Zwölftes Kapitel.

[229] In welchem ein weit rührender Schauspiel zu sehen ist, als alles Blut in Schwögern und Blifils, und zwanzig andrer solcher Helden Leibern zu verschaffen im stande ist.


Die übrigen von Herrn Westerns Gesellschaft waren nun angelangt, gerade in dem Augenblicke, da sich das Treffen endigte.[229] Es waren folgende: der ehrliche Pfarrer, den wir bereits an Junker Westerns Tafel gesehen haben; Ihro Gnaden, das Hochwohlgeborne Fräulein von Western, Sophiens gnädige Tante und endlich die liebenswürdige Sophie selbst.

Um diese Zeit war der Anblick des blutigen Schlachtfeldes folgender: An einer Stelle lag auf dem Erdboden sehr blaß und atemlos der überwundene Blifil. Bei ihm stand sein Besieger Jones, fast ganz bedeckt mit Blut, davon ein Teil von Natur sein eigenes, ein andrer Teil aber noch vor kurzem das Eigentum des Ehrn Herrn Schwögers gewesen war. Auf einem dritten Platze stand dickbesagter Schwöger, wie ehemals König Porus, dem Sieger sich mit verbissenem Unmut unterwerfend. Die letzte Figur im Gemälde war Western der Große, höchst heldenmütig des besiegten Feindes schonend.

Blifil, an welchem sich wenige Zeichen des Lebens befanden, war anfänglich der Hauptgegenstand der Sorgen aller und besonders von Ihro Gnaden, Tante Western, welche aus ihren Taschen ein Riechflakon hervorgezogen hatten und sich selbst in eigner Person bemühten, es ihm vor die Nase zu halten; als plötzlich und auf einmal die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft von dem armen Blifil weggelenkt wurde, dessen Geist, wenn er nur im geringsten Lust dazu gehabt, jetzt diese schöne Gelegenheit hätte wahrnehmen können, sich ohne alle Zeremonien nach der andern Welt davonzuschleichen.

Denn da lag vor ihnen ein eben so melancholischer, als liebenswürdiger Gegenstand ohne alle Lebensbewegung. Dies war kein geringerer als die reizende Sophie selbst, welche von Ansicht des Bluts, oder aus Angst um ihren Vater, oder aus einer andern Ursache, in eine Ohnmacht hingesunken war, bevor ihr jemand hatte zu Hilfe eilen können.

Ihro Gnaden, Fräulein von Western, sahen das zuerst und machten ein helles Geschrei. Flugs darnach schrieen zwei oder drei Stimmen zugleich: »Fräulein Sophie ist tot!« Eau de Luce! Hirschhorngeist! Wasser! Um jedes Hilfsmittel ward auf einmal und fast in einem Augenblick gerufen.

Der Leser geliebe sich zu erinnern, daß wir in der Beschreibung dieses Wäldchens eines rieselnden Bächleins erwähnt haben; welches Bächlein nicht dahin kam, wie dergleichen sanfte Silberbäche durch die alltäglichen Romane fließen, ohne da irgend etwas anders zu thun zu haben, als zu rieseln und zu murmeln. Nein, das Glück hatte beschlossen, diesen kleinen Rhein mit höhern Ehren zu adeln, als alle jene, welche die arkadischen Thäler bewässern, jemals verdient haben.[230]

Jones war darüber her, Blifils Schläfe zu reiben: denn er begann zu besorgen, er möchte ihm einen Schlag zuviel gegeben haben, als die Worte, Fräulein Sophie und Tod, ihm zugleich in die Ohren schallten. Er sprang auf, überließ Blifil seinem Geschick und flog nach Sophien, und unterdessen, daß alle übrigen die Kreuz und Quere durcheinander sich an die Köpfe rannten, und sich in den trockenen Steigen nach Wasser umsahen, faßte er sie in seine Arme, und fort lief er damit querfeldein, nach dem oben bemeldeten kleinen Bache; hier patschelte er selbst ins Wasser und besprengte ihr Kopf, Gesicht und Busen aufs reichlichste.

Ein Glück für Sophien war's, daß eben die Verwirrung, welche ihre andren Freunde hinderte, ihr Beistand zu leisten, solche ebenfalls hinderte, unsern Jones aufzuhalten. Er hatte sie schon den halben Weg fortgetragen, ehe sie wußten, was er thun wollte, und hatte sie wirklich schon wieder ins Leben zurückgerufen, bevor sie bei dem Wässerchen anlangten. Sie streckte ihre Arme aus, öffnete die Augenlider und seufzte: Ach Himmel! eben als ihr Vater, ihre Tante und der Pfarrer Schickelmann herzukamen.

Jones, der bisher seine liebliche Bürde in den Armen gehalten hatte, ließ nunmehr seine Schlingen los, drückte ihr aber in eben dem Augenblicke einen so zärtlichen Kuß auf die Wange, daß sie, wenn ihre Sinne damals schon völlig wiederhergestellt gewesen wären, es gewiß gefühlt haben müßte. Da sie also über diese herausgenommene Freiheit kein Mißvergnügen zeigte, so glauben wir, ihre Ohnmacht sei zu der Zeit wohl noch nicht so völlig vorüber gewesen.

Dieser tragische Auftritt ward nun auf einmal in eine Freudenszene verwandelt. Hierin war unser Held, außer allem Zweifel, die Hauptperson. Denn so, wie er wohl gewiß ein inniges Vergnügen darüber fühlte, Sophien gerettet zu haben, als sie selbst darüber empfand, gerettet zu sein: so wurden auch Sophien nicht soviel Glückwünsche gemacht, als dem Jones darüber gesagt wurden, besonders von Herrn Western selbst. Dieser, nachdem er seine Tochter ein- oder ein paarmal in seine Arme gedrückt hatte, konnte nicht satt werden, Jones zu umhalsen und zu küssen. Er nannte ihn Sophiens Retter, und beteuerte, er wüßte nicht, seine Tochter und seine liegenden Gründe ausgenommen, was er ihm nicht gerne gäbe; nach ein wenig Besinnen aber, nahm er hernach doch noch seine Jagdhunde, den Chevalier und den Murpaß aus. (So nannte er seine liebsten Reitpferde.)

Nachdem nun die Sorge um Sophie zerstreut war, ward Jones der Gegenstand von des Junkers Sorgfalt. »Komm, komm, lieber Bursch,« sagte Western, »'runter mit'm Rock, und wasch' dir's[231] Angesicht; denn 's ist dir in'n höllisch saubern Unflat, glaub' mir's. Komm, komm, wasch' dir; und sollst mit mir nach Haus gehn und woll'n dir 'n andern Rock such'n.«

Jones that augenblicklich was man verlangte: warf den Rock ab, stieg ins Wasser und wusch sich das Gesicht und den Busen, denn der letztere war eben so zerschlagen und blutig als das erstere. Allein, obgleich das Wasser das Blut hinwegnehmen konnte, so konnte es doch nicht die schwarzen und blauen Flecken abwaschen, welche Schwöger beiden eingedrückt hatte und welche, als Sophie sie wahrnahm, ihr einen Seufzer abnötigten und dabei einen Blick voll unaussprechlicher Zärtlichkeit.

Diesen faßte Jones mit seinen Augen auf, ohne von dessen Kraft das geringste auf die Erde fallen zu lassen, und er that auf ihn eine stärkere Wirkung als alle Verletzungen, die er vorher empfangen hatte. Eine Wirkung, die bei alledem von höchst verschiedener Art war; denn sie war so erquickend und balsamisch, daß, wären alle auf ihn gefallene Streiche Dolchstiche gewesen, sie ihn auf einige Minuten verhindert haben würde, die Schmerzen dieser Stiche zu fühlen.

Die Gesellschaft begab sich nun wieder auf den Rückweg und langte bald wieder auf der Stelle an, wo Schwöger dem Blifil von neuem auf die Beine geholfen hatte. Hier können wir den frommen Wunsch nicht unterdrücken, daß alle Mißverständnisse durch keine andre, als diese Waffen beigelegt werden möchten, womit die Natur, welche recht gut weiß was sich für uns ziemt, uns ausgerüstet hat; und daß das kalte Eisen niemals gebraucht werden möchte, in andern Eingeweiden zu wühlen, als in den Eingeweiden der Erde. Dann würde der Krieg, dieser liebe Zeitvertreib großer Monarchen, fast gänzlich unschädlich werden, und man könnte Schlachten schlagen, so oft es nur hier oder dort eine Dame von Stande zu wünschen äußerte; und diese selbst könnten denn ebensowohl als die Könige dabei persönliche Zuschauer abgeben. Alsdann könnte das Schlachtfeld diesen Augenblick mit leblosen Körpern dick bestreut liegen und den folgenden könnte die tote Mannschaft, wenigstens dem größten Teile nach, wieder aufstehn, wie die gelenken Personen einer nichtessenden Schauspielerbande, und könnte nach dem Schall einer Trommel oder einer Klingenthaler Geige abmarschieren, je nachdem man vorher darüber Abrede getroffen hätte.

Ich möchte, wenn's möglich wäre, diese Sache nicht gerne spaßhaft behandeln, damit die ernsthaften Männer und politischen Staatslotsen, welche, wie ich recht gut weiß, keinen Spaß verstehen, mich nicht auszuzischen Anlaß hätten; könnten bei alledem aber nicht die Schlachten ebensogut nach der größern Anzahl von zerlappten Köpfen,[232] blutigen Nasen und blaugeklopften Augen entschieden werden, als nach den größern Haufen von verstümmelten und ermordeten Leichen und menschlichen Körpern? Könnte man sich nicht auf eben die Art um Städte balgen? Freilich kann man dieser Vorschlag für ein nachteiliges Projekt für solche Kriegsmächte halten, die durch das Uebergewicht ihrer Genies (vielleicht deutlicher gesagt, ihrer Ingenieurs) einen Vorteil über andre Nationen haben, den sie sich nicht werden aus den Händen winden lassen wollen. Wenn ich aber auf der anderen Seite wieder die höchst uneigennützige Großmut und offene kunstlose Biedermütigkeit der Völkerschaften gegen einander in Betrachtung ziehe, so bin ich überzeugt, keine wird es ablehnen, sich mit ihrem Freunde auf einen völlig gleichen Fuß zu setzen oder, wie der alte Ausdruck lautet, Godes Ordeel nicht durch unfertige Waffen zu erschleichen.

Dergleichen Reformation steht nun aber wohl freilich mehr zu wünschen als zu hoffen; weshalben ich mich denn mit diesem kurzen Winke begnügen und zu meiner Geschichtserzählung zurückkehren will.

Western fing nunmehr an, sich nach der ursprünglichen Veranlassung des Haders zu erkundigen; worauf weder Blifil noch Jones eine Antwort erteilten; Schwöger aber sagte mit verbissenem Groll: »Ich glaube die Ursache braucht man nicht weit zu suchen; wenn Sie nur das Gebüsch recht durchstöbern wollen, so werden Sie sie finden.« – »Finden? sie?« erwiderte Western. »Um 'ne sie habt 'r euch also gerauft?« – »Fragen Sie nur den Herrn da im Kamisol,« sagte Schwöger, »der weiß es am besten!« – »Ja, nu denn!« schrie Western, »so ist gewiß ein Weibsen auf'r Fährt! – Ha, Tom, Tom! du bist doch ein lockrer Zeitz von Kerl du! – Aber kommt, kommt, Leut', vertragt 'ch und geht mit nach mein Haus und macht gemein Fried beim Punschnapf!« – »Ich bitte um Entschuldigung, Herr von Western,« sagte Schwöger. »Für einen Mann von meinem Stande ist's keine solche Kleinigkeit, so schimpflich behandelt und gepufft zu werden von einem Junker, der seine Knabenschuh kaum vertreten hat; bloß weil ich meine Amtspflicht thun und es an mir nicht ermangeln lassen wollte, ein liederliches Weibsmensch zu entdecken und zur gerechten Strafe zu bringen. Aber wahrlich, wahrlich, die größte Schuld fällt auf Herrn Alwerth und auf Sie selber; denn wenn Sie recht nach den Gesetzen thäten wie Sie billig sollten, so würden Sie das Land bald von solchem Ungeziefer reinigen.«

»Von Füchsen würd' ich's Land ebenso leicht reinigen, und ebenso lieb,« schrie Western. »Sollte meinen wir verlören doch täglich Leut' g'nug im Krieg; und sollt' uns lieb sein, und sollt'n was zu geb'n, wenn Leute vor Rekruten sorgen. – Aberst wo ist[233] sie? – Bitt' dich, Tom zeig' mir's!« Hierauf fing er an umher zu spüren, gerade so, als ob er einen Hasen auf der Fährte gehabt hätte, und rief endlich aus: »Holloho! Märten ist nicht weit! Bei Pulver und Blei! da seht ihr's Lager. Glaube, ich kann rufen: fortgeschlichen!« Und das konnte er in der That; denn er hatte jetzt die Stelle entdeckt, von welcher sich die arme Dirne beim Anfange des Handgemenges auf ebensoviel Füßen weggeschlichen hatte, als ein Hase gewöhnlich zu seinen Reisen braucht.

Sophie bat jetzt ihren Vater, daß sie wieder nach Hause kehren möchten, weil, wie sie sagte, sie sich nicht recht wohl befände und eine neue Anwandlung besorgte. Der Junker willigte alsobald in die Bitte seiner Tochter (denn er war der liebreichste Vater). Er drang ernstlich darauf, daß die ganze Gesellschaft mit ihm gehen und zu Abend bei ihm essen möchte. Blifil und Schwöger aber lehnten es ab. Der erste sagte, er habe mehr Ursachen als er jetzt sagen könne, warum er sich die Ehre verbitten müßte! und der letztere behauptete (und vielleicht mit Recht): Es sei für eine Person von seinem Amte nicht schicklich, sich in seinen jetzigen Umständen an irgend einem Orte sehen zu lassen.

Jones war unvermögend, das Vergnügen bei seiner Sophie zu sein auszuschlagen. Sonach marschierte er hin mit Junker Western und seinen Damen, und der Pfarrer Schickelmann machte den Nachtrab. Dieser hatte sich wirklich erboten, bei seinem Amtsbruder Schwöger zurückzubleiben, um seine Achtung für den ehrwürdigen Rock zu bezeigen, der ihm nicht erlaubte, ihn allein im Stiche zu lassen; Schwöger aber wollte diese Gefälligkeit nicht annehmen, sondern stieß ihn, nicht eben mit äußerster Höflichkeit, hinter Herrn Western her.

Auf diese Weise schloß sich dieses blutige Scharmützel; und damit soll sich auch das fünfte Buch dieser Geschichte beschließen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 1, S. 229-234.
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