Viertes Kapitel.

[72] In welchem einer der lustigsten Barbiere auftritt, deren jemals die Geschichte Meldung gethan hat. Den Barbier von Bagdad, oder den im Don Quichotte, nicht ausgenommen.


Die Glocke hatte schon fünf geschlagen, als Jones von einem siebenstündigen Schlafe erwachte so sehr erfrischt und in so vollkommener Gesundheit und Munterkeit, daß er sich entschloß, aufzustehen und sich anzukleiden. Zu diesem Ende schloß er seinen Mantelsack auf und nahm reine Wäsche heraus und ein ganzes Kleid; vorher aber warf er einen Frack über und ging hinunter in die Küche, um etwas zu bestellen, welches einen gewissen Tumult befriedigen könnte, den er in seinem Magen entstehen fühlte.

Da die Wirtin ihm begegnete, redete er sie mit großer Freundlichkeit an und fragte, was er zum Mittagessen haben könnte? –[72] »Zum Mittagessen!« sagte sie, »'s ist eine sonderliche Zeit am Tage, ans Mittagessen zu gedenken, und das Feuer wird wohl auch ausgegangen sein.« – »Mag sein!« antwortete er; »aber ich muß etwas zu essen haben, und es ist mir ganz einerlei, was es ist; denn Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich bin in meinem Leben noch nicht so hungrig gewesen.« – »Nun denn,« sagte sie, »ich glaube, da steht noch ein Stück kalt Rindfleisch mit Karotten, das wird es Ihnen ja wohl thun!« – »Vortrefflich!« antwortete Jones, »aber Sie würden mir einen Gefallen thun, wenn Sie's ein wenig in die Pfanne schneiden wollten!« welches die Wirtin zu thun versprach und dabei lächelnd sagte, es wäre ihr lieb, ihn wieder so wohl zu sehn; denn die Freundlichkeit im Betragen unsres Helden war fast unwiderstehlich, überdem war auch sie im Grunde wirklich kein mürrisches Frauenzimmer, aber sie liebte dermaßen das Geld, daß sie alles in der Welt haßte, was nur den Schein von Armut hatte.

Jones ging nun wieder hinauf, um sich anzukleiden, derweile das Essen fertig gemacht wurde, und es stellte sich auf sein Verlangen ein Bader oder Bartscherer bei ihm ein. Dieser Bader, welchen man den kleinen Benjamin hieß, war ein launiger Kerl, voller närrischen Einfälle, welche ihm sehr häufig kleine Verlegenheiten zugezogen hatten, dergleichen als Nasenstieber, Fußtritte, gebrochene Gliedmaßen und so weiter; denn alle Menschen verstehen nicht allemal Spaß und die, welche Spaß verstehen, nehmen's zuweilen ein wenig übel, wenn er auf sie selbst geht. Von diesem Laster war er aber nun einmal nicht zu heilen. Und obgleich oft seine Haut und Knochen dabei zu kurz gekommen waren, so mußte er doch jeden kurzweiligen Einfall, womit ihn sein Witz schwängerte, ohne Gnade zur Welt bringen, ohne die geringste Rücksicht auf Personen, Zeit oder Ort.

Er hatte noch viel mehr andere Besonderheiten in seinem Charakter, deren ich nicht erwähnen will, weil solche der Leser bei seiner fernern Bekanntschaft mit diesem außerordentlichen Manne gar leicht von selbst bemerken wird.

Jones, der aus einer Ursache, die man sich leicht einbilden kann, sehr ungeduldig war, mit dem Ankleiden fertig zu werden, meinte, der Bartscherer ginge sehr zauderhaft mit seinem Seifenschäumen zu Werke, und bat ihn, er möchte sich ein wenig fördern. Worauf der andre sehr gravitätisch antwortete (denn er hatte noch niemalen über irgend Etwas seine Gesichtsmuskeln verzogen): »Festina lente ist ein Sprichwort, das ich bereits lange vorher gelernt habe, eh' ich noch ein Schermesser anrührte.« – »Ich sehe, mein Freund, Sie sind ein Litteratus!« erwiderte Jones. – »Will nicht viel sagen,« versetzte der Bader, »non omnia possumus omnes!«[73] – »Noch mehr?« sagte Jones. – »Ich glaube, Herr, Sie wissen auch Ihren lateinischen Vers zu skandieren!« – »Verzeihen Sie mir, mein Herr,« sagte der Bader, »non tanto me dignor honore,« und damit ging er an seine Operation. »Mein Herr,« sagte er, »solange ich mich mit Seifenschaumschlagen abgebe, hab' ich niemals mehr als zwei Ursachen fürs Bartscheren ausfindig machen können, wovon die eine ist, einen Bart zu bekommen, und die andre, des Bartes ledig zu werden. Wenn ich recht urteile, mein Herr, so mag's wohl noch nicht lange her sein, daß Sie sich aus der ersten von diesen Ursachen haben rasieren lassen; auf mein Wort aber, es ist Ihnen sonderlich geglückt, denn man kann mit Recht von Ihrem Barte sagen, er sei tondenti gravior.« »Wenn ich nicht unrecht urteile,« sagte Jones, »so ist der Herr ein sehr komischer Kauz!« – »Sie haben sehr weit neben weggegriffen. Ich habe mich viel zu viel aufs Studium der Philosophie gelegt. Hinc illae lacrymae, mein Herr, darin liegt mein Unglück! Zu viele Wissenschaft hat mich ins Verderben gestürzt.« – »Wirklich?« sagte Jones. »Ich gesteh', mein Freund, Sie besitzen mehr Wissenschaft, als gewöhnlich zu Ihrem Gewerbe gehört. Ich kann aber nicht absehen, wie's Ihnen Schaden gebracht haben kann.« – »Ach leider! mein Herr,« antwortete der Bartputzer, »sie war schuld, daß mich mein Vater enterbte. Er war ein Tanzmeister; und, weil ich eher lesen als tanzen konnte, faßte er einen Haß gegen mich und verteilte alles, was er hatte, unter seine übrigen Kinder. – Befehlen Sie, daß ich Ihnen den Backenbart – holla, ich bitte um Vergebung, mich dünkt, da ist hiatus in manuscriptis! Ich hörte, Sie wollten in den Krieg gehen; aber, wie ich sehe, muß das wohl ein Irrtum sein.« – »Woher schließen Sie das?« sagte Jones. – »Nun, mein Herr,« antwortete der Barbier, »Sie sind ein zu weiser Mann, einen verwundeten Kopf dahin zu tragen; denn das wäre ja eben so viel, als trügen Sie Wasser ins Weltmeer.«

»Auf mein Wort,« sagte Jones, »der Herr ist ein spaßhafter Mann, und mir gefallen seine Einfälle ganz außerordentlich. Es soll mir lieb sein, wenn der Herr nach dem Essen zu mir kommen, und ein Glas Wein mit mir trinken will; ich möchte gern mit dem Herrn näher bekannt werden.«

»Ach, mein liebster Herr,« sagte der Bader, »ich könnte Ihnen wohl einen zwanzigmal größern Gefallen thun, wenn Sie ihn annehmen wollen.«

»Der wäre, mein Freund?« rief Jones. »Ei nun! ich will eine ganze Flasche mit Ihnen trinken, wenn Sie befehlen. Denn ich habe ein gutes Herz außerordentlich lieb; und da Sie es ausfindig gemacht haben, daß ich ein komischer Kauz bin, so will ich[74] Verzicht auf alle meine physiognomischen Kenntnisse thun, wenn Sie nicht einer der gutherzigsten Herren auf Gottes weitem Erdboden sind.« Jones ging nunmehr ganz reinlich angekleidet hinunter, und vielleicht war der berühmte Adonis nicht von liebenswürdigerer Gestalt; und dennoch hatte er keine Reize für unsre Frau Wirtin: denn so wie diese gute Frau in ihrer Person nicht die geringste Aehnlichkeit mit der Venus hatte, so hatte sie auch keine mit ihr im Geschmack. Glücklich wäre es für die Liesel, ihr Stubenmädchen, gewesen, wenn sie mit den Augen ihrer gebietenden Frau gesehen hätte; denn die arme Dirne war innerhalb fünf Minuten in unsern Jones so verliebt, daß ihr diese Leidenschaft nachher manchen Seufzer kostete. Diese Liesel war außerordentlich hübsch und fast eben so spröde; denn sie hatte einen Kellner ausgeschlagen, und einen oder zwei junge Pächter aus der Nachbarschaft. Aber die feurigen Augen unsres Helden tauten ihr Eis in einem Augenblick auf.

Als Jones wieder in die Küche kam, war für ihn noch kein Tischtuch aufgelegt; und wirklich war es auch nicht nötig, da das, was er essen sollte, noch in statu quo war, ebenso wie das Feuer, wobei es zubereitet werden sollte. Diese fehlgeschlagene Erwartung hätte manches philosophische Gemüt zum Zorne reizen können; auf unsern Jones that sie aber diese Wirkung nicht. Er gab bloß der Wirtin damit einen sanften Verweis, daß er sagte: weil es denn so schwer wäre, das Fleisch aufzuwärmen, so wolle er's lieber kalt essen. Nun aber fing die gute Frau an, ich weiß nicht, war es aus Mitleiden, oder aus Scham, oder aus sonst einer andern Ursache, ihre Bedienten nach der Reihe herum auszuschelten; warum sie nicht gethan hätten, was sie ihnen (niemals) befohlen; und darauf befahl sie dem Kellner, er solle in der Sonne den Tisch decken, machte sich selbst in vollem Ernst ans Werk und brachte das Gericht bald zu stande.

Diese Sonne, wohin jetzt Jones geführt ward, hatte wirklich den Namen, wie Lucas a non lucendo. Denn es war ein Zimmer, in welches die Sonne fast niemals einen Blick gethan hatte. Es war in der That das dunkelste Zimmer im ganzen Hause, und ein Glück für Jones, daß es das war. Indessen war er jetzt viel zu hungrig, um etwas schlecht zu finden. Allein, nachdem er einmal seinen Hunger gestillt hatte, befahl er dem Kellner, ihm eine Bouteille Wein in ein besser Zimmer zu bringen, und ließ sich ein wenig seinen Verdruß darüber merken, daß man ihn in ein solches Loch geführt hätte.

Nachdem der Kellner seinen Befehl ausgerichtet hatte, machte ihm bald darauf der Bader seine Aufwartung, welcher ihn wirklich nicht so lange auf seine Gesellschaft würde haben warten lassen,[75] hätte er nicht in der Küche der Wirtin ein wenig zugehört, welche daselbst einen Zirkel, den sie um sich her versammelt hatte, mit der Geschichte des armen Jones unterhielt, die sie teils aus seinen eigenen Lippen gezogen, und teils nach ihrer eigenen sinnreichen Erfindung zusammengesetzt hatte. Denn sie sagte: Es wäre ein armes Spittelkind, das Junker Alwerth ins Haus genommen hätte, um als Jägerbursche zu lernen, und wäre nun wegen Bubenstreiche weggejagt; hauptsächlich, weil er hätte Liebeshändel mit dem jungen Fräulein im Hause treiben wollen, und weil er wahrscheinlich auch das Haus bestohlen hätte. Denn wie sollte er sonst zu dem wenigen Geld gekommen sein, das er noch hatte? »Und dies,« sagte sie, »ist mir der schöne junge Herr! was sagt ihr dazu?« – »Ein Bedienter aus Junker Alwerths Hause!« sagte der Barbier; »wie heißt er?« – »Nun, er sagte mir, er heiße Jones,« antwortete sie. »Vielleicht hat er sich den Namen selbst gegeben. Ja, er sagte mir auch, der Junker hätte ihn als seinen eigenen Sohn gehalten, obschon er sich nun mit ihm gezankt hätte.« – »Nun, sehen Sie, wenn sein Name Jones heißt, so hat er Ihnen die Wahrheit gesagt,« erwiderte der Barbier; »denn ich habe in der Gegend Bekannte, von denen ich's weiß. Ja und einige Leute sagen, daß er sein Sohn sei.« – »Warum heißt er denn nicht nach seinem Vater?« fragte die Wirtin. – »Das kann ich Ihnen nicht sagen,« antwortete der Barbier. »Es gibt vieler Leute Söhne, die nicht nach ihren Vätern heißen.« – »Ja so!« sagte die Wirtin, »wenn ich wüßte, daß er der Sohn eines Junkers wäre, wär's auch nur so ein Beischlag, so wollte ich mich doch ganz anders gegen ihn benehmen; denn aus solchen Beischlägen werden oft große vornehme Männer, und wie mein armer erster Mann seliger zu sagen pflag: lege keinem Kunden was in Weg, wenn's ein hübscher Mann ist.«

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 72-76.
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