Fünfzehntes Kapitel.

[54] Ende und Ausgang des vorigen Abenteuers.


Außer dem Verdachte des Schlafens hegte der Leutnant noch einen andern und schlimmern Argwohn auf die arme Schildwache und zwar den Verdacht der Verräterei: denn weil er keine Silbe von der Gespenstererscheinung glaubte, so bildete er sich ein, das Ganze sei weiter nichts als eine Erfindung, um ihn hinters Licht zu führen, und daß beim rechten Lichte besehen der Kerl sich habe von Northerton bestechen lassen. Dies kam ihm um so wahrscheinlicher vor, je unnatürlicher die Furcht, worin er zu sein schien, bei einem Soldaten war, der das Zeugnis eines so braven und unverzagten Mannes hatte, als nur irgend einer unter dem Regimente, der in mehr als einem Treffen gewesen war, mehr als eine Wunde aufzuweisen, kurz, der sich beständig als ein wackerer Kriegsmann betragen hatte.

Damit also der Leser nicht die geringste üble Meinung von einem solchen Manne fassen möge, wollen wir's keinen Augenblick länger verschieben, seinen ehrlichen Namen von dieser Beschuldigung zu retten.

Also Herr Northerton hatte, wie wir vorhin bemerkt haben, gnug und satt an dem Ruhme, den er durch seinen Kampf davongetragen hatte. Er mochte vielleicht gesehen, gelesen oder erraten haben, daß der Neid geneigt ist, an großen Namen zu nagen. Nicht daß ich hier zu verstehen gegen wollte, als habe er nach heidnischen Vorurteilen an die Göttin Nemesis geglaubt oder ihr gar geopfert, denn genauer überlegt, bin ich überzeugt, er kannte solche nicht einmal dem Namen nach. Er war überdem von sehr thätigem Geiste und hatte eine große Antipathie gegen die engen Winterquartiere in dem Turme zu Glocester, wohin ihm leicht ein Kriminalrichter sein Billet geben möchte. Auch war er nebenher nicht ganz frei von gewissen lästigen Betrachtungen über ein gewisses hölzernes Gebäude, welches ich, um mich nach der Meinung der Menschenkinder zu bequemen, nicht namentlich nennen mag, welche aber nach meinen Gedanken dieses Gebäude vielmehr in Ehren halten, als sich seiner schämen sollten, weil es der bürgerlichen Gesellschaft nützlicher ist, oder wenigstens nützlicher gemacht werden könnte, als fast alle übrigen, die auf öffentliche Kosten errichtet werden. Mit einem Worte, um nicht noch mehr Ursachen für seine Aufführung aufzusuchen,[54] Herr Northerton trug ein herzliches Verlangen noch an dem Abend abzureisen, und ihm blieb nichts zu thun übrig, als das Quomodo auszusinnen, welches eben keine so leichte Sache zu sein schien.

Nun war dieser junge Herr zwar wohl ein wenig bucklich von Gemüte, aber vollkommen grade von Körper, welcher außerordentlich stark und wohlgebaut war. Auch sein Gesicht ward vom größesten Teile der Weiber für schön geachtet, denn es war breit und blühend, und dabei hatte er ziemlich gute Zähne. Solche Reize ermangelten nicht, auf unsre Wirtin einen Eindruck zu machen, welche an dieser Art von Schönheit kein geringes Wohlgefallen fand. Sie hatte wirklich ein wahres Mitleiden mit dem jungen Manne; und da sie von dem Wundarzte vernahm, daß die Sachen mit dem Volontär leicht mißlich ausfallen könnten, so fürchtete sie, es möchten für den Fähnrich noch schlimmere Aspekten darauf erfolgen. Nachdem sie also die erbetene Erlaubnis erhalten hatte, ihn zu besuchen und ihn in sehr melancholischer Stimmung fand, welche sie noch um gar Merkliches dadurch herunterzog, daß sie ihm sagte, es wäre kaum noch einige schwache Hoffnung für den Volontär, so bediente sie sich der Gelegenheit, gewisse Winke hinzuwerfen, welche der andre willig und gierig auffing, wodurch sie dann bald beide dahin gelangten, sich einander richtig zu verstehen. Und es ward endlich abgeredet, der Fähnrich sollte auf ein gewisses Zeichen in der Feueresse hinaufklettern, welche in einer kleinen Höhe an die Küche stieß, wo er sich wieder herunterlassen könne, wozu sie ihm Gelegenheit machen und um die Zeit die Küsten freihalten wollte.

Damit aber unsre Leserinnen von kälterem Temperament nicht diese Gelegenheit ergreifen und zu hastig alles Mitleiden als eine Thorheit und der menschlichen Gesellschaft schädlich verdammen mögen, so halten wir es für nötig, eines andern besondern Umstands zu erwähnen, der bei dieser Handlung wohl nicht ohne allen Einfluß sein mochte. Es traf sich, daß eben damals der Fähnrich eine Kasse von fünfzig Pfund Sterling besaß, welche zwar freilich nicht ihm, sondern der ganzen Kompanie zugehörte, denn der Kapitän, der mit dem Leutnant über'n Fuß gespannt war, hatte die Löhnung seiner Kompanie dem Fähnrich anvertraut. Dieses Geld fand er indessen für gut, in die Hände der Wirtin niederzulegen; kann sein als eine Art von Sicherheit oder Bürgschaft, daß er sich hernach stellen wolle, um auf die gerichtlichen Klagen Red' und Antwort zu geben; die Bedingungen mögen aber gewesen sein welche sie wollen, so ist so viel gewiß, daß sie das Geld und er seine Freiheit hatte. Der Leser mag vielleicht von dem mitleidigen Gemüte dieser guten Frau erwarten, daß, als sie die arme Schildwache wegen[55] eines Vergehens in Arrest bringen sah, an welchem sie ihn unschuldig wußte, sie sogleich hätte auftreten und ein Zeugnis zu seinem Besten ablegen sollen; aber ob es daher kam, daß sie bei der vorigen Verhandlung ihren ganzen Vorrat an Mitleiden erschöpft, oder daß die Gestalt dieses Kerls, ob sie schon viel ähnliches mit dem Fähnrich hatte, solches nicht erwecken konnte, das lasse ich unausgemacht; aber weit entfernt dem jetzigen Gefangenen das Wort zu reden, suchte sie noch, sein Vergehen bei dem Offizier zu vergrößern, indem sie mit gen Himmel gehobenen Augen und Händen beteuerte, sie möchte um alles in der Welt nichts damit zu thun gehabt haben, einen Mörder entwischen zu lassen.

Alles war nun wieder ruhig geworden, und die meisten von der Gesellschaft gingen wieder nach ihren Betten; die Wirtin aber, welche, entweder wegen der immer regen Thätigkeit ihres Geistes, oder wegen der Besorgnis um ihr Silber und Zinn, keinen Hang zum Schlafen fühlte, erhielt von den Offizieren, da ihre Zeit zum Aufbruche nicht viel über eine Stunde mehr entfernt wäre, diese Zeit bei einer Schale Punsch mit ihr zuzubringen.

Jones hatte diese ganze Zeit über wachend gelegen und ein großes Teil von dem Gewimmel und Getümmel im Hause mit angehört, und nun wandelte ihn eine kleine Neugier an, die besondern Umstände davon zu erfahren. Er machte sich also über die Klingel her, und schellte wenigstens wohl zwanzigmal, ohne daß jemand kam; denn die Wirtin war mit ihrer Gesellschaft so lustig und laut, daß man keine andre Klapper als ihre eigene zu hören vermochte, und der Kellner und das Stubenmädchen, welche beieinander in der Küche saßen (denn er konnte ebensowenig allein aufsitzen, als sie allein im Bett liegen), jemehr sie die Schelle klingeln hörten, je banger ward ihnen und sie waren sozusagen auf ihren Schemeln angenagelt.

Endlich drang, während einer kleinen Pause des Zungenkonzerts, der Klang bis zu den Ohren der Frau Wirtin, welche gleich ihren Ruf erschallen ließ, dem beide Bedienten auf der Stelle gehorchten. »Johann,« sagte die Frau, »hört Ihr nicht, daß der Herr oben klingelt? Warum geht Ihr nicht hinauf?« – »'S ist meines Thuns net,« sagte der Kellner, »für die Zimmer zu sorgen! das kommt der Liesel, dem Stubenmädel zu!« – »Ja, wenn hä mer so sprecht!« antwortete die Magd, »meins Thuns ists au'net, Herrn ufzewarte, ich ha'es wohl zewiele hethan, adder der schwarze Mann soll mer dorch te Fänster führe, wänn 'ch's wedder kethue; weel hä toch tavon schnattert.« Da die Glocke noch immer heftig erscholl, ward die Wirtin zornig und schwur, wenn der Kellner nicht den Augenblick hinaufginge, so wollte sie ihn noch diesen Morgen ablohnen. »Wänn Sie's thuän, Matam,« sagte er, »so muß ech mer's kefalle lasse,[56] ech thue nun eemal net, was mer net zukümmt.« Sie wendete sich also an die Magd und suchte es von der mit Güte zu erhalten; aber alles vergebens. Die Liesel war ebenso unbiegsam als der I'han. Beide bestanden darauf, es wäre nicht ihr Geschäft und sie wollten's nicht thun!

Der Leutnant fing darauf an zu lachen und sagte: »Kommt, ich will dem Zank ein Ende machen!« Dann wandte er sich an die Bedienten, lobte sie beide wegen ihrer Entschlossenheit nicht nachzugeben, aber, setzte er hinzu, er wäre versichert, wenn nur einer einwilligte zu gehen, so würde es der andre gleich auch thun. Diesen Vorschlag genehmigten beide im Augenblick und gingen demzufolge in Liebe und Eintracht dicht aneinandergeschlossen hinauf. Als sie fortgegangen waren, besänftigte der Leutnant den Zorn der Wirtin dadurch, daß er ihr begreiflich machte, warum sie so ungern allein hätte gehen wollen.

Sie kamen bald wieder und berichteten ihrer Frau, daß der kranke Herr so wenig tot sei, daß er vielmehr so munter spräche, als ob er ganz gesund wäre, und daß er sich dem Herrn Leutnant empfehlen ließe und sich freuen würde, wenn er ihn noch mit einem Besuche beehren wolle, ehe er abmarschierte.

Der gute Leutnant erfüllte alsobald sein Begehren, und nachdem er sich an sein Bett gesetzt hatte, erzählte er ihm den Auftritt, der unten vorgefallen war, und beschloß mit seinem Vorsatz, die Schildwache exemplarisch bestrafen zu lassen.

Auf diese Erklärung eröffnete ihm Jones die reine Wahrheit und bat ihn angelegentlichst, den armen Kerl nicht zu bestrafen, »der, wie ich überzeugt bin,« sagte er, »ebenso unschuldig an der Flucht des Fähnrichs, als unfähig ist, eine Lüge zu schmieden oder Ihnen etwas aufheften zu wollen.«

Der Leutnant bedachte sich ein paar Augenblicke und antwortete alsdann: »Nun wohl! einen Teil der Schuld haben Sie von dem Kerl abgewälzt und der andre wird unmöglich zu erweisen stehen, weil er den Posten nicht immer und allein gehabt hat. Aber ich habe große Lust, den Schäker für seine Zaghaftigkeit strafen zu lassen. Jedoch, wer kann es wissen, wie weit das Grauen einen Menschen bei einer solchen eingebildeten Erscheinung treiben mag. Die Wahrheit zu sagen, hat er sich gegen den Feind immer sehr wacker betragen. Wohlan! es ist doch immer gut bei solchen Kerlen ein Zeichen von Religion zu sehen; so also verspreche ich's Ihnen, er soll frei sein, sobald wir ausmarschieren.«

»Aber horch, da schlägt schon der Generalmarsch! Lassen Sie sich noch einmal umarmen, mein lieber Kamerad. Sei'n Sie ruhig und pflegen Ihrer Gesundheit und vergessen nicht, daß die christliche[57] Lehre zur Geduld vermahnt: so geb' ich Ihnen mein Wort, Sie sollen bald im stande sein, Ihre Scharte auszuwetzen und eine ehrenvolle Rache an dem Kerl zu nehmen, den Sie beschimpft hat.« Hiermit ging der Leutnant fort, und Jones versuchte sich zum Schlafen zurechtzulegen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 2, S. 54-58.
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