Zehntes Kapital.

[164] Enthält teils Thatsachen und teils Bemerkungen darüber.


Der Brief sonach, welcher am Ende des vorhergehenden Kapitels anlangte, war vom Herrn Alwerth, und der Inhalt desselben war, daß er unmittelbar mit seinem Neffen Blifil zur Stadt kommen[164] wolle, nebst dem Ersuchen, man möchte ihm seine gewöhnlichen Zimmer in Bereitschaft halten, und zwar den untersten Stock für ihn selbst und den zweiten für seinen Neffen.

Die frohe Munterkeit, die sich vorher über das ganze Sein und Wesen der armen Frau verbreitet hatte, ward bei dieser Gelegenheit ein wenig mit Wolken überzogen. Diese Nachricht setzte sie wirklich um ein großes aus ihrer Fassung. Eine so uneigennützige Verbindung mit ihrer Tochter gleich damit zu vergelten, daß sie ihrem neuen Schwiegersohn die Thüre wiese, dünkte sie auf der einen Seite unverantwortlich, auf der andern hingegen konnte sie kaum den Gedanken ausstehen, sich gegen Herrn Alwerth nach alle den Wohlthaten, die sie von ihm empfangen hatte, darüber zu entschuldigen, wenn sie ihm die Zimmer versagte, die im strengsten Verstande ihm zugehörten. Denn dieser rechtschaffne Herr hatte bei allen seinen zahllosen Wohlthaten, die er andern er wies, die Gewohnheit, nach einer Regel zu verfahren, die demjenigen, wie es andre großmütige Leute zu machen pflegen, schnurgrade entgegenlief. Er sann bei allen Gelegenheiten darauf, seine Wohlthätigkeit nicht nur vor der Welt, sondern selbst vor denen, an welchen er sie übte, zu verbergen. Er bediente sich beständig der Worte leihen und bezahlen, statt des Wortes geben, und durch jede Methode, die er zu erfinden vermochte, verringerte er beständig die Gefälligkeiten, welche er bezeigte, mit seiner Zunge, indessen er solche mit seinen beiden Händen häufte. Dieser Gewohnheit zufolge hatte er zu Madame Miller, als er ihr die fünfzig Pfund zum Jahrgehalt aussetzte, gesagt: »Es geschähe deswegen, damit er immer den ersten Stock in ihrem Hause haben könnte, wenn er in der Stadt wäre, welches er kaum jemals willens war; sie könne solchen aber zu allen übrigen Zeiten vermieten, denn er wolle es ihr allemal einen Monat vorher anzeigen.« Er ward aber jetzt in so unvermuteter Eile zur Stadt getrieben, daß er keine Zeit hatte, diese Ankündigung zu thun. Und diese treibende Eile hatte ihn wahrscheinlicherweise verhindert, als er um seine Zimmer schrieb, hinzuzusetzen: wenn sie eben leer stünden; denn ganz gewiß hätte er sie sehr gerne gegen eine weit unzulänglichere Entschuldigung fahren lassen, als Madame Miller jetzt hätte anführen können.

Aber es gibt eine Art Menschen, welche, wie Prior gar vortrefflich sagt, ihr Betragen nach etwas richten:


Beyond the fix'd and settled Rules

Of Vice and Virtue in the Schools,

Beyond the Letter of the Law.


Was jenseits aller Regeln über Laster

Und Tugend, die die Schulen geben, was

Jenseits dem Buchstaben des Gesetzes liegt.


Diesen ist es so wenig genügend, wenn sie ein Gerichtshof auf ihre Rechtfertigung freisprechen würde, daß sie noch kaum einmal damit zufrieden sind, wenn das Gewissen, der strengste von allen Richtern, sie klaglos stellt. Nichts als die reinste Redlichkeit und Billigkeit kann dem zarten Gefühle ihres Gemüts ein Genügen[165] thun, und wenn irgend eine von ihren Handlungen nicht bis zu diesem Ziele reicht, so sind sie mißmutig und niedergeschlagen und ebenso unruhig und ängstlich als ein Mörder, der sich unaufhörlich vor Gespenstern oder Scharfrichtern fürchtet.

Zu diesen gehörte Madame Miller. Sie konnte ihre Unruhe über diesen Brief nicht verbergen. Sie hatte den Inhalt nicht so bald der Gesellschaft mitgeteilt und sich einige Worte über ihre Verlegenheit entfallen lassen, als Jones, ihr Schutzgeist, sie alsobald von ihren Sorgen befreite. »Was mich selbst betrifft, Madame,« sagte er, »so sind meine Zimmer zu Ihrem Dienste, wenn Sie es nur einen Augenblick vorher sagen, und Herr Nachtigall, da er nicht sogleich ein Haus einrichten kann, um seine Gattin zu empfangen, wird sich's, wie ich überzeugt bin, gerne gefallen lassen, nach seinen kürzlich gemieteten Zimmern zu ziehen, wohin ihm Madame Nachtigall ganz gewiß gerne folgen wird.« Mit diesem Vorschlage waren Mann und Frau den Augenblick zufrieden.

Der Leser wird leicht glauben, daß Madame Millers Wangen von neuem begannen von erhöhter Dankbarkeit gegen Herrn Jones zu glühen. Vielleicht aber ist es nicht so leicht, ihn zu überreden, daß der Umstand, daß Herr Jones in seiner letzten Rede ihre Tochter Madame Nachtigall genannt hatte (denn es war das erstemal, daß dieser liebliche Klang ihr Ohr erreichte), der liebevollen Mutter mehr Vergnügen verursachte und ihr Herz gegen Jones noch mehr erwärmte, als weil er ihre gegenwärtige Besorgnis gehoben hatte.

Der nächste Tag ward hierauf dazu angesetzt, daß das neuvermählte Paar und Herr Jones ausziehen sollten, für welchen letzten gleichfalls Zimmer in eben dem Hause mit seinem Freunde ausgemacht werden sollten. Und nunmehr war die Heiterkeit der Gesellschaft abermals wieder hergestellt, und sie brachten alle den Tag in großer Fröhlichkeit hin, ausgenommen Jones, der, ob er gleich die Uebrigen in ihren frohen Scherzen begleitete, doch manchen bittern Herzensstoß beim Andenken an seine Sophie empfand. Diese wurden nicht wenig schmerzhafter durch die Nachricht, daß Blifil zur Stadt kommen würde (denn die Absicht dieser Reise sah er nur zu deutlich ein), und was seinen Kummer noch um ein Merkliches erschwerte, war, daß Jungfer Honoria, welche ihm versprochen hatte, sich nach Sophie zu erkundigen und ihm des folgenden Abends bei Zeiten ihre Nachricht zu überbringen, ihn vergebens harren ließ.

In der Lage, worin er und seine Geliebte sich um diese Zeit befanden, hatte er kaum einigen Grund zu hoffen, daß er irgend eine gute Nachricht erfahren würde; dennoch war seine Ungeduld, Jungfer Honoria zu sehen, eben so groß, als ob er erwartete, sie würde ihm einen Brief von Sophie, worin ihn solche zu einer Unterredung bestellte, überbringen, und war ebenso unruhig über sein Außenbleiben. Ob dies eine Wirkung von derjenigen Schwachheit des menschlichen Gemüts war, nach welcher solches das Schlimmste zu wünschen begierig ist, und Ungewißheit für den unerträglichsten aller Schmerzen hält, oder ob er sich noch mit einiger geheimen Hoffnung schmeichelte, das wollen wir nicht entscheiden. Wer aber[166] jemals geliebt hat, muß wissen, daß es das letzte sein konnte. Denn unter aller der Gewalt, welche diese Leidenschaft über unser Gemüt ausübt, ist diejenige die bewundernswürdigste, vermöge welcher sie mitten in der Verzweiflung noch immer einen Strahl von Hoffnung bei uns unterhält. Schwierigkeiten, Unwahrscheinlichkeiten, ja selbst Unmöglichkeiten werden von dieser Hoffnung fast gänzlich übersehen, so daß man fast von jedem Mann, der in hohem Grade verliebt ist, sagen kann, wie Addison vom Cäsar:


The Alps and Pyrenaeans sînk before him!


Die Alpen sinken vor ihm hin und Pyrenäen.


Bei alledem ist es gleich wahr, daß eben dieselbe Leidenschaft zuweilen Gebirge aus Maulwurfshaufen zu machen, und selbst aus der Hoffnung Verzweiflung zu erpressen weiß. Allein diese kalten Schauer halten bei guten gesunden Menschen nicht lange an. In welcher Beschaffenheit sich Jones jetzt befand, überlassen wir dem Leser zu erraten, weil wir keine genaue Nachricht davon haben. Das aber ist gewiß, daß er zwei Stunden in Erwartung zugebracht hatte, als es ihm unmöglich ward, seine Unruhe noch länger zu verbergen, und er sich deswegen nach seinem Zimmer begab, woselbst ihn seine Beängstigung fast von Sinnen gebracht hatte, als ihm der folgende Brief von Jungfer Honoria überreicht wurde, den wir hier dem Leser verbatim & litteratim vorlegen wollen.


»Hog gehörter Häre


ig hätt ienen Kewiß lenkst Schont Mein ufwarthunk emagt, alsig Versbroggen hatte, wänn Mihr ir Knadn nig wär in wech Kom'n; dän kwiß, ödler Hähr, si wissen wolle, das's Heißt, en geder Leern sein lekzian, so wirth eß woll in Hauße stahn, unt vur Waar solig'n anter anher pitten, Megt nig Widergommen sin, unt Soh hät ig meneröhr kroß unregth Kehat, Wen igß nät aankenomn alts ir Knaten so knätich wahrn mihr aanßupihtten taß sy Mig zer Butsjunver Maggen Wolt unt Ig Hoddse nig Mal trumm kepäten Syst Waar Sy st Einhe Fonter peesten tamen Fon ter wellt, unt währs knuterhähr sacht taß sünd rägete Karnallgen, unT wän ig sel Bist emhal soo waß kesacht sol Te Habh. so Wahrs auß unschuhliger EinvallT, untunt Mihr Hertsligleyt. Eyer Knadhen Weisig Woll sünt tzuörlich unt su eyn Hannetter Häre, unt zagen Nix wihder Wänig soowaßolthe kesacht Haabn, unttaß ne Gunnver konnt in Schaten pringen, ty ir lipen lepsdage lank tan krösessten Rehsbäckt vor eyer Knaaten Kehappt Hatt. Wolle Waare Mann soltte jimmer seyn Tsungins mauhl Halltn, terweyl Mann nig Weis Waßig gepürren kan, unt meyner Oehr Wenß Mir gemannt nogestern Gesaacht hätte, daßig Schons häute in Eynen so Kuten platse sein sollte i das hattigniggeklaupt. Unt Migg at nigt 1 maal 1 Wort Tafon Ketreimt untiggabe augenigt Eyne andre auß jrer ställe verdrihben. Wih aaper meinhe Knätige Tame Mihr sy fon selpsten gaap oone taß ig se drumme baht So kansmir nihm Hant Ibel nämen Gunnver Vaarwihn Nichte Maal. Tas ig tas ävnäme Waß mihr in N Wäg vällt. untig Wünsche Eyer Knaten Wollen Ja NihMannt Waß tafon saagen fon täme Waß igge Sagt hahb. Täningg Winsch[167] eir Knadn All S glik Fonder Wällt. untig zeweihvele augenigt daß sy Die Vröhlen Fon Western noch am Aende krihgen wärden aberst. Nun kann Igg nix Meer dar Bey tuun, Weillig Vrölen nigt Meer betiehne unt in andren dihnsten stee un Thu muhs waß mein neie Hehrschhafft hab N will, untnigtuhn kann Waßigg will.

igg pitt noch Fielsmaalen ja reyn munt Tsu halten über das Waß unter uns forgevallen ist unt ferpleibe i Reh biß in dan tot ketreye dihnst Willige Dihne Rinn

Gunnver Honoria Elster.«


Herr Jones hatte seine eignen Mutmaßungen über diesen Schritt der Frau von Bellaston, welche im Grunde wenig weiters dabei zur Absicht hatte, als sich in ihrem eignen Hause einer Person zu versichern, welche ein Geheimnis besaß, das sie nicht gerne weiter bekannt werden lassen wollte, als es schon war. Am meisten aber war ihr daran gelegen, daß es Sophien nicht zu Ohren kommen möchte, denn obgleich dies Fräulein beinahe die einzige war, die es nicht weiter gebracht haben würde, so konnte es doch die gnädige Frau gar schwerlich glauben. Denn weil sie jetzt Sophie mit unversöhnlichem Hasse haßte, so meinte sie, Sophie müßte gleichfalls in ihrer zarten Brust einen gegenseitigen Haß gegen sie hegen, worin doch eine solche Leidenschaft noch niemals Eingang gefunden hatte.

Unterdessen Jones sich mit den Schreckbildern von tausenderlei fürchterlichen Anstalten und tief versteckten politischen Entwürfen ängstigte, die nach seiner Meinung bei Jungfer Honorias Erhöhung zum Grunde liegen möchten, versuchte Madame Fortuna, die bisher eine abgesagte Feindin von seiner Verbindung mit Sophie gewesen zu sein scheint, eine neue Methode, solche mit einem Male über den Haufen zu werfen, indem sie ihm eine Versuchung in den Weg warf, von der es schien, daß er solcher in seiner gegenwärtigen verzweifelten Lage würde schwerlich widerstehen können.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 164-168.
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