich beizukommen war. Schon um zwölf Uhr wurden zwanzig Mann als Wache gewählt, damit die anderen heimgehen und sich zur Ruhe begeben könnten.

»Aber ihr Leute!« rief Hans, und alles drehte sich, um zu hören, was denn der so vielen zu sagen wage. »Uns allen«, fuhr er fort, »ist ernsthaft zumut, und es ist natürlich, denn wir verlassen ein Grab. Beten wir noch die üblichen fünf Vaterunser!«

Und alle knieten um den Gluthaufen herum und beteten laut und mit einer Andacht, wie sie sonst sogar in der Kirche selten war.

Nachher wurde überall von dem traurigen Ereignisse geredet. Den Krämer aber behandelte man so schonend, als ob in jenem Gebet ihm jeder die Hand zur Versöhnung gereicht hätte.

Wenn auch nicht alles über die Geschichte denken mochte wie Jos, es nahm doch jeder eine gute Lehre mit heim, die der seinen gerade nicht besonders unähnlich war.

Hans fragte nach der Zusel und erfuhr, daß die sich zu sehr fürchte und zu erschrocken sei über das Geschehene, um nur das Haus noch verlassen zu dürfen. Trotzdem ging er geradewegs ins Häuschen der Schnepfauerin, wo er eben recht kam, um den Andreas ins Haus des Krämers hinausbringen zu helfen. Nach einer kurzen Untersuchung sagte der Arzt, es sei vergebens, was man tun möge, wenn der Mann hernach nicht in Ruhe gelassen werde. Jetzt sei es windstill, und es würde dem Unglücklichen am allerwenigsten schaden, wenn man ihn gleich jetzt wieder hinaus und ins Haus des Krämers brächte, wo nun doch vorläufig seine Heimat sein würde. Dabei gab er nicht undeutlich zu verstehen, daß er freilich nur noch für kurze Zeit ein Haus auf dieser Welt nötig habe. Bald war Andreas auf eine Tragbahre gebracht, und schweigend trugen ihn vier kräftige Burschen dem Hause des Krämers zu. Angelika ging langsam hinten nach und war so in trübe Gedanken verloren, daß sie nicht darauf hörte, als einige Bauern ihr erzählen wollten, wie und wo einstweilen[353] ihre Kühe, die herrenlos im Dorf herumirrten, von Hansjörg und ihnen untergebracht worden seien. Anders aber war's, da das Margretle auf den Großvater kam und der Mutter sagte, wie er gleich auf den ersten Ruf zu ihm gekommen und so freundlich gewesen sei. Da horchte Angelika gleich auf, und das Mädchen mußte jedes Wort wiederholen.

»Und dann?« fragte sie hastig.

»Dann«, antwortete das Margretle, »dann ist er mit dem Licht in den Stadel, und gleich darauf hat es zu brennen angefangen. Mir ist angst worden bei dem Geprassel, und ich hab' mich in den Keller versteckt, wo ich nichts mehr davon hören mußte.«

»Und hat Hans dich erst dort gefunden?«

»Ja, ich bin nicht einmal gern mit ihm. Der Vater hat mir vorher auch gerufen, aber ich bin geblieben.«

»Wie ist aber das Feuer ausgekommen?«

»Hans, rede du!« sagte Hansjörg. »Sie soll das nur vom Retter ihres Kindes hören.«

»Ach Gott, was?« fragte Angelika, von einer plötzlich erwachenden Ahnung erschreckt.

Hans erzählte, was er gehört hatte, doch würde seinen Gefährten zu einer anderen Zeit aufgefallen sein, daß ihm seine sonst ganz rücksichtslose Wahrheitsliebe solche Milderung der Tatsachen zuließ. Der Krämer erschien vielmehr von der Sorge um das Margretle als von dem unruhigen Gewissen in das durch ihn angelegte Feuer getrieben, und Hans endete mit der Behauptung, daß ihr Vater als Märtyrer gestorben sei. Angelika dachte schaudernd noch immer an das ja vom Vater selbst noch ausgesprochene Wort Mordbrenner. Hans schien das zu vermuten, denn er sagte nach einer Weile: »Als Märtyrer oder auch als Büßer ist er gestorben. Es gefällt mir nicht, was er gemacht hat, aber ihm selbst hat es auch nicht gefallen, als er es gar so schrecklich werden sah. Nur weil eine Reue, wie sie selbst unsereinen, nicht bloß den lieben Gott rühren muß, ihn trieb, hat er seinen Fehler öffentlich bekannt und sein Leben gewagt, um das des Kindes zu retten. Solches[354] Bußwerk bewirkt, daß es ernst ist mit der Beicht'. Gott wird ihn so gnädig richten als wir und ruhen lassen im Frieden.« Jetzt war man bei dem Hause des Krämers angelangt, und Hans ging voran hinein. Der Zusel, die neben der Magd am Tische saß und den Rosenkranz durch die Finger zog, machte er kein besonders freundliches Gesicht und gab ihr zu verstehen, daß sie in den letzten Stunden wohl etwas anderes zu tun gehabt hätte, als daheim sitzend zu beten.

»Warum aber«, fragte das Mädchen, »bist denn du nicht zu mir gekommen an diesem traurigen Abend?«

»Weil ich Wichtigeres zu tun hatte«, war Hansens kurze Antwort; dann hieß er sie streng für den Andreas ein Bett herrichten, wenn auch das noch nicht geschehen sei.

Zusel gestand, sie hab' im Schreck noch an gar nichts gedacht als an den Tod des Vaters. Hans ging kopfschüttelnd hinaus und befahl, den Unglücklichen einstweilen in die Stube zu bringen.

Angelika half nun der Schwester, die kaum wußte, was sie tat und sollte. Eine Viertelstunde später lag Andreas im Schlafzimmer des Krämers und ward ruhig und still, während er vorher in unzusammenhängenden Worten vom Feuer, von Dorotheen, dem Grenzjäger und seinen Kühen zu reden angefangen hatte. Bei der Untersuchung des Doktors, die ihn fürs Leben verloren erscheinen ließ, kehrte ihm das Bewußtsein auf Augenblicke zurück. Dann schien er wieder in tiefen Schlaf zu versinken. Angelika, Zusel, Hans und der Doktor saßen schweigend vor dem Bette.

Auf einmal öffnete sich die Tür. Hansens jetziger Knecht polterte so laut ins Zimmer, daß auch der Schlummernde erschrocken mit der Frage auffuhr, wo es denn wieder brenne. Der Knecht aber schien außer Hansen gar niemanden zu beachten. Er sagte mit rauher Stimme: »Die Mutter läßt dich grüßen, du sollest heimkommen, da nun doch aus der Hochzeit nicht so schnell etwas werde. Sie hoffe nämlich als christliche Mutter eines anständigen Hauses – –«[355]

»Gut«, sagte Hans, der Zusel mit seltener Leidenschaftlichkeit das Wort abschneidend, »als christliche Mutter wird sie nichts dagegen haben, wenn ich nun dem Kranken den Pfarrer hole.«

Das war die rechte Antwort, um über das Peinliche dieses Augenblickes so schnell als möglich hinauszukommen. Zwar war der Doktor dagegen, aber man kam nun doch wieder auf andere Gedanken, so daß es Hansen leichter war, das Zimmer zu verlassen. Er war sehr unzufrieden mit dem Knechte und folgte der Mutter weniger aus Gehorsam, als damit er sich nicht mehr von Angelika und den anderen um ihre Rede ansehen lassen müsse.

Angelika wollte nicht ins Bett, und der Doktor mußte sie ernstlich daran erinnern, daß sie nicht nur für den Gatten, sondern auch für Margretles Mutter zu sorgen habe. Es war schon spät, als sie den Kranken einigen von Zusel hergebetenen Nachbarsleuten überließ.

Also wieder im Vaterhause! Zum erstenmal seit der Geburt ihrer Schwester, die der Mutter das Leben kostete und sie zuerst aus dem Hause und dann auch aus dem Herzen ihres Vaters verdrängte. Schlafen konnte sie nicht, oder war es etwa schon ein Traum, in dem sie, sobald sie das Licht löschte, wie noch in jeder großen Stunde die unvergeßliche Mutter vor sich stehen sah? Sie blickte jetzt wieder gerade so ernst wie damals, als Angelika, zum Teil fast aus wunderlichem Trotze, sich dem Andreas versprechen wollte. Die Erscheinung schien Angelika das Buch ihres Lebens aufgeschlagen zu haben. Sie sah nicht Buchstaben, wohl aber ihre Reden und Handlungen viel klarer, als das je vorher der Fall gewesen war. Ach Gott, an so vielem lag die Schuld auf ihr! Dem Hans verargte sie es, daß der Familienstolz der Mutter ihn schwach machen konnte, und sie selbst hielt dieser Stolz ihrer Basen vom Hause des Vaters fern! Freilich tat ihr das weh, aber wohl nicht weher als Hansen und auch dem guten Vater. Und dann ließ sie den Gatten empfinden, welches Opfer sie brachte, da sie sich mit ihm statt mit Hansen verband. Sie wollte ob ihm stehen und[356] seine Führerin sein, nicht sein Weib. Das nun hatte ihn aus dem Hause getrieben ins Weite, wo er, an nichts gefesselt, von der ersten Strömung erfaßt und wehrlos fortgetrieben werden mußte.

Angelika lebte sich immer tiefer in das Elend ihrer letzten Jahre hinein. Eins nach dem anderen sah sie entstehen und wachsen in dem Riß, der zwischen ihr und dem Gatten sich aufgetan hatte. Sie sann und betete, bis der rötliche Morgen über die Berge herauf zog. Nun aber eilte sie ans Bett des kranken Gatten. Sie traf ihn furchtbar leidend, aber augenblicklich bei vollem Bewußtsein.

»Angelika, wir hätten uns nie heiraten sollen«, sagte er mit schwacher Stimme. »Mir kommt das Feuer und alles wie eine Strafe Gottes vor, wenn ich auch nicht weiß, wie alles aufeinander geht.«

Angelika war unfähig zu antworten.

Andreas fuhr nicht ohne Anstrengung fort: »Es macht mich fast verrückt, wenn ich daran denke, wie schlecht ich in letzter Zeit worden bin. Wir haben keine guten Tage gehabt in dem hübschen Haus, und das Unglück, daß es zugrunde ging, ist wohl bei weitem nicht das größte.«

»Oh, es hat nicht am Hause gefehlt, sondern einzig an uns, hauptsächlich an mir!« klagte Angelika, die sich vergebens noch zu beherrschen suchte.

»Dann ist nichts, was mich entschuldigt. Ich hab' mir schon gedacht, mein Reichtum sei mein Unglück gewesen, weil er mich von jung auf daran gewöhnte, nichts und niemandem etwas nachzufragen.«

»Mein Vater dagegen war arm«, sagte des Krämers Tochter.

»Der wurde unglücklich durch seine Geldgier. Tröst' ihn Gott!«

»Ist er gestorben?«

»Ja«, sagte das Weib und erzählte ganz kurz, wie er ihr Kind habe retten wollen.

»Er ist also doch noch viel besser als ich«, jammerte der Kranke. »Er geht dem Kinde nach, ich aber komme im Schrecken[357] bloß dazu, ihm zu rufen. Dann eile ich, der Verschwender, dem Stalle zu. So gehen wir jetzt beide als Retter zugrunde. Gerechter Gott!«

Angelika setzte sich auf das Bett des Kranken, welcher zitternd nach ihrer Hand langte. »Gelt, es hat nur an uns gefehlt?« fragte er mit schwacher Stimme.

»Ja.«

»Sag' herzhaft: nur an mir! Schone mich nicht mehr! Ich muß die letzte Rechnung machen.«

»Will's Gott, nicht! Ich hab' viel, viel noch gutzumachen an dir. Bisher war ich nur die Predigerin, aber ich hatte nicht Liebe, Demut und Billigkeit neben der strengen Wahrheit. Du warst nur trotzig gegen mich Stolze, nicht schlecht.«

»So ist denn das doch wahr«, sagte er demütig. »Zuzeiten hab' ich das auch geglaubt. Aber ich wollte schlecht sein aus Hochmut und solchen zum Trotz, die doch nichts Gutes mehr von mir erwarteten. Ja, diese Erfahrung hat mir weh getan, und ich mußte sie mit Gewalt vergessen, ertränken. Drum ging mir Dorotheens Freundlichkeit so tief ins Herz und war wie ein Strahl aus dem Himmel! Aber im unreinen Gefäße wird alles Wasser trüb. Sogar dieses Glücks hab' ich mich unwert gezeigt. Ich war damals schon zu weit.«

»Oh, vergib mir, daß ich dich so weit getrieben, statt dir dein Haus lieb, zu einem Tempel zu machen!«

»Und du mir auch!« bat er.

Der nun eintretende Pfarrer traf die beiden Hand in Hand. »Es freut mich, daß das Wichtigste und Schwerste schon vorüber ist«, sagte er freundlich.

»Nicht das Schwerste«, widersprach der Kranke, »mir ist lang nie so wohl gewesen innerlich als jetzt. Der Friede mit sich und der Welt tut einem so wohl, daß man sogar sein spätes Kommen nicht mehr bedauern kann.«

Der Pfarrer schickte Angelika, deren Schmerz in heiße Tränen zu schmelzen begann, zum Zimmer hinaus, um dem Kranken seine Beichte abzunehmen.[358]

Es war die höchste Zeit, denn immer seltener kehrte ihm das volle Bewußtsein zurück. Angelika aber galten diese Augenblicke für die wichtigsten ihres Lebens. Mit ihm glaubte sie an die geheimnisvolle Pforte getreten zu sein und läuterte sich von mancher Kleinlichkeit an dem auch sie furchtbar brennenden Schmerz der immer wachsenden Entzündung, der der Arzt vergebens wehrte.

Am dritten Tag verkündete die Glocke das Ende seiner Leiden. Mit ihm wurden die aus dem Schutt gefundenen Gebeine des Krämers beerdigt.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 343-359.
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