Neuntes Kapitel.

[125] Enthält wunderliche Dinge.


Bei der Ankunft in seinen Zimmern fand Jones die Lage der Sachen ganz verschieden von der, in welcher sie bei seinem Weggehen gewesen war. Die Mutter, die beiden Töchter und der junge Nachtigall hatten sich miteinander zum Abendessen niedergesetzt, als der Oheim auf sein eignes Begehren ohne alle Umstände zur Gesellschaft geführt wurde, die er alle persönlich kannte, weil er seinen Neffen, während er hier im Hause wohnte, verschiedene Male besucht hatte.

Der alte Herr ging gerade auf Mademoiselle Nette zu, küßte sie, und wünschte ihr Glück; ebenso machte er's hernach mit der Mutter und mit der jüngsten Schwester, und zuletzt stattete er auch bei seinem Neffen die gewöhnlichen Komplimente ab, und war dabei ebenso munter und höflich, als ob sein Neffe eine Person geheiratet hätte, die ebenso reich wie er selbst, oder noch reicher gewesen, und als ob alles in der gewöhnlichen und hergebrachten Ordnung geschehen wäre.

Mamsell Nette und ihr vorgegebener Ehemann wurden blaß und sahen bei dieser Gelegenheit fast ein wenig einfältig aus, allein Madame Miller nahm den ersten besten Anlaß wahr, hinauszugehen, und nach dem sie Herrn Jones hatte zu sich in den Saal bitten lassen, warf sie sich ihm zu Füßen und nannte ihn, unter einer heißen Flut von Thränen, ihren Engel, den Retter ihrer kleinen Familie, nebst noch vielen andern Ehre und Liebe ausdrückenden Benennungen und bezeigte ihm jede Erkenntlichkeit, welche die höchste Wohlthat aus dem dankbarsten Herzen erpressen kann.

Nachdem sich die heftigste Wallung ihrer Dankbarkeit ein wenig gelegt hatte, die ihr, wie sie sagte, das Herz zersprengt haben würde, wenn sie solcher nicht ein wenig Luft geschafft hätte, fing sie an, Herrn Jones zu benachrichtigen, daß zwischen Herrn Nachtigall und ihrer Tochter alles gehörig verabredet worden, und daß sie des nächsten Morgens würden getraut werden. Als hierüber Jones seine große Freude bezeigt hatte, geriet die arme Frau abermals in eine Anwandlung von Freude und Danksagung, die er endlich mit vieler Schwierigkeit zum Schweigen brachte, und Madame Miller beredete, daß sie mit ihm wieder zur Gesellschaft kehren mußte, die[125] sie noch in eben der fröhlichen Stimmung fanden, in welcher sie solche verlassen hatten.

Diese kleine Gesellschaft brachte nun zwei oder drei sehr angenehme Stunden miteinander hin, während welcher der Onkel, der eine große Liebe zu seiner Flasche trug, seinen Neffen so wacker zugedeckt hatte, daß dieser zwar nicht betrunken war, aber sich doch ziemlich weinselig fühlte. Und jetzt nahm Herr Nachtigall den alten Herrn mit sich hinauf auf die Zimmer, die er vor kurzem bewohnt hatte, und öffnete ihm sein ganzes Herz wie folgt:

»Da Sie beständig gegen mich der beste und gütigste Onkel gewesen sind und mir diese unvergleichbare Güte noch dadurch gezeigt haben, daß Sie mir diese Verbindung verzeihen, welche man freilich für etwas unüberlegt halten kann, so könnte ich mir es niemals verzeihen, wenn ich suchen sollte Sie zu hintergehn.« Hierauf bekannte er die Wahrheit und legte ihm die ganze Sache offen vor die Augen.

»Wie, Jaköbchen?« sagte der alte Herr, »bist also wirklich mit dem Mädchen noch nicht getraut?« – »Nein, auf meine Ehre! noch nicht,« antwortete Nachtigall. »Ich habe Ihnen die reine Wahrheit gesagt.« – »Mein liebster Junge,« schrie der Onkel und umhalste und küßte ihn, »es ist mir herzlich lieb, daß ich das höre. In meinem Leben hat mich nichts so sehr gefreut. Wärst du getraut gewesen, ich hätte dir nach allem Vermögen beigestanden, um die Sache so gut ins feine zu bringen, als sich's hätte wollen thun lassen; aber 's ist ein großer Unterschied, wie man eine Sache nimmt, die schon unwiderruflich geschehen ist, und eine solche, die erst geschehen soll. Laß deine Vernunft sprechen, wie sich's gehört, so wirst du diese Heirat so dumm und thöricht finden, daß ich keine Gründe anzuführen brauche, um dir davon abzuraten.« – »Wie, lieber Onkel,« versetzte der junge Nachtigall, »bleibt auch dieser Unterschied noch, wenn man eine Handlung bereits gethan hat, oder nach der Ehre verbunden ist sie zu thun?« – »Pah!« sagte der Onkel, »die Ehre ist ein Machwerk der Welt und die Welt hat darüber die Macht eines Schöpfers, und kann sie regieren und dirgieren wie sie will. Nun weißt du wohl, wie wenig man sich draus macht, dergleichen Kontrakte zu brechen. Ein oder ein paar Tage spricht man davon, wenn's dabei recht arg gemacht ist, man wundert sich drüber, und damit ist's vorbei. Meinst du, daß sich deswegen hernach ein Mann das geringste Bedenken machen wird, dir seine Tochter oder Schwester zu geben? Oder daß es Schwestern oder Töchter gäbe, die deswegen anstehen würden, dich zu nehmen? Die Ehre hat mit solchen Zusagen nichts zu thun.« – »Verzeihen Sie mir, teuerster Onkel,« rief Nachtigall, »ich kann nun einmal so nicht denken, und nicht nur meine Ehre, sondern auch mein Gewissen und meine Menschlichkeit stehen auf dem Spiele. Ich weiß es nur zu gewiß, wenn ich das liebe Mädchen jetzt hinterginge, so würde ihr Tod davon die Folge sein und ich müßte mich als ihren Mörder betrachten, ja, als einen Mörder der sie auf die grausamste Art tötete, durch Gram und Herzeleid.« – »Gram und Herzeleid! seht doch! Nein guter Jakob,« rief[126] der Onkel, »die Weiber sterben so leicht nicht vor Gram und Herzeleid! sie haben ein zähes Leben, Junge, ein zähes Leben!« – »Aber liebster Onkel, es geht auch meine Neigung mit an, und ich kann mit einem andern Frauenzimmer niemals glücklich sein. Wie oft hab' ich's sagen hören, daß man die Kinder beständig für sich selbst wählen lassen sollte, und daß Sie meiner Kousine Henriette die freie Wahl lassen wollten.« – »Nun ja,« versetzte der alte Herr, »so wollt' ich auch, aber dann müssen auch die Kinder mit Klugheit und Verstand wählen. Fürwahr, Jakob, du sollst und mußt mir von diesem Mädchen ablassen.« – »Fürwahr,« lieber Onkel, schrie der andre, »ich muß und will sie heiraten!« – »Du willst? junges Herrchen,« sagte der Onkel. »Solche Worte hätt' ich von dir nicht erwartet. Es hätte mich nicht Wunder nehmen sollen, wenn du solch eine Sprache gegen deinen Vater geführt hättest, der dir immer begegnet ist wie einem Hunde und dich immer so weit vom Leibe gehalten hat, wie die Tyrannen ihre sklavischen Untertanen; aber ich? ich, der ich dich immer behandelt habe, wie meinesgleichen, ich hätte doch wohl was bessers um dich verdient. Aber, ich weiß wohl woran es liegt, 's liegt alles an deiner verkehrten Erziehung, wobei man mir nicht genug gefolgt ist. Sieh nur, da ist meine Tochter, die ich als meine Freundin auferzogen habe! Nichts thut sie ohne meinen Rat, und weigert sich niemals, ihn anzuhören, wenn ich ihr welchen geben will.« – »Sie haben ihr in einer Sache wie diese, noch niemals einen Rat gegeben,« sagte Nachtigall, »denn ich müßte mich in Ansehung meiner Kousine sehr irren, wenn sie so gar bereitwillig wäre, selbst Ihrem strengsten Befehl zu gehorchen, wo es drauf ankäme, ihrer Neigung zu entsagen.« – »Versündige dich nicht an dem Mädchen,« antwortete der alte Herr mit einiger Gemütsbewegung. »Versündige dich nicht an Henrietten! Ich habe sie so erzogen, daß sie keine Neigungen hat, die mir nicht anständen: dadurch, daß ich ihr immer erlaubt habe, zu thun was sie will, habe ich sie so gewöhnt, daß sie immer ihre Freude dran findet, zu thun, was ich will.« – »Verzeihn Sie mir, Herr Onkel,« saget Nachtigall, »ich habe nicht den Vorsatz von meiner Kousine im kleinsten etwas nachteiliges zu sagen, denn ich habe für sie die größte Hochachtung, und in der That bin ich überzeugt, Sie werden ihr nie eine so harte Prüfung oder so harte Befehle auflegen, als Sie mir auflegen wollen. Aber, lieber Onkel, lassen Sie uns wieder zur Gesellschaft gehen, denn man wird über unsre lange Abwesenheit unruhig werden. Eine Gewogenheit muß ich mir vom lieben Onkel ausbitten, und diese ist, daß er so wenig dem armen Mädchen als der Mutter etwas sagen wolle, das sie kränken könnte.« – »O, brauchst nichts zu fürchten,« antwortete der Onkel, »der Mann bin ich nicht, der den Frauenzimmern etwas beleidigendes sagt. Die Gewogenheit will ich dir also recht gern erzeigen, dafür erwarte ich aber auch wieder eine andere von dir.« – »Ich wüßte wenige Befehle«, sagte Nachtigall, »die Sie mir geben könnten, welchen ich nicht freudig gehorchen wollte.« – »Nun, sieh nur, Jakob! ich verlange weiter nichts,« sagte der Oheim, »als daß du mit mir nach[127] meinem Hause auf mein Zimmer kommst, damit ich über die Sache ein wenig ausführlicher mit dir reden kann; denn wenn's möglich wäre, hätte ich doch gern die Zufriedenheit, meine Familie in Glück und Ehren zu erhalten, ungeachtet des thörichten Eigensinns meines Bruders, der in seinem Dünkel der weiseste Mann von der Welt ist.«

Nachtigall, welcher wohl wußte, daß sein Oheim ebenso starrköpfig war, als sein Vater, ließ sich's gefallen ihn nach Hause zu begleiten, und hierauf gingen sie beide wieder zur Gesellschaft, wo der alte Herr versprochen hatte, sich mit eben der Wohlanständigkeit zu betragen, wie zuvor.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 125-128.
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